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KAUKASUS
Reisen und Forschungen im kaukasischen Hochgebirge
VON
M. VON DECHY
In drei Bänden
BAND I
EIjBRUSS ( ivIiI-iGiil j.j^u /
KAUKASUS
Reisen und Forschungen im kaukasisclien Hochgebirge
MORIZ VON DECHY
IN DREI BÄNDEN
BAND I
MIT EINUNDZWANZIG KUPFER - HELIOGRAVÜREN, ZEHN PANORAMEN UND
HUNDERTSECHSUNDSIEBZIG ABBILDUNGEN IM TEXT NACH PHOTOGRAPHI-
SCHEN AUFNAHMEN DES VERFASSERS
BERLIN 1905
DIETRICH REIMER (ERNST VOHSEN)
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
511
Druck von Otto Eisner, Berlin S.42.
Voyage; tu trouveras une compensation ä ce
que tu quittes.
Deplace-toi, vois du pays, car l'agreable en
cette vie est dans le deplacement.
Pour rhomme doue d'intelligence et de talent,
il n'y a point dans la vie sedentaire de
gloire ä esperer.
Ainsi, quitte les pays oii tu resides, et va ä
Tiitranger.
Le repos de l'eau la corrompt;
tandis que l'eau qui coule devient exquise et
s'altere si eile ne coule pas.
Le grain d'or est comme de la poussiere tant
qu'il n'est pas sorti de sa gangue ou de son
filon;
Et le bois d'aloes, si procieux, n'est dans son
pays d'origine, que du bois ;i brüler.
\'ers persans.
Vorwort.
Vorwörter enthalten oft etwas wie eine Selbstbiographie des Ver-
fassers, sie erzählen, wie das Buch entstand, manches Wort wird in der
Form einer Beichte gesagt; ein Vorwort, das ja in der Regel erst, wenn
das Buch fertig ist, geschrieben wird, ist ein supremer Appell an den Leser.
Vielleicht werden deswegen Vorwörter meist nicht gelesen. Mich haben sie
immer interessiert, schon weil ich darin die teilweise Befriedigung einer
berechtigten Neugierde zu finden hoffte, etwas über den Verfasser zu er-
fahren, mit dessen Geistesprodukt man ja im Begriffe steht, sich zu beschäf-
tigen. Jedenfalls will ich die Gelegenheit benutzen, einiges über das Ent-
stehen des Buches und noch mehreres zu sagen, was in den folgenden
Blättern keinen Platz mehr fand oder hier an besserer Stelle ist.
Die Liebe zu den Alpen, deren Hochgipfel ich erstiegen habe zu
einer Zeit, als Gletscherfahrten nur von wenigen ausgeführt wurden, und
das Eindringen in die Hochregionen noch einer kleinen Entdeckungsreise
glich, hat mich nach dem fernen Himalaya, in den frostigen Kaukasus
und in andere Hochgebirge der Erde geführt. Es galt, bei der geo-
graphischen Erforschung aussereuropäischer Hochgebirge die Bekanntschaft
mit den gleichartigen oder ähnlichen Erscheinungen der Alpen, das Vertraut-
sein mit den Gefahren und den Schwierigkeiten, welche das Hochgebirge
einem Eindringen entgegenstellt, grösseren Zwecken dienstbar zu machen.
Dieses Buch handelt von meinen Reisen im Kaukasischen Hoch-
gebirge. Die ersten wandten sich dem zentralen Teile desselben zu, dessen
eisige Hochregionen damals unerforscht, nahezu unbetreten waren. Die
letzten Reisen führten in die im (Jsten und Westen gelegenen Gebiete.
Durch die Bereisung des Kaukasischen Hochgebirges in seiner ganzen Aus-
dehnung sollte die Kenntnis seiner physischen Verhältnisse, seiner Ober-
flächengestaltung gefördert und seine Darstellung in Wort und Bild ermög-
licht werden.
\'( iRWÜRT.
Die HcschrcilninL;- meiner Reisen soll sich auf Selbstgeschautes, Selbst-
erlcbtes stützen. Sie (Mithält die Hinweise auf die wissenschaftlichen Er-
gebnisse, so wie sie sich darboten, sie zeigt, wie die Kenntnis der bereisten
Hochgebirgslandschaften gewonnen, wie sie erweitert wurde. Es wäre
leichter gewesen, die Resultate der Reisen in trockene Paragraphen zu fassen,
eine Länderbeschreibung, nach topographischen Abschnitten geordnet, zu
bringen, das Buch hätte vielleicht in den Augen einiger sogar ein wissen-
schaftlicheres Gepräge gehabt. Es ist jedoch meine feste Ueberzeugung,
dass der \'erbreitung erdkundlicher Kenntnisse von den Hochregionen des
Kaukasus damit weniger gedient gewesen wäre. Es ist unglaublich, wie
viel unrichtige Vorstellungen von der Hochgebirgswelt des Kaukasus, wo
in weite Regionen noch kein Sterblicher gedrungen, noch immer fortbestehen.
Der Zweck eines Buches ist, dass es gelesen werde, und diesen Zweck
glaubte ich nur in der Eorm zu erreichen, die ich meinen Schilderungen ge-
geben habe.
Die Aehnlichkeit der beobachteten Erscheinungen, wie sie das Ge-
birge bietet, die Wiederholung von Berg und Tal und Gletscher war dabei
eine Klippe, deren Gefährlichkeit ich nicht verkannte. Aber selbst, wo die
Natur anscheinend gleichartig ist, weiss sie durch eine überraschende Mannig-
faltigkeit in den Details Wechsel zu schaffen, und mit dem Erfassen der-
selben kann auch die Schilderung vielleicht der Gefahr ermüdender W^ieder-
holung entgehen. Das Einstreuen persönlicher Erlebni.sse wird die Erzäh-
lung ebenso beleben, wie die Reise selbst, und die aufrichtige Darstellung
der Wagnisse und Gefahren bei Erreichung eines schwierigen Zieles
sind Pflicht des Reisenden, der Interesse für sein Tun, für sein Werk
erwecken will.
Um die Ergebnisse meiner Reisen wertvoller zu gestalten, hatte ich
mehrere Fachmänner zur Teilnahme an denselben eingeladen, welche sich
mit Disziplinen beschäftigten, die mit der erdkundlichen Erforschung in
engen Beziehungen stehen. Es waren dies die Botaniker f Hugo Lojka,
Ladislaus Hollos, die Geologen Franz Schafarzik, Karl Papp und Desiderius
Laczkö. Im dritten Bande dieses Werkes werden auch diese wissenschaft-
lichen Ergebnisse veröffentlicht werden. Die umfangreichen naturwissen-
schaftlichen Sammlungen, die ich heimbrachte, habe ich vaterländischen
Institutionen zum Geschenk gemacht. Dadurch und indem ich ungarischen
Gelehrten die Möglichkeit bot, an meinen Reisen und an der wissenschaft-
lichen Erforschung ferner Regionen Teil zu nehmen, glaubte ich eine
patriotische Pflicht meinem \^aterlande gegenüber zu erlüllen.
VcMnVORT.
Während der Zeit, welche zwischen meine ersten und meine letzten
Reisen fällt, hat die Erforschung der kaukasischen Hochgebirgswelt nicht
stillgestanden. Aber damit der chronologische Verlauf meiner Reisen in
der Beschreibung nicht gestört werde, damit sie den von mir beab-
sichtigten Charakter des Selbsterforschten, Selbsterlebten nicht verliere, habe
ich meine Schilderungen so belassen, wie ich das kaukasische Hochgebirge
in den Jahren meiner Reisen sah. Nur die Fortschritte in der Kartographie,
in der Nomenklatur, die in der Zwischenzeit eingetreten sind, habe ich
berücksichtigt.
Das Buch enthält keine Beschreibung Kaukasiens, daher auch keine
solche von Städten wie Tiflis oder Baku; auch die Wege zum und vom
Hochgebirge, sowie Bekanntes wurde nur in kurzen Strichen, oft nur, soweit
es zum Verständnis des übrigen nötig ist, gezeichnet. Ethnographische,
anthropologische und archäologische Forschungen lagen ausserhalb des Be-
reiches meiner Arbeiten. Aber die Völkerschaften, durch deren Wohnsitze
in den Hochgebirgstälern mich mein Weg führte, musste ich kurz erwähnen,
weil die Naturszenen die Folie für das Menschenleben sind, das sich in
ihnen abwickelt, weil sich der Zusammenhang zwischen Naturerscheinungen
und Menschenleben nirgends schärfer, ursächlicher offenbart als im Kaukasus.
Ich war und bin mir der an Unmöglichkeit streifenden Schwierigkeit
bewusst, eine erschöpfende Darstellung des kaukasischen Hochgebirges zu
geben, und der Lücken, die der Versuch, eine so grosse Aufgabe zu lösen,
mit sich bringen muss. Ich war bestrebt, in einem Buche, das sich an
einen grösseren Kreis wendet, meine Leser nicht durch Zitate aus andern
Ouellenwerken oder durch viel topographische Details zu ermüden;
ich habe topographische Dissertationen vermieden, weil ja zum Schlüsse
die Karte das Endresultat aller dieser Erwägungen in klarster, übersichtlicher
Form bietet. Die Abschnitte über (Urographie und Gletscher im dritten
Bande mögen ihr als Ergänzung dienen. Verhältnisse, die ausserhalb
meines Wollens und Könnens lagen, haben einmal für längere Zeit die
Fortsetzung meiner Arbeiten unterbrochen, und kurz bemessene Reisezeit
oder ungünstige Wetterperioden haben oft die Ergebnisse geschmälert. —
Ich musste mich begnügen, das auf sieben Expeditionen im kaukasischen
Hochgebirge, oft unter grossen Entbehrungen, Mühen und Gefahren Ge-
sehene und Erforschte in Wort und Bild nach meinem besten Können in
den folgenden ISlättern zu bieten, und erfülle eine Ehrenpflicht gegen-
über meinen Reisegefährten, die mich auf vier Expeditionen begleiteten,
indem ich auch die Resultate ihrer Forschungen der Oeffentlichkeit übergebe.
— IX —
VORNV( )KT.
So, wie ich wührend ineiner Reisen der photographischen Aufnahme
tler (.lurchwanderten Landschatten das yrösste Gewicht beilegte, habe ich
auch bei der Veröffentlichung ihrer Schilderung der bildlichen Darstellung
die vollste Aufmerksamkeit geschenkt, und so, wie ich in der Photographie
das beste Hilfsmittel zur treuen Wiedergabe der Physiognomie und des
Reliefs der Naturformen erblicke, wurde auch bei der Reproduktion meiner
Aufnahmen nur die photographische Methode angewandt. Ich war bestrebt
in dem ausgedehnten Ciebiete des kaukasischen Hochgebirges den typischen
Charakter seiner Oberflächengestaltung vom Standpunkte des Physio-
geographen zu erfassen und bildlich darzustellen. Gaben die Aufnahmen während
meiner früheren Reisen die ersten systematisch aufgenommenen Bilder der
Gletscherwelt des zentralen Kaukasus, so trachtete ich, durch ihre Ergänzung
aus den Hauptgebieten der östlichen und westlichen Teile zum ersten
Male eine bildliche Darstellung dieses mächtigen Gebirgss)stenis in seiner
ganzen Ausdehnung zu bieten.
Auch die beigegebene Karte, die auf Grund des gesamten vor-
handenen Materials ein kartographisches Bild des Kaukasus geben soll, ist
die erste, das ganze kaukasische Hochgebirge einschliessende Karte in
grösserm Massstabe , welche in nicht russischer Sprache erschienen ist.
Ich glaube damit einem wirklichen Bedürfnisse entsprochen zu haben,
in einer Zeit, in welcher die Erschliessung des kaukasischen Hoch-
gebirges stetig fortschreitet und damit auch das Interesse für dasselbe
steigern dürfte.
In der Schreibweise kaukasischer Namen habe ich diese mit den
Hilfsmitteln der deutschen Sprache wiedergegeben, ohne zu konventionellen
Zeichen Zuflucht zu nehmen, deren vorhergehendes Studium vom Leser
kaum gefordert werden kann. Manche, vielleicht unrichtige, .Schreibweise
hat sich soweit eingebürgert, dass ich sie, selbst auf die Gefahr der
Inkonsequenz hin, belassen habe. Dies gilt auch von der Bildung der
deutschen ethnographischen Bezeichnungen und der Namen für die
kaukasischen Volksstämme. In vielen Phallen habe ich mich von meinen
an Ort und Stelle gemachten Aufzeichnungen, die der Aussisrache der
Eingeborenen folgten, leiten lassen.
jetzt, da alles Erschaute und Erlebte, Arbeiten und Genüsse zum
Teil längst vergangener Tage wieder an mir vorüberziehen und sich zu
einer strahlenden Erinnerung an die kaukasischen Berge vereinigen, mit
denen mich unauslöschliche Liebe verbindet, danke ich allen, die mich in
meinen Bestrebuneen mit Rat und Tat unterstützt haben.
Vorwort.
lihrrurchtsvollen Dank sage ich Sr. K. Hoheit dem Grossfürsten
Alexander Michailowitsch, dem Präsidenten der Kais. russ. geographischen,
Gesellschaft für das gnädige Interesse und die Anerkennung, die Hochder-
selbe meinen Reisen und Arbeiten zuteil werden Hess.
Unterstützung und Förderung meiner Reisezwecke üuid ich bei den
Kais. russ. Ministerien in .St. Petersburg und bei den Kais. russ. Behörden
in Kaukasien, und es ist mir eine Ehrenpflicht, dessen hier dankend zu ge-
denken. Tiefsten Dank schulde ich auch dem Herrn Generalleutnant
Kulberg, dem Chef des militär-topographischen Bureaus in Tiflis, für die
gütige Ueberlassung der noch unveröffentlichen Messtisch-Aufnahmen, eine
schöne Förderung wissenschaftlicher Bestrebungen; ferner dem k. u. k.
Ministerium des Aeussern und den Herren Botschaftern Sr. k. u. k. apost.
Majestät in Petersburg, I. I. E. E. Grafen von Wolkenstein-Trostl)urg,
Prinzen Franz Liechtenstein und Baron P'eli.x Aehrenthal-Lexa für die
wirksame funführung bei den Kaiserlich russischen Behörden. Prinz Liech-
tenstein hat auch später noch, mit seinem warmen Interesse für alles
Schöne und Gute, für jede Betätigung männlicher Tatkraft, den lebhaftesten
Anteil an meinen Reisen genommen.
Besten Dank sage ich meinen verehrten Freunden, D. W. PVeshfield,
Dr. Gottfried Merzbacher und Vittorio Sella, die mit mir zusammen immer
bestrebt waren, die Erforschung des kaukasischen Hochgebirges zu fördern
und mich auch bei der Veröffentlichung dieses Buches mit ihrem reichen
Wissen unterstützt haben.")
Worte des Dankes gebühren meinen Reisegefährten und meinen
Mitarbeitern, denen ja überdies die Würdigung für das von ihnen Geleistete
seitens der hierzu ISerufenen nicht fehlen wird. Dankend will ich auch
der Mühe und .Sorgfalt gedenken, mit welcher der Verleger, Herr Konsul
Vohsen, bestrebt war, meinen WHinschen und Anregungen, insbesondere
betreffs Ausstattung des Werkes, nachzukommen.
W^enn ich jetzt dieses Buch dem deutschen Leser übergebe, will ich mit
den Worten eines grossen deutschen Naturforschers, Alexander von Humboldt,
schliessen. Wie Humboldt in der Einleitung zu seinem Monumentalwerke, dem
Kosmos, ausruft: »Stolz auf das Vaterland, dessen intellektuelle Einheit die feste
Stütze jeder Kraftäusserung ist«, möchte auch ich das alte »patriae Caritas,
oniniae Caritas superat« voranschicken, aber indem ich mich zur Schilderung
■■■■) Herrn Vittorio Sella verdanke ich die Vorlagen zu mehreren Textillustrationen, Herrn
Dr. W. Freshtield die Benutzung seiner Tagebuchnotizen bei der Schilderung der gemeinsam aus-
geführten Reise, und Herrn Gottfr. Merzbacher zwei nach Zeichnungen gefertigte Klischees.
— XI —
Vorwort.
meiner Reisen der deutschen Sprache bediente, auch Humboldts Worte, die er
den obigen anfügte, wiederholen: »Hochbeglückt dürfen wir den nennen,
der bei der lebendigen Darstellung der Phänomene des Weltalls aus den
Tiefen einer Sprache schöpfen kann, welche seit Jahrhunderten so mächtig
auf alles eingewirkt hat, was durch Erhöhung und ungebundene Anwendung
geistiger Kräfte, in dem Gebiete schöpferischer Phantasie, wie in dem der
ergründeten Vernunft, die Schicksale der Menschheit bewegt.«
Budapest, 4. November 1905.
M. V. Dechy.
Inhalts-Verzeiehnis des ersten Bandes.
Vorwort \II-XII
Verzeichnis der Abbildungen des ersten Bandes XXIII— XXVII
Verzeichnis der Abkürzungen XXVII
Einleitung i— 6
Der Kaukasus in Sage und Geschichte. Unwegsamkeit des kauka-
sischen Hochgebirges. Gemisch von Völkern und Sprachen. Einfluss der
geographischen Faktoren auf die historischen Begebenheiten. Die russische
Herrschaft. Beginn der wissenschaftlichen Erforschung. Abich und Radde.
Die Hochregionen setzen der Forschungstätigkeit eine Grenze. Freshfield
und Genossen die ersten, die in die eisige Hochregion eindringen. Fort-
bestehen der irrigen Vorstellungen über die physische Geographie der
Hochregion. Das kaukasische Hochgebirge ein dankbares Feld für geogra-
phische Forschung. Die Bezeichnung Kaukasus sollte nur auf das Gebirge
bezogen werden. Ciskaukasien und Transkaukasien. Die topographischen
\'erhältnisse des Kaukasus und sein orographischer Aufbau. Einteilung
in Westlicher, Zentraler und Oestlicher Kaukasus.
I. Kapitel. Nach dem Kaukasus. Erste Reise 7^1?
Von Budapest nach Odessa und über das Schwarze Meer nach der
Krim. Die Südküste mit Sewastopol und JaUa. Feodossia, das Kafla
der Genuesen. Kertsch mit dem Berge von Mithridates. Das Meer von
Asow. Rostow am Don. Bahnfahrt bis Wladikawkas. Die Kette des
Kaukasus erscheint am Horizont mit Elbruss, dem höchsten Gipfel. Die
Terekebene im Norden des zentralen Kaukasus. Das Talbecken von
Wladikawkas. Vorbereitungen für die Bergreise in Wladikawkas. Berg-
führer aus den Alpen im Kaukasus. Alexander Burgener und Peter Ruppen
aus dem Wallis (Schweiz). Die offene Order der russischen Regierung.
Der Dolmetscher, Herr Staatsrat Gymnasiallehrer Dolbischew. Die Reise-
ausrüstung. Die wissenschafdichen Instrumente. Der zentrale Kaukasus
mein Reisegebiet.
II. Kapitel. Von Wladikawkas in die Gruppe des Adai-Choch . 18—31
Ueber die Tereksteppe querfeldein nach Alagir. Troika und Telega.
Der Ardon. Heilige Haine bei den Ossen. Das Nachtquartier in Alagir.
Schwierigkeiten, Telegen für die Weiterfahrt zu erhalten. Die Geduldfrage
im Kaukasus. Vorgebirgslandschaft. Die Schluchten des Ardontales.
Geologisches. Wachttürme und alte Befestigungen. Der Aul Nusal.
Der Fahrweg hört auf; das Gepäck wird auf Tragtiere geladen. Die
Tahveitung bei St. Nicolai. Ein ideales Standquartier im zentralen
— XIII —
Ixiialts-Vekzhichnis des ersten Bandes.
Seite
Kaukasus. Durch das Zejatal. Im gletscherreichen Talhintergrund erscheint
der 4647 m hohe Gipfel des Adai-Choch. Aul Zei. Die Dorfbewohner.
Mittagsrast im Buchenwald. Duftender Blülenflor der Alpenmatten.
Rhododendron caucasicum, die Alpenrose des Kaukasus Die Kapelle
Rekom, ein ossetisches Heiligtum. Die Talstufe von Rekom ein entleertes
Seebecken. Nadelwald. Geröllboden. Der Zei-Gletscher. Das erste Zelt-
lager. Schaschlik. Photographische Arbeiten. Die Burka, der Wetter-
mantel der Einy^eborenen.
III. Kapitel. Die Ersteigung des Adai-Choch 32—45
Schönes Wetter veranlasst, sofort den Versuch zur Ersteigung des
Adai-Choch zu wagen. Ein hohes Freilager in der Schneeregion wird
geplant. Nur die notwendigste Ausrüstung wird mitgenommen. Reiche
Vegetation am Gletscherrande. Die eingeborenen Träger kehren vom
Fusse des Gletschersturzes zurück. In den Seracs. Schwierige Ueber-
windung des Eisfalles. In 3300 m Höhe wird auf abschüssigen Felsen
das Biwak bezogen. Ausblick auf die nördlichen Vorketten. Armseliger
Proviant. Kaltes, hartes Lager. Später Aufbruch. Durch ein Couloir
zum Gipfelgrat. Ueber diesen zur ersten Höhe auf dem obersten Kamm.
Ermüdung. Schwierige Kletterei über die aus dem Firngrate aufragenden
Felstürme. Traversieren an den Nordwestabhängen des Gipfels. Die
höchste Spitze des Adai-Choch erreicht. Aussicht. Gipfclgestein. Unfall
beim .\bstieg durch die Schneerinne. Im Biwak alles durch Schmelz-
wasser durchnässt. Unwetter. Schlechte Nacht. Veränderte Route im
Abstieg, um dem Eisfall auszuweichen. Irrfahrten in der Schneewüste.
Roter Schnee. Burgener und sein Revolver. Zusammentreffen mit den
Eingeborenen, welche Proviant heraufbringen. Der Brief Dolbischews.
Wieder im Zeltlager. Rückweg nach St. Nicolai.
IV. Kapitel. Aus dem Ardontal zum Uruch 46—59
Das Seitental des Ssadon. Bergwerk Ssadon. Das Volk der Ossen.
Nach Kamunta. Oede Steinschluchten. Die Jurakalkkette. Der Kamunta-
sattel. Bauart des Dorfes Kamunta. Fremdartige Landschaft. Die
Nekropole von Kamunta. Schwierigkeit, die Eingeborenen zu bewegen, der
von mir geplanten Wegrichtung zu folgen. Es ist undurchführbar, im
Kaukasus von bewohnten Orten früh aufzubrechen. Heisser Anstieg.
Gletscher und Gipfel im Skattikomtale. Schwieriges Uebersetzen kau-
kasischer Bäche. Die reitende Photographie. Der Gular-Pass. Nachtlager
beim Dorfe Gular. Aul Dsinago. Blick auf den Karagom-Gletscher.
Styr-Digor, der Hauptort des Uruch-Tales. Die Digoiier. Unser Gastwirt
Karagubajew. Ein kaukasisches Diner. Belästigende Neugierde der
kaukasischen Bergbewohner. Das Hochgebirge im Hintergrunde von
Styr-Digor. Der Gletscher-Zirkus des Taimasivcek. Das Quellgebiet des
Uruch ist ein Längental. Der LJruch tost durch eine tiefe Erosionskluft.
Nachtlager auf einer Wiese im oberen LIruchtal.
V. Kapitel. Aus dem Uruchtal nach Baikar 60—77
W.mdcrung durch U.is baumlose Hochtal drs Uruch. Diu Tcirassen-
.-itufcn im Charwcss-T.de. Schwieriger Anstieg für die La>tpfcrde. Sturz
eines Pferdes. Das Gepäck wird eine Strecke weit getragen. .\uf der
Höhe des Bergrückens. .Anblick der im Norden liegenden Ssugankette
und der Laboda. In der Ferne Adai-Choch. Nachtlager auf dem Hoch-
— XIV —
Inhalts -Verzeichnis ijes ersten Bandes.
Seite
platcau. Wäsciie am liach. Frugales Abrndfsscn. Unzufriedenheit
uicincr lit-j^lcitci". Am Sclitüli\cclc-FaÄS. Aussicht auf die Granitriesen
des zentralen Kaukasus. Unsicherheit der Nomenklatur. .Abstieg ins
oberste Tscherektal. Eisenhaltige Quellen. Selitulu- und Fytnargin-
Gletscher. Lager am Wachtposten Karaul in Baikar. Verstiegen in
der Dychssu-Schlucht. Der Dychssu-Gletscher und seine Umrandung.
Erpressungsversuch der Pferdetreiber aus Kamimta. Pferdediebstähle im
Kaukasus. Schöne Alpcnszenerien. später durch einförmige Landschaft
nach .A-ul Kunnym in Balkarien. Die Bauart der Dörfer bei den Berg-
tataren. FZinun. Gemischte Gesellschaft in unserm Schlafsalon. Die
Bergbewohner der Täler des Tscherek, Tschegem und Bakssan. Die
Schluchten des Tscherek.
\'I. Kapitel. Von Baikar in das Hochgebirge von Besingi . . . 7S-91
Uebergang \on Balk.u- in d.is T.il von Besingi lUru-an". Bcgriissung
im Au\ Tubenel. Der Fürst von Besingi und seine Gasthütte. Fürst
Hamsat Urussbiew, mein Begleiter in den Tälern der mohammedanischen
Bergtataren. Heimkehr des Herrn Dolbischew. Zum Besingi-Gletscher.
Der grösste Gletscher des Kaukasus. Die Entdeckung des grossen
Midschirgi-Gletschers. Eindringen in seine Firnregion. Seine Umrandung.
Moränen im Kaukasus. Schwierigkeiten, mit Worten ein treffendes Bild
dieser Erscheinungen zu geben. Mein schönster Erfolg liegt in den
photographischen Aufnahmen, die ersten aus dieser Gletscherwelt. Wider-
legung der bis damals geltenden irrigen Angaben über die physische
Natur und das Gletscherphänomen im kaukasischen Hochgebirge. Koschtan-
T.m imd Dych-Tau. Unmöglichkeit, diese Gipfel zu identifizieren. Lager-
leben im Besingi-Tal. Festgelage. Schlechtes Wetter. Rückkehr nach
Besingi und Weiterreise Elbrusswärts. .Abschied \om Fürsten von Besingi.
VII. Kapitel. Von Besingi nach Tschegem und zu den Quellen
des Bakssan 92—105
Passübergang von Besingi nach Tschegem. Fremdartige Landschaft in
Tschegem. Die Schlucht des Dschilki-Ssu. Beim Fürsten von Tschegem.
Tracht der Bergtatarinnen. Das Mittelgebirge zwischen den Tälern des
Tschegem und Bakssan. Lager im Gestendi-Tal. Das Bakssantal. Aul
Urussbieh. Im Hintergrunde das Massiv des Dongusorun. Emjjfang beim
Fürsten Ismael LTrussbiew. Der Begrifl" des Wertes der Zeit fehlt den
Kaukasiern. Der Kaukasus ist arm an Wasserfällen. Der F.ill des
Ssultrau-Ssu bei Urussbieh. Unser Quartier in Urussbieh. Die Bergtataren
\on Urussbieh. Nach dem obersten Bakssantal. Grosse Kavalkade, die
mit uns zum Fuss der (;ietscher zielit. Schöne L.indschaftsbilder im
oberen Bakssan-Tal. Die Seitentäler des Bakssan. .Auf der obersten
Talstufc. Uebcr der N.idel-Waldung, welche das Gehänge und den Tal-
boden bedeckt, erscheinen der .Asau-tiietschcr und seine Umrandung.
Lager beim Kosch-.Asau.
VIII. Kapitel. Elbruss, der Minghi-Tau der Kaukasier .... 106- 116
.•\m Fusse des Klbruss. Föhnuetter. Die Tersskol-Schluelit. .Anblick
des Elbruss. Topographisches und Geologisches. Minghi-T.ui, der Name
des Bergvolkes die richtige Bezeichnung. Der Elbruss war den alten
Völkern heilig. Die Familie Noah die ersten Besteiger. \'ersuclie zur
— .XV —
Imialts-Vkrzkiciims des ersten Haxues.
Seile
Ersteigung des Gipfels. Die nissisclie Expedition von 1829. Der Veisucli
Raddes. Freslifield und seine Gefälirten erstiegen I 868 den zweithöclisten
südöstliclien Gipfel, Grove und seine Gefährten 1874 den nordwestlichen
höchsten Gipfel. Langandauemdes schlechtes Wetter. Die guten und
bösen (Geister des Elbruss. Unangenehme zoologische Entdeckung. Mangel
an Proviant. Jagd. Der Steinbock, die Boarzieg-e und die Gemse des
Kaukasus. \'orbereitungen zum .■Aufbruch.
IX. Kapitel. Ersteigung des Elbruss (Minghi-Tau) 117—129
Durch die Tersskolschlucln. Anblick eines Teilstückes der Haupt-
kette. Biwak am Rande des Firnplatcaus des Elbruss in 3600 m Höhe.
Das Wetter \'erschlimmert sich. Stirrm, Hagel und Regen. Am Morgen
bessert sich das Wetter. Entschluss, die Ersteigung zu unternehmen.
.Später .Aufbruch. Der Turjäger Molley Tirbolas. Längsspalten am Firn-
feld. Aussicht vom Firnplateau auf die Hauptkette. Das Wetter wird
wieder schlechter. Ermüdender Anstieg' im tiefen Schnee. Der Sattel
zwischen beiden Gipfeln ist kein alter Krater. Felsdurchbrochenes Firn-
gehänge. Die oberste Kraterwand. Um 6 Uhr des 23. .August wird der
höchste Gipfel des Elbruss erreicht. Persönliches Empfinden. Polar-
landschaft. Späte Stunde. Kälte. Gipfelgestein. Fluchtartiger Abstieg.
Vereister Firnhang. Gefährliche Situation. Stundenlanges Stufenhauen im
Eis in finsterer Nacht. Ork.m und Kälte, Sturm. Das kleine Pelzjäckchen
Mohammeds. Um 2 Uhr morgens im Biwak. Freudige Begrüssung
durch die Eingeborenen. Ueber die Ersteigung des Elbruss. Einwirkung
der verdünnten Luft. Bergkrankheit. Frostschäden. Einzug in Urussbieh.
Allah il Allah lllaha .
X. Kapitel. Aus dem Hakssantale iiber den Betscho-Pass nach
Swanetien 130—146
I'hm. die H.uiptkette auf einem Ciletscherpass n.ich Swanetien zu
übersclireiten. Wer Tage in L'russbieh festgehalten. .Mangel an den
notwendigsten Lebensmitteln. .Al:)schied \on den Urussbiehfürsten. Swanen
als Träger. Nachtlag^er im Jussengi-Tal. Burgener krank. Der Erfolg
meiner .Apotheke. Der Jussengi-Gletscher. Der Betscho-Pass. Herrliche
.Aussicht. .Anblick der Elbrussgipfel. Eine neue Bergwelt im Süden.
Abstieg in das Tal des Dolratschala. Kaukasische Grössenverhältnisse.
Schwieriges Liebersetzen der Bäche \-om Uschba- Gletscher. Nachtlager
im Walde des Dolratales. Blick durch das mondbeleuchtete Tal. Empfang-
in Maseri beim Fürsten Dadischkilian. In Betscho. Uschba. .Aufbau des
kaukasischen Matterhorns. .Schlechtes Wetter. Burgener dringt auf Heim-
reise. Durcli das Tal der Mulchara nach Muschal. Swanetische Tal-
landschaft. .Abends beim Priester von Muschal. L'eber den Ugür-Pass
zum Hauptquellfluss des Ingur. Rückblick auf das Mulchara-Tal.
.\nblick der Tetnuld-Gruppc. Nachtlager in 2450 m Höhe. Schneefall.
XI. Kapitel. Swanetien, und itber den Latpari-Pass ins Riontal 147 -160
Die orographi-clien \'erhältnisse Swanetiens. Die Längenhoch-
täler des Ingur, Zchenis-Zchali und Rion. Das Kesseltal des Ingur. Nur
ein einziger, während eines Teiles des Jahres für Saumtiere gangbarer
Weg in das Tal: der Latpari-Pass. Das \'olk der Swanen. Freies
Swanetien und Dadischkilianisches Swanetien. Das Dadischkilianische
— .XVI —
Inhalts-Vkrzkichms des ersten Baxues.
Seile
Swancticn im obersten T.ile des /^ehenis-Zeliiili. Aufstieg zum Latpari-
Pa?s. Panorama der kaukasischen Hauptkette. Der Latjjari-Pass, die
Touristen-Route der Zukunft. Reiche Entwicklung der suljalpinen Wiesen-
flora. Die Dorfgenossenschaft Tscholur. Im Tale des Zchenis-Zchali.
Nachtlager auf Alpenmatten am Rande des Waldes. Ueppige Vegetation
der südlichen Kaukasustälcr. Die Ikirg der Dadianfürsten am Zchenis-
Zchali. Engschlucht von Muri. Zageri. \\'i(>der in europäischer
Zivilisation. Weiterreise. Die Schluchten des Ladschanuri. Um
Mitternacht ist Alpana, die Fahrstrasse erreicht. Den Rion entlang nach
Kutais. Die subtropische Flora des imteren Riontales. Nach dem wald-
reichen Suramgebirge folgt jenseits die steinige sonnenverbrannte Kur-
landschaft. Tiflis. Ueber die grusinisclie Heerstrasse im Regen nach
Wladikawkas. Heimkehr.
XII. Kapitel. Das obere Ardontal, der Mamisson-Pass und das
östliche Ouellgebiet des Rion. Zweite Reise i6i — 173
Der Botaniker Prof. Lojka mein Reisegefährte. Reiseausrijstung.
Aufenthalt in der Krim. Beobachtungen und Messungen am Zei-Gletsche ".
Botanische Sammlungen. Die Kassara-Schlucht. Der Ardon durchbricht
die Fortsetzung des granitischen Hauptkammes, welcher aufhört, Wasser-
scheide zu sein. Durch das Ardon-Hochtal. Alte Gletscherspuren. Das
Quellgebiet des Ardon. Der Mamisson-Pass. Bis zu den Kubanquelle:'
keine Einsattlung im Hauptkamm, die unter 3000 m sinkt und schneefrei
ist. Ueppige Vegetation und Wald im ösdichen Quellgebiet des Rion.
Riesenstaudenflora. Ranunculus Lojkae S. et L. n. sp. Lager bei Gurschewi.
Aussicht vom Rhododendronhügel, Vorgipfel des Kozi-Choch. Lojka er-
krankt. Rückweg über den Mamisson-Pass. Panorama der kaukasischen
Hauptkette von den Höhen oberhalb des Mamisson-Passes. Tschantschachi-
Choch der Eiger der Gruppe. Gedanken über die fortschreitende Kenntnis
und die Erschliessung des Kaukasus. Der Kaukasus playground Europas.
XIII. Kapitel. Durch die Kabarda und das Bakssan-Tal zu den
Gletschern am Südfusse des Elbruss 174—183
Die Ortschaft Naltschik am Nordfusse des zentralen Kaukasus.
Die Kabarda und ihre Bewohner. Durch die Steppe der Kabarda nach
Ataschukin. Sturz der Telega. Gastfreundlicher Empfang beim Fürsten
von Ataschukin. Einförmig'e Landschaft im unteren Bakssan-Tal. Die
geologischen Formationen im Bakssan-Tale. Zu den Bakss.m-QucUen.
Beobachtungen und Sammlungen am Tersskol- und .\sau-(jletscher. Neue
Arten \on Phanerogamen und Cryptogamen. Werbung von Swanen als
Träger für den geplanten Uebergang nach dem .Süden der Hauptkette.
Rustem Chan, der Knjas aus Swanetien begleitet uns.
XIV. KaiMtc!. Ueber Gletscherpässe nach Swanetien (Dschiper-
Pass und Bassa-Pass) 184—198
Reise ins Unbekannte. Topographische Rätsel. Die P'irnregion des
Asau-Gletschers terra incognita. Szenerien am Asaugletscher. Nachtlager
in Kosch-Ismael. Anblick der Elbrussgipfel. Photographische Aufnahmen.
Botanisches, Saxifraga scleropoda S. et L. n. sp. Aufschlagen des Lagers.
Kalte Nacht. Anstieg über den Dschiper - Gletscher. Firnlinic. Am
Dschiper-Pass. Rundschau. Nivale Flora an den Felsen der Passumgebung.
— XVU —
iN'IIALTS-VERZlilCIlMS DES ERSTEN BANDES.
Seite
Die toiJo^raphisclien V'crhältnisso des Gebietes. Uer Ncnskra-Gletsclier.
Ueppige liohe Vegetation im Nenskra-Tale. lirucli des Quccksiljjer-
Baronieters. Stechfliegen und Mücken. Biuak an der linken Talwand.
Wichtigkeit hoher Biwaks bei Bergfahrten im Kaukasus. Schlechtes
Wetter. Ueber den Bassa-Pass. Abstieg ins Nakra-Tal. Keine Gletscher-
bildungen an der Ostseite des Ueberganges. Lager im Nakra-Tal. Das
Gebiet des Dongusorun-Passes im Norden. Zoologische Forschungs-
expeditionen des Knjas Rustem Chan. Riesenstaudenflora. Ueber einen
Scheiderücken zum Ingiu'. Blick auf das Tal und seine Höhen. In
-Swanctien.
X\'. Kapitel. Wanderungen in Swanetien 199— 212
Nachtlager in T.iur.ir. Zudringliche Neugierde der Dorfbewohner,
Pferde sind in Taurar und P.iri nur nach stundenlangem Warten unter
grossem Lärm und Streiten der Eingeborenen erhältlich. Durch das
Ingurtal über Pari nach Ezeri. Bei dem Fürsten Dadischkilian in Ezeri.
In Betscho. Eintreffen des Gouverneurs von Kutais. Festgelage in Betscho.
Der Tolombasch. Russische Kolonisationspolitik. Wechselnde Ansichten
des LJschbagipfels. Ins Mulchara-Tal. Die swanetische Tallandschaft.
Tetnuld erhebt sich im Osten. Kämjife mit den Pferdetreibern in Mestia.
Nachtquartier in der Kanzellaria von Mulach. Ausblicke vom Wege nach
Adisch. L'schb.i und Tschatuin-TcUi. DorfAdisch. Zinn Adisch-Gletscher.
Der Eisfall hat seinesgleichen niclit in den .Alpen. Gletscherbeobachtungen.
Alpine Flora. \'erbascum Dechyanum S. et L. nov. sp. .\ussicht vom
Bergrücken zwischen .Adisch und Chalde. Das Chalde-Tal und die Quell-
schlucht des Ingur. Der Chalde-Gletscher. Rückkehr nach Muschal.
Beim Geistlichen Margiani.
XVI. KapiteL Von Swanetien ijber den Twiber-Pas.s nach dem
Tschegem-Tale 213 — 225
Die L'eberschreitung der Haujitkette wird über den Twiber-Pass
geplant. Erster Versuch. Das Mulchara-Tal ist ein reiches erratisches
Terrain. Elendes Nachtlager am Fusse des Twibcr-Gletschers. \'om
Regen zurückgetrieben. Die Swanen weigern sich, den Twiber-Pass zu
überschreiten. Nach langwierigen Verhandlungen mit zehn .Swanen ziun
zweiten Male im Biwak. Der Twiber-Gletscher und seine Zuflüsse. .Aus-
gedehnte Firnregion. Im Firnbecken des Dsinal-Gletschers. Anstieg in
die .Schnccwüstc. Der Twiber-Pass. Aussicht vom Bodorku-Grate. Der
Gipfel des Tischtengen. Blütenpflanzen in der Schneeregion. \'eronica
glareosa S. et L. nov. sp. Abstieg über den Kulak-Gletscher. Lager an
den Quellen des Kara-.Ssu. Gegensätze der L.nidschaftsformen in der
Firnregion und in den Talgründen.
XVII. KapiteL Da.s Ouellgebiet des Tschege m-Tales, in die Firn-
region des Besi ngi-Gletschers und nach Transkaukasien . 226-241
Die imgrk.inntcn Gletscherlandscliaften im Quellgebiete des Tschegem-
Tales. Schaurtu- und Tjutjurgu-Gletscher mit der Saluinan-Kctte. Ein-
förmige Landschaft im mittleren Tschegem-Tale. In Tschegem bei Fürst
Beg-Mursa-Malkaruko. Spätes Nachtessen bei kaukasischen Gastfreunden.
Ueber den Tschegem-Besingi-Sattel. Calamintha caucasica S. et L. no\'. sji.
In die Firnregion des Besingi-Gletschers, das .Allerheiligste der kaukasischen
— Will —
Inhalts -Verzeichnis des ersten Bandes.
Seite
Hochgebirgswplt. Allrin in der Eiswelt des Besingi-GIetschers. Anblick
von Dych-Taii. Kni[)or in die Region ewigen Schnees. Der Eiswall von
der Gestola bis zur Schchara. Die Schlucht des Besingi-Tscherek. Durch
die Vorberge nach Naltschik. Wald. Voralpenlandschaft. Von Naltschik
nach Wladikawkas. Ueber die grusinische Heerstrasse. Das Dairel-Defile.
Die Tamara-Burg. Das Dariel-Defile war keine Strasse für Völker-
wanderungen. Am Kasbek vorbei zur Passhöhe der Krestowaja-Gora
\Kreuz-Pass\ In das Tal der Aragwa. Die Südseite der grusinischen
Heerstrasse. Der Kartwelische Volksstamm. In Tiflis. Dr. Raddo. Die
kaukasische Bergkette vom Schwarzen Meer.
XVIir. Kapitel. Zu den Gletschern des Zeja- und UrucliTales.
Dritte Reise 242—256
Der ("leologe Dr. Schafarzik. Am 16. Juni von Budapest über Odessa,
.Schwarzes Meer, See von Asow nach Wladikawkas. Am 30. Juni wieder
in St. Nicolai im Ardontal. Arbeiten am Zei-Gletscher. Resultate der
Messungen. Kranke Bergbewohner am Fusse der kaukasischen Gletscher.
Ueber Kamunta und das Ssonguta-Tal zum Uruch. Bei meinem alten
Bekannten Chogasch Karagubajew in Styr-Digor. Ausflug ziun Tana-
Gletscher. Zum Karagom-Gletscher. .Sonnenaufgang im Karagom-Tale.
Das Uebersetzen der Bergbäche. Wald- und Bergwiesen. Der Karagom-
Gletscher. Eisszenerien. Eisfall. Biwak im Walde. Lagerleben. Das
Uruch-Tal. ein tief eingeschnittenes Erosionstal. Die Teufelsbrücke. Reiche
Vegetation. Durch die Vorberge. Waldiges Hügelland. \'ersteinerungen
im Jurakalk und Ammonite im Bachbette des Ssurch-Ssu. Stephanoceras
Liechtensteinü nov. sp. Elendes Nachtlager in Mahomedansk. Durch die
Steppe zur Bahnstation Elchetowo. Die Gepäcksteleg^a bricht. Nach den
Badeorten am Nordfusse des Kaukasus.
XIX. Kapitel. Die Mineralquellen am Nordfusse des Kaukasus.
D urch die Teberda zum Kluchor-Pass und nach dem Karatschai 257—270
Pjätigorsk und die Gruppe des Brsch-T.iu. Geologisches und Bot.i-
nisches. Die Mineralquellen. Kislowodsk. Wieder ins Hochgebirge. Das
Tafelland zwischen Kuma, Podkumok und Malka. Nach dem Kubangebiete.
Chumara im Kubantale. In die Teberda. Wechsel der Gesteinsarten, im
Teberda-Tale. Teberdinsk. Weigerung der Teberdiner, den Nachar-Pass
zu überschreiten. Alpine Hochgebirgslandschaft. Die Teberda-Schlucht.
See Tumanly-Gel. Seltenheit von Seen im Kaukasus. Glaziales Trogtal.
Der Eissee. Sturm am Kluchor-Pass. Zurück zum Standquartier in der
Teberda. Ueber den Teberda-Dout-Pass. Anblick des Elbruss \on der
Passhöhe. Geologisches. Oede Steinwildnis im Dout-Tale. Schlechtes
Nachtquartier. Das eine der beiden Quecksilber-Barometer zerbrochen.
Ueber den Dout-Utschkulan-Pass. Elbruss von der Höhe sichtbar. Abstieg
nach Utschkulan. Karatschai und seine Be\\ohnei-.
XX. Kapitel. Nordwcärts um den Ellbruss 271—287
Die östlichen Quellbäche des Kuban, Ullukam, Utschkulan und Ullu-
cliursuk. Utschkulan, Hauptort des Gebietes. Das Volk der Karatschaier.
Aul Chursuk. Weigerung der Karatschaier, über die Gletscher des Elbruss-
massivs in das Bakssantal zu gehen. Ausflug ins oberste Ullukam-T.il.
Eine alte Endmoräne im Ullukam-Tale. Das Bergrund am Chotjutau-
— XIX —
Ixualts-Verzeichnls des ersten Bandes.
Seite
Gletscher. Ucr UUuosen-Gletschcr. Festgehalten in Chursuk. Zügel-
losigkeit der Karatschaier. Durch das UUuchursuk-Tal. Erste Passhöhe.
Elbruss vom Nordwesten. Das Firnplateau des Elbruss gleicht einem
norwegischen Fjeld. Kaltes Nachtlager in 2602 m Höhe. Der Buruntasch-
Pass. Die Gletscher an der Nordseite des Elbruss. Der UUatschiran.
Gesteine der Endmoräne, zumeist Trachyte. Hohe Schneegrenze. Die
Firn- imd Gletscherbedeckung des Elbrussmassivs bildet einen Uebergangs-
tvpus zwischen dem Inlandseis in den skandinavischen Gebieten und den
alpinen Vergletscherungsformen. Nachtlager am Bakssankosch. Revolte
der Pferdetreiber. Landschaft im Quellgebiete der Malka. Trachytwände
aus Erdpyramiden im Malka-Tal. Blick auf das canonartige Tafelland im
Norden. Weltabgeschlossenheit dieser Gegend. Der Kyrtyk-Pass. Aussicht
auf die Hauptkette. Wieder in Urussbieh.
XXI. Kapitel. Zu den Gletschern des Bakssantales 288—302
Bei Fürst Ismael in Urussbieh wieder gastfreimdlich aufgenommen.
Der europäische Reisende gilt im Osten als ,'\rzt. Meine ärztliche Praxis.
Ein desperater Fall. Ein Scheintoter wird ins Leben gerufen. Grosse
Nachfrage bei den Bakssantataren nach meinem Lebenselixier. Begehrter
noch als Arzneien von selten der Eingeborenen ist Tabak. Die öster-
reichische Virginia-Zigarre im Kaukasus. In das Adyl-Tal. Der Schcheldy-
gletscher. Im Firngebiet des Schcheldy-Gletschers. Grossartige Szenerie.
Schcheldy-Tau und Tschatyn-Tau. Arbeiten an den Bakssan-Gletschern.
Wiedersehen des Elbruss-Gipfels. Meine nach Naltschik dirigierten Kisten
mit photographischen Platten wurden von dort nicht nach Urussbieh weiter-
befördert. Dies zwingt, das Hochgebirge zu verlassen. Veränderte Ver-
hältnisse in Urussbieh. .'Vuch dort Zügellosigkeit der Bergbewohner.
Ein Streifzug durch den Nordfuss des Daghestan. Ausflug nach Borschom
und Abastuman. Oede des armenischen Hochlandes. Tropenartiger
Vegetationsreichtum am Niederstieg nach Kutais. Heimreise über Kon-
stantinopel, Athen und Koifu.
XXII. Kapitel. Aus dem Bakssan-Tal über den Adyr-Mestia-Pass
nach Swanetien. Vierte Reise 303—3^5
Zusammentreffen mit Douglas W. Frcshficld in Charkow. Die
S:L\oy,u-den-Führer Devouassoud. Zahlreiche umfangreiche Gepäckstücke
bilden die Ausrüstung. Die Terekebene. Alte Bekannte aus den Bergen
in Naltschik. Beim Kabardaerfürsten Ataschukin. Spätes Nachtessen.
Langer Tagesritt nach Urussbieh. Anwerbung von Trägern für den Adyr-
Pass. Lager im obersten Adyrssu-Tal. Anstieg über Moränen und Eis.
Dschigit. Panorama vom Rande des- Firnbeckens. Aussicht vom .\dyr-
Mestia-Pass. Abstieg über den Leksyr-Gletscher. Alpenflora an den Ufer-
hängen des Gletschers. Lagerplatz. Uschba und Tschatyn-Tau. Der
Tschalaat-Gletscher, der am tiefsten herabreichende Kaukasus-Gletscher.
Moränen und Gesteine, .abstieg in das Tal der Mulchara nach Mestia.
Festschmaus für unsere Urussbiehträger. Nach Betscho. Freshfields Re-
kognoszierung L'schbas.
XXIII. Kapitel. Wieder im freien Swanetien 316—326
Von Betscho über Eli nach Ipari. Nachtquai-tier in der Kanzellaria.
Mittagsrast im Dorfe Adisch. Cieldforderung der Adischer für Benutzung
— X.X — .
Inhalts -Verzeichnis des ersten Bandes.
Seite
des Rastplatzes. Revolver zur Hand. Messungen am Adisch-Gletscher.
Lager im Walde. Regen und Sturm. Beraubung des Lagers während
der Nacht. Rückkehr nach Muschal. Einzug des Bischofs von Poti und
seines Gefolges in Muschal. Die Kosaken des Pristaws von Betscho eskor-
tieren die Familienältesten aus Adisch nach Muschal. Gerichtsverfahren
des Pristaws. Die Adischer werden entwaffnet und gefangen nach Betscho
geführt. Schwierigkeiten bei der Anwerbung von Trägern zur Ueber-
schreitung der Hauptkette auf dem seit Menschengedenken nicht began-
genen Zanncr-Pass.
XXI\'. Kapitel. Ueber den Zanner-Pass nach dem Norden der
Hauptkette 327—340
Die Gletscher an der südlichen, dem Mulchara-Tal zugewendeten
Abdachung des Haujitkammes. Durch die Zanner-Schlucht. Der Zanner-
und der Nageb-Gletscher. Nachtwache im Zanner-Lager. Träumeiei am
Wachtfeuer. Mondlicht. Anstieg über den Zanner-Gletscher. Anblick
der Eisfassade des Tetnuld. Freshfield und seine Führer stossen im Firn-
becken des Zanner-Gletschers zu uns. Tetnuld wurde erstiegen. Er-
müdender Marsch durch tiefen, pulverigen Schnee. Irrfahrten im Nebel.
Gebete der Swanen. Nach einem Marsch \on 1 3 Stunden am Zanner-
Pass. Grossartige Aussicht auf die Bergriesen des Besingi-Gebietes.
Sonnenuntergang. Vergleich mit der Umgebung des Gorner Gletschers.
Ueberhängende Firnmatten auf der Passhöhe, jenseits ein- steiler Schnee-
wall. Die Swanen weigern sich, abzusteigen. Das Gepäck wird hinab-
geschleudert. Nach langem Geschrei folgen die Swanen. Um 9 Uhr nachts
werden die Zelte hoch über dem Besingi-Gletscher aufgeschlagen. Lu-
kullisches .Abendessen im Zelte.
XXV. Kapitel. Im Umkreise des Koschtan-Tau 34[— 348
Die Ueberschreitung des Zanner-Passes die schönste Gletscherfahrt
im Kaukasus. Ueber den Besingi-Gletscher. Wieder bei .Sr. Hoheit dem
Fürsten von Besingi. Ins Dumala-Tal. Der UUuaus-GIetschcr. Am Fusse
des Koschtan-Tau. Photographische Aufnahmen. Heimkehr. Im folgenden
Jahre wird von englischen Reisenden mit Schweizer Führern ein Versuch,
Koschtan-Tau zu ersteigen, unternommen. Die Reisenden verliessen ihr
Lager am Fusse des LTluaus-Gletschers und kehrten nicht wieder. Nach-
forschungen nach dem Schicksale der Verschollenen. Der letzte Biwak-
platz. Die Reisenden müssen im .Anstiege durch .Absturz \erunglückt sein.
Rec[uiescant in pace.
Das Register zu Band I und II, das Verzeichnis der Druckfehler, Zusätze
und Berichtigungen, sowie die Karte des kaukasischen Hochgebirges,
Massstab i 1400000, in zwei Blättern, befinden sich am Schluss des
zweiten Bandes.
Verzeichnis der Abbildungen des ersten Bandes.
Verzeichnis der Kupfer-Heliogravüren.
Klbruss (Minghi-Taul vom Firngeljietc des Asiui-Gletscher-; Titelbild
Adai-Choch vom Zeja-Tal 27
Adai-Choch 32
Der Zei-G!etscher 34
Seracs am Zei-Gletscher 3S
Der Besingi-Gletscher 82
Prinzessin Ui-ussbiew (Bergtatarini 98
Das Mulchara-Tal bei Mestia 143
Swanen 150
Elbruss vom Dschiper-Pass 184
Der Dschiper-Gletscher 189
Uschba 204
Tichtengen 223
Hadschi in St)'r-Digor 248
Der Karagom-Gletscher 250
Teberda- Schlucht 257
See in der Teberda 265
Eissee unterhalb des Kluchor-Passes 266
Die Kette des Tschatyn-Tau und Schcheldy-Tau 297
Tetnuld vom Zanner-Gletschcr 331
Koschtan-Tau 344
Verzeichnis der Panoramen.
Von einer Kammhöhe (ca. 3000 m) unterhalb des Schtulivcek-Passes gegen die dignrische
Kette im Norden 61
Die Granitriesen des Kaukasus vom Schtuli\cck-Pass (3348 m 64
Bergrund am Midschirgi-GIetschcr 88
Voin Betscho-Pass (3375 m^ gegen Süden und Südwesten 134
Panorama der Hauptkette vom Tetnuld bis zum Ailama vom L.itp.iri-i'ass i2S00 ni' . . . 154
Der südliche Teil der Adai-Choch-Grup|ie vom Rhododendron-Hügel i2200 mi oberhalb
Gurschewi 169
\'om Dschiper-Asau-Pass (3267 ni' gegen Süden und Südwesten 190
\'on einer Höhe in der südlichen Umrandung des östlichen Zweiges des liesingi-( Gletschers . 234
\'om Adyr-Mestia-Pass (3751 m) gegen Süden 303
\'om Firnplateau (^ca. 3000 m) im Norden des Adyr-Mestia-Passes 310
— XXUI —
Vkkzkichms der Abbildungen' des ersten Bandes.
Verzeichnis der Text-Abbildungen.
Seite
Kopfleiste 1
Odessa 7
Südküsto der Krim S
Jalta 9
Kaiikasuskettc (Kaslickgruppei aus der Terckeljene 18
Nachas-Schlucht 22
Neuer ossetischier Grabstein (Sella) 23
Alte ossetische Grabsteine iScUai 23
Nusal-Schlucht 25
Die Karawane zieht durch das Dorf Zci 28
Zunge des Zei-Gletschers mit Gletschertor 30
Hintergrund des Zeja-Tales von den Hütten des Dorfes Zei 32
Vegetation i^mit blühendem Rhododendron caucasicum) ain Zci-Gletscher 33
In den Seracs des Zei-Gletschers 35
Adai-Choch vom Osten (Sella) 39
Der Eisstrom des Zei-Gletschers ^tah\ärts) 43
Das Dorf Kamunta 46
Ossetische Heumäher 47
Digorier 48
Firnhöhen im Skattikom-Tale 52
Karagomtal bei Dsinago 53
Der Digorier Karagubajew 5 5
Hintergrund von Styr-Digor 5 7
Gletscher-Zirkus oberhalb Styr-Digor 58
Ssugan-Kctte vom Plateau unterhalb des Schtulivcek-Passes 60
Laboda. \'om Plateau unterhalb des Schtulivcek 62
Fytnargin-Gletscher 65
Dychssu-Schlucht 66
Dychssu-Gletscher und Schchara 69
Tscherek-Tal 72
Balkaren 75
Tscherek-Schlucht 76
Kaukasische Waffen n
Aus der Eisregion des Midschirgi-Gletschers (Hochgebirge von Bcsingii 78
Urwan-Tal oberhalb Tubencl 81
Midschirgi-Gletscher 84
Eiswall mit Dych-Tau \ om Midschirgi-Gletscher 85
Midschirgi-Tau vom Midschirgi-Gletscher 87
Der Fürst von Besingi und seine Getreuen ( Sella ^ 90
Kaukasische Trinkgefässe 91
Milderes Bakssan-Tal 92
Aul Tschegem 93
Prinzessinnen in Tschegem 95
Bakssan-Tal bei Urussbieh. mit Dongusorun im Hintergründe 98
Wasserfall des Ssyltran-Ssu • 101
Berg-Tataren (Urussbier) in Urussbieh 1 02
Der Asau-Gletscher, von den Tersskolhängcn g^esehen 104
Elbruss vom Norden 106
Elbruss von den Hängen der Tersskol-Schlucht 107
Nach der Jagd. Meine Gastfreunde im Standquartier von Kosch Asau 113
— XXIV —
Verzeichnis der Abbildungen des ersten Bandes.
Seite
Capra caucasica Güldcnstädt, Capra pallasii, Capra aegagrus pallasii mach /eichiuingl . . 114
Die Gruppe des Dongusorun von oljerliall) Koscli Asau 115
Eis und Lava am Elbruss 117
Die Hauptkette vom Rande des Fiinplateaus am Elbruss 118
Swanetische Träger auf dem Marsch 1 30
Ismael UiTissbiew 131
Die Gipfel des Dongusorun mit dem Jussengi-Gletscher 133
Dolra-Gletscher 1 36
Absch'iuss des Betscho-Tales 138
Uschba 141
Tschangi, swanetische Harfe 144
Die Tetnuldgnippe vom Ugür-Pass 145
Zeltlager nach einem Schneefall 1 46
Swanetisches Dorf 147
Alte Kirche in Muschal 15 1
Turm in einem swanetischen Dorfe 152
Tal des Zchenis-Zchali
Schluchten des Zchenis-Zchali
Burg der Dadianfürsten am Zchenis-Zchali
Defile vor Muri
Ausgang des Defile von Muri
Tiflis
Der südliche Teil der Adai-Choch-Gruppe vom Mamisson-Pass
Die Krimküste bei Jalta, vom Meere gesehen
Kassara-Schlucht
Die Kaltber-Kette aus der Kassara-Schlucht
Ranunculus Lojkae S. et L. nov. sp.'-M
Tschantschachi-Choch
Nepeta caucasica S et L. nov. sp.''M
Hütten im Aul Urussbich
Kabardaer
Kabarda-Mädchen
Der Asau-Gletscher
Tasche aus der Kabarda inach Zeichnung von Iwan v. Dechy
Unsere Karawane am Asau-Gletscher
Vom Elbruss-Plateau niederziehender Gletscher
Am Asau-Gletscher
Saxifraga scleropoda Somm. et Lev. nov. sp.'-'
Nenskra-Tal
Vorbereitungen zum Diner
Nakra-Tal ~
Ingurtal bei Ezeri
Neugierige in einem swanetischen IJorfe 200
Uschba und Tschatuin- Tau -07
Eisfall imd Zunge des Adisch-Gletschers 209
Verbascum Dechyanum Somm. et Lev. nov. sp.'-') 210
Der Chalde-Gletscher 211
Gentiana Dechyana Somm. et Le\-. now sp - ' -
Der Twiber-Gletscher - ' -*
Das Ende des Twiber-Gletschers - ' '
Die Abbildungen von Pflanzen uml Versteinerungen sind den Tafeln des dritten Bandes entnommen.
— XXV —
Vf.rzkichms der Abbildungen des ersten Bandes.
Sehe
Am •IVil)iM-(;ictscluT 218
Sscri- und Assmasclii-Cllctscher 219
Dsinal-Glctschcr 221
Vom Twibcr-Pass gegen Westen 222
Vcronica glareosa, Sonini. et Lr\ . nov. sp/"i 223
Das Tal des Kara-Ssu 224
Kindschalo. kaukasische Dolchmosser 225
Der Kulak Gletscher 226
Tjutjurgu- und Schaurtu-( ".letscher 227
Der Schaurtu-GIetscher und seine Umrandung \on der Talsohle des Kara-Ssu 228
Vom Tschegem-Besingi-Sattel 230
Calamintha caucasica S. et L. nov. sp 231
Dyeh-Tau 232
Katuyn-Tau und Gcstola iWoolleyi 233
Besingi-Schlucht 234
Das Dariel-Defile 236
Tamara-Burg in der Durchbruchsschlucht des Terek 237
Kasbek von der grusinischen Heerstrasse 238
Das Tal der Ara^ua 238
Georgische Musikinstrumente 241
Wohnhütten in einem Digorier-Dorfe 242
Mädchen aus Machtschek 245
Ossen aus Machtschek 24 5
Der Tana-Gletscher 247
Digerier 248
Die Zunge des Karagom-Gletschers 250
Im Uruchtale 252
Uruch-Schlucht i Achschinta-Kom 253
Vegetation in der Uruch-Schlucht 254
Stephanoceras Liechtensteinii, nov. sp.'-'i 256
Kuban-Tal vor Chumara 257
Eingeborene aus Teberdinsk 262
Im Teberda-Tal 262
Die Teberda und die Gipfel und Gletscher im Amanaus-Tale 263
Mündung des Buulgen-Tales 264
Der Kluchor-Gletscher 265
Eissee imterhalb des Kluchor-Passes 266
Elbruss \-om Dout-Utschkulan-Pass 269
Aul Chursuk 271
Karatschaifrauen aus Utschkulan 272
Karatschaer aus Utschkulan 273
Riegel im UUukam-Tal 274
Das Bergrund des Chotjutau-Gletschers 275
UUuosen-Gletscher 276
Elbruss vom Nordwesten 279
Trachytwände im Malka-Tal 282
Erdpyramiden im Malka-Tal 283
Kyrtyk-Gletscher 287
Das Seitental des Adyl-Ssu iB-ikssantal 288
Bakssantatarin am Webstuhl 291
*) Die .\bbildungen von Pflanzen und Versteineriingen sind den Tafeln des dritten Bandes entnommen.
— XXVI —
VKRZIilCIIXIS DKR AlililLDUNGEN UND AliKÜRZUXCiK.X DES ERSTEN BANDES.
Seite
Eintritt ins T,il des Ad\l-Ssu 293
Der westliche Talzweig des AdyUsii-Talcs 295
Der Schcheldy-Gletscher 296
Oestliches Firnbecken des Schcheldy-Cletschers 297
Der Elbruss von Südosten 299
Rhabdocidaris caucasica nov. sp.'-- 1 301
Lager im Tale des Adyr-Ssu 302
Kleine Bakssantatarin iFainilie Urussbiewi mit ilirer Dienerin 305
Lastesel mit Treiberjungen 306
Die Oeffnung des Adyrssu-Tales mit Ullu-Tau-tsch.ina im Hintergiundi» 307
Ullu-Tau-tschana im Adyrssu-Tale 308
Lagerplatz iin Adyrssu-Tale 309
Uschba und Tschatyn-Tau mit Tschalaat-Ctletscher 313
Mestia und die Leilakette 314
Der Adisch-Gletscher 316
Uschba vom Osten 317
Dorf Adisch 318
Swanen in Adisch (Links unser Kosak aus der Kabardai 319
Das Ende des Adisch-Gletschers 320
Der Zanner-Gletscher ^'2■^
Zanner- und Nageb-Gletscher ' 328
Der Nageb-Gletscher 329
Unterer Eisfall des Zanner-Gletschers 332
Der Besingi-Gletscher (Sellai 34 t
UlIu-aus-Gletscher mit der Koschtan-Kette 344
Gestein vom höchsten Felsgrate am Elbruss 347
*) Die Abbililunsen von Pflanzen imil Versteinerungen sind den Tafeln des dritten Bandes entnommen.
Verzeichnis der Abkürzungen.
m = Meter.
km = Kilometer.
qkm ^= Quadratkilometer.
1 " C ^1 Grad der hundertteiligen Thermomcterskala.
(B. D. i = Höheninessungen des Verfassers auf Grund von .Ablesungen am Quecksilber- Barometer.
[K. D.l ^ Höhenmessuiigen des Verfassers mittels Aneroids.
Einleitung.
Duris cautibiis, horrens Caucasus.
(Virsilius.)
Die kaukasischen Ländergebiete waren schon den Völkern des Aher-
tums bekannt. Ein reicher Sagenkreis umwebt die Landschaften zwischen
dem Schwarzen und dem Kaspischen Meere. Dort bildete das Kafgebirge
der Alten das Ende der Welt, der Kauk-Asos, das Asa-Land, den Götter-
sitz nach der deukalionischen Flut. Nach dem Sonnenlande Kolchis ging
der Zue der Argonauten, und an die Felsen des Kaukasus ward Prometheus
von den erzürnten Göttern geschmiedet.
Herodot, Strabo und andere Schriftsteller ihrer Zeit geben uns die
ersten Nachrichten von den kaukasischen Ländern. Alte, zum grossen
Teile verschwundene Völker wohnten dort, und der Strom von Völker-
wanderungen bewegte sich durch diese Ländergebiete. So wurde der
kaukasische Isthmus bis in die jüngste Zeit ein Tummelplatz der ver-
schiedensten Völker, der Schauplatz von Rassenkriegen und religiösen
Kämpfen. Den Heeren der Assjrer und Bab)'lonier, den Kriegern Cyrus'
und Xenophons folgten die Horden Dschingis- Chans und Temirlans, und
mit diesen haben die Einbrüche skythischer Eroberer den kaukasischen
Boden zum Schauplatz ihres Herrscherehrgeizes, oder ihrer Beutesucht, zur
blutgedüngten Wahlstatt gemacht. Nur kurze Perioden ruhiger friedlicher
Entwicklung waren diesen Ländern gegönnt, während welcher dieselben eine
Stätte asiatischer Kultur wurden. Die topographische Lage und die reiche
Konfiguration des kaukasischen Isthmus hat auf diese Ereignisse be-
stimmend eingewirkt, infolge jenes Zusammenhanges, welcher überall
zwischen den geschichtlichen Begebenheiten und den geographischen
Faktoren besteht.
An der Grenze zweier Kontinente steht das den kaukasischen Isthmus
durchziehende mächtige Hochgebirge, der Kaukasus. Er war ein hemmender
Dechy; Kaukasus. 1
— 1 —
Di-;r Kaukasus ix Sagk und Geschichte.
Wall für die Bewegung der V'ölkerzüge, der ihre Wogen in gewisse
Richtungen zwang. Nur die Brandung derselben erreichte das rauhe, hohe,
schwer übersteigbare Gebirge. Die historische Bedeutung der Gebirge,
besiegten und verfolgten Völkern zum Asyl zu dienen, zeigt auch der
Kaukasus. Die in das Gebirge verschlagenen Bruchteile der den Kau-
kasus umschwärmenden \"ölkerschaften fanden dort von der Aussenwelt
abgeschlossene Zufluchtstätten. Hieraus erklärt sich das Gemisch von
V^ölkern und .Sprachen , welches sich bis auf den heutigen Tag dort er-
halten hat.
Die Gebirgsnatur schreibt in den Pässen den Völkern ihre natür-
lichen Wege vor und bestimmt nicht nur die Richtung ihres Verkehrs,
sondern beeinflusst auch den Verlauf der geschichtlichen Ereignisse. In der
Unwegsamkeit des Kaukasus, in welchem die Natur nur in der Nähe des
Kaspischen Meerufers bei Derbend eine schmale und niedrige Pforte —
Pylae Caspiae, die Porta Caucasica — , die Verbindung zwischen Asien
und Europa, zwischen Süd und Nord, offen liess, liegt ein grosser Unter-
schied im Gegenhalte zu den Alpen, die schon seit den Zügen der Rhaetier
und Römer bequeme Verkehrswege für friedliche und kriegerische Zwecke
zwischen den nördlichen und südlichen Abdachungen boten. In diesem
Aufbau des Kaukasus liegt auch der Schlüssel zur Erklärung der Tatsache,
dass im langen W'andel und Wechsel der Zeiten, welche in diesen Länder-
gebieten die Zusammenstösse asiatischer Kulturvölker und barbarischer Er-
oberer .sahen, in welchen Staatengebilde entstanden und vergingen, Christen-
tum und Islam bald neben-, bald übereinander standen, — Kaukasien bis
in die neueste Zeit zwar eine geographische, aber keine politische Ein-
heit bildete.
Diesen langen, zum Teil vom Lichte der historischen Erkenntnis
kaum erhellten Perioden folgte jene Zeit, in welcher das mächtige Russische
Reich im Norden in die Geschichte der kaukasischen Ländergebiete ein-
zugreifen begann. Im Ringen Russlands um die Herrschaft am kaukasischen
Isthmus tritt wieder die Gebirgsnatur desselben bestimmend auf, indem sie,
wie überall , den Gebirg.svölkern die Möglichkeit längeren Widerstandes
gegen Eroberungszüge und aufgedrungene Herrschaft verlieh. Nahezu ein
Jahrhundert währte es, bis es Russland nach blutigen Kämpfen mit den
Bergvölkern gelang, diesen vielgeprüften Läntlern Ruhe und Eriedcn zu
schenken und in dieselben die Errungenschaften europäischer Zivilisation zu
tragen. In diese Zeit fällt auch die wissenschaftliche Erforschung des
kaukasischen Isthmus.
Die wissenschaftliche 1<:rforschung Kaukasiens.
Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts war eine Reihe von
Forschungsreisenden bemüht, soweit die einzelnen Gebiete Kaukasiens zu-
gänglich waren, den Grunil für unsere Kenntnisse ihrer geographischen und
geologischen Verhältnisse, von Fauna, Flora und Ethnographie zu legen.
Mit der Pazifizierung des Landes wurden die wissenschaftlichen Arbeiten von
Russland in intensivster Weise in Angriff genommen, und es genüge hier,
aus der Zahl der verdienstvollen Männer, welchen diese Aufgabe zufiel, auf
die grossen Verdienste hinzuweisen, welche sich Güldenstädt, Pallas, Klaproth,
Eichwald, Parrot und in erster Reihe Abich und Radde um die Erforschung
Kaukasiens erworben haben. Diese Forschungstätigkeit, welche sich auf
alle Zweige menschlichen Wissens erstreckt, fand jedoch an den abwehrenden
Flanken des kaukasischen Hochgebirges eine kaum überschrittene Grenze.
Die unwirtliche Natur des schnee- und eisbeladenen Hochgebirges hat überall
auf der Erde, auch in den Alpen, sich am längsten des Forschungsdranges
der Menschen zu erwehren gewusst, und die hohen und höchsten Regionen
des kaukasischen Hochgebirges, die sich über den obersten Talgehängen
in weiter Ausdehnung und in schroffem , jedes Vordringen erschwerenden
Aufbau erheben, blieben unbetreten, unerforscht.
Es kann daher nicht wundernehmen, dass unsere Kenntnisse von
den Hochregionen dieses mächtigen Hochgebirges noch lückenhaft blieben,
und dass die Angaben darüber in allen wissenschaftlichen Werken zum
grössten Teile irrige waren und auch die Karten der kaukasischen Länder-
gebiete von den orographischen Verhältnissen der Hochregionen, von ihrer
Schnee- und Gletscherbedeckung unrichtige Darstellungen gaben. Nur
wenige Gipfel waren gemessen, nur von wenigen Punkten und Pässen im
Hochgebirge waren Höhen bekannt, man hatte keine Ahnung von der
Existenz einer Reihe der höchsten Gipfel und zahlloser bedeutender Gletscher,
von der wirklichen Ausdehnung der Schneebedeckung und der einzelnen
Gletscherindividuen, von der Grösse ihrer Firnreservoire.
Die ersten, welche, beseelt von Forscherdrang und erfüllt von kühnem
Mute, in die eisigen Hochregionen des zentralen Kaukasus eindrangen, waren
im Jahre i 868 die Engländer D. W. Freshfield, W. A. Moore und C. C. Tucker,
mit dem Savoyer Bergführer Frangois Devouassoud. Freshfield gebührt der
unvergängliche Ruhm, die ersten genauen Berichte über die höchsten Gipfel,
über die Gletscherwelt eines Teiles des Kaukasus, über den landschaftlichen
Charakter seiner Hochregionen veröffentlicht und, als Kenner der gleich-
artigen Erscheinungen in den Alpen, durch Vergleiche die Kenntnis des
kaukasischen Hochgebirges unserem Verständnisse nähergebracht zu haben.
IrRICK VoKSTELLUNC.EN Ül'.ER DIE IMINSISCIIE GE( )(;RAI'H1E DER HOCHRElUON.
Aber das Ounkel, das über den Schneerej^nonen des Kaukasus lag, war
tkirch diese Reise kaum gelichtet, und die irrigen Vorstellungen über die
Orographie und physische Geographie, insbesondere über die Schnee-
bedeckung und die Entwicklung des Gletscherphänomens in den kaukasischen
Hochregionen, blieben fortbestehen. *j
Noch harrten ausgedehnte Strecken des Hochgebirges der Begehung,
in weite Reviere desselben war noch kein Blick eines Sterblichen gedrungen,
noch fehlten exakte Daten, Höhenmessungen, vor allem aber getreue Natur-
aufnahmen mit Hilfe der photographischen Kamera, welche als Dokumente
der Wahrheit, als Beweise für Behauptungen dienen konnten, die im Gegen-
satze zu den bis dahin geltenden xAnschauungen standen. Im kaukasischen
Hochgebirge, in seinen nahezu unbetretenen Eisregionen lag daher ein
schönes Feld für geographische Forschung, welches sich denjenigen öffnete,
die in der harten Schule der Alpen gelernt hatten, die Schwierigkeiten und
Hindernisse zu besiegen, den Gefahren mutig zu begegnen, welche einem
Eindringen in dieselben sich entgegenstellen.
Sechzehn Jahre waren seit der Reise Freshfields verflossen, ohne dass
die irrigen Vorstellungen über die Orographie und physische Geographie der
kaukasischen Hochregionen, die in Vorstehendem angedeutet wurden, einer
richtigen Auffassung Raum gegeben hätten, ohne dass die Stille der weiten
Schneewüsten der kaukasischen Hochregion gestört worden wäre, als ich im
Jahre 1884 meine Schritte nach dem Kaukasus lenkte.
*) So enthält der sechste, 1881 erschienene Band der >Geographie Universelle«, des
Monumentalwerkes von Elysee Reclus, des Gelehrten, der die Ergebnisse der Forschungen auf dem
Gebiete der Erdkunde in wissenschaftlicher, den Gegenstand beherrschender Weise zu verwerten wusste,
folgende mit Ausnahme der Bemerkung von der absoluten Höhe und der Lage des kaukasischen
Hochgebirges falsche Darstellung: »Obwohl die Gipfel des Kaukasus höher sind als die der Alpen, sind
sie verhältnismässig wenig mit Schnee und Eis bedeckt, nicht allein wegen ihrer südlicheren Breite
und andern klimatischen Ursachen, sondern auch wegen der Schmalheit der hohen Kämme und
wegen des Mangels an Kesseln (Cirques), wo die Schneemassen sich ausbreiten und Firnreservoire
für Gletscher bilden können. Der Mangel an Schnee bringt eine korrespondierende Seltenheit der
Gletscher mit sich.v — Die gleichen irrtümlichen Angaben, insbesondere über die Schneebedeckung
und die Entwicklung des Gletscherphänomens, enthalten die Berichte der russischen Forschungs-
reisenden. So schreibt der ausgezeichnete Geologe Muschketow noch im Jahre 1882: Die Masse
des Eises auf dem Elbruss ist gleich der Summe aller Eismassen der kaukasischen Kette, und die
Oberfläche, welche die gesamten kaukasischen Gletscher bedecken, ist kleiner als die der Montblanc-
Gruppe allein.« Der berühmte Geologe und ausgezeichnete Gletscherforscher Prof. A. Heim fasste
in seinem 1885 erschienenen »Handbuch der Gletscherkunde« die Summe unserer Kenntnis von der
.Schneebedeckung und den Gletschern des Kaukasus in folgenden zumeist irrigen Sätzen zusammen:
Gletscher von den Dimensionen des Aletschgletschers, des Unteraargletschers oder des Mer-de-glace
fehlen . . . die meisten kaukasischen Gletscher gehören zu den Hängegletschern .... die gesamte
Schnee- und Eisbedeckung des Kaukasus beträgt I^Oqkmi!
— 4 —
Orograi'Iiische Vkriiältmsse ])i;s Kalkasus.
Die Reisen, welche in den folgenden Blättern geschildert werden
sollen, waren der Erforschung des kaukasischen Hochgebirges gewidmet.
In kurzen Strichen, nur soweit es zum leichteren Verständnis derselben
nötig ist, sollen die topographischen Verhältnisse des kaukasischen Hoch-
gebirges angedeutet werden.
Es erscheint vor allem nötig, hervorzuheben, dass .sehr oft mit dem
Namen Kaukasus zwei nicht identische Begriffe bezeichnet werden, und zwar
das Gesamtgebiet, die Länder des kaukasischen Isthmus, und oft auch nur,
von diesen losgelöst, das den Isthmus durchziehende Hochgebirge, oder aber
die dasselbe im Süden oder Norden umgebenden Gebiete. Es entsteht
hierdurch eine Begriffsverwirrung, welcher insbesondere Geographen entgegen-
treten sollten. Es sollte unter der Bezeichnung Kaukasus nur das Gebirge,
der Kaukasus par excellence, verstanden werden, indes für die kaukasischen
Ländergebiete die Bezeichnung Kaukasien (für den nördlichen Teil Zis-
kaukasien, für den südlichen Transkaukasien) angewandt werden sollte.
Das Gebirgssystem des Kaukasus erstreckt sich zwischen dem 45.
und 40. Grad nördlicher Breite. Mit niedrigen Hügelreihen hebt das
Gebirge in der Halbinsel l'aman im .Schwarzen Meere an, streicht in einer
allgemeinen Richtung von N.VV. nach S.O., zu immer grösseren Erhebungen
anschwellend, bis es sich zur l'ferregion des Kaspischen Meeres, bei der
in dasselbe hinaustretenden Halbinsel Apscheron, abdacht.*) Im Süden
scheiden die Talgebiete des Rion und des Kur das kaukasische Gebirgs-
system von den Gebirgen und Hochebenen Armeniens. Im Osten reicht
es bis an die kaspische Steppenzone, und den gegen Süden abdachen-
den Fuss des westlichen Flügels des Gebirges bespülen die Fluten des
Schwarzen Meeres. Im Norden sinkt der Kaukasus in die Hochflächen,
durch welche sich die demselben entspringenden Ströme des Kuban und
Terek winden, um sich, der erstere in das Schwarze Meer, der letztere in
das Kaspische Meer zu ergiessen.
Es sind niedrige Bergreihen, mit welchen der Kaukasus im Westen
beginnt, und erst mit der Erhebung der Berggruppe des Fischt- Oschten, im
Meridiane von Sotschi, am Schwarzen Meere, zeigt sein Relief das Gepräge des
Hochgebirges. Das Gebirgssystem erreicht in seinem mittleren Teile die
mächtigste Entwicklung, die grössten absoluten Höhen, und behält in seiner öst-
lichen Fortsetzung den Charakter des Hochgebirges bei, bis es mit den Aus-
läufern der Gruppe des Basardjusi, nahe der Uferregion des Kaspischen Meeres,
*) In der Tat setzt das Gebirgssystem des Kaukasus unter dem Kaspischen Meere fort,
schliesst an die asiatischen Gebirgsketten und wird so zum Bindegliede zwischen zwei Erdteilen.
ElNTKII,UX(; DES KAlKASlSlllEX GElilRGSSVSTE.MS.
sich in unbedeutende Bergzüge zersplittert. Die Länge dieses, den Charakter
des Hochgebirges tragenden Teiles des Kaukasus, von der Mschtgruppe bis
zum Massiv des Basardjusi, beträgt 650 Kilometer, was in den Alpen etwa der
Entfernung des Monte Viso, südwestlich von Turin, bis zum Schneeberge
bei Wien gleichkommt. Auch in der Breite nimmt das kaukasische Ge-
birge mit dem Fortschreiten nach Südosten bedeutend zu, erreicht im Meri-
diane des Elbruss eine Ausdehnung von über 100 Kilometern, die sich im
zentralen Teile bis auf 1 30 bis 1 50 Kilometer erhöht, um nach einer Ein-
engung am Terekeinschnitte bis nahezu 60 Kilometer, im Osten, im Daghe-
stanischen Berglande wieder bis 135 Kilometer anzuwachsen. Die Breite des
zentralen Kaukasus zwischen Naltschik, einer in den nördlichen V'orbergen
gelegenen Ortschaft, und den südlichen Ausläufern bei Kutais beträgt etwa
155 Kilometer, ungefähr so viel, wie diejenige zwischen Luzern und Arona
am Lago Maggiore.
Der bestimmende Grundzug im Aufbau des Kaukasus ist der eines
Kettengebirges mit vielfach gebogenen Kammlinien; es muss aber als eine
irrige Vorstellung bezeichnet werden, ihn als eine einfache Bergkette aufzu-
fassen, dieselbe muss sich vielmehr der Anschauung hinneigen, dass der
Kaukasus ein Gebirgssystem bildet, welches ein mannigfach gegliedertes
Gefüge besitzt, dessen einzelne Teile orographisch zusammengehören. Die
Erscheinungen, wie sie die Oroplastik des kaukasischen Hochgebirges bietet,
legen es nahe, dasselbe in drei Hauptabteilungen zu gliedern. Als zentralen
Kaukasus stellt sich das Teilstück dar, welches, um die zwei bekanntesten
Hochgipfel des Kaukasus anzuführen, vom Elbruss und Kasbek flankiert wird.
Will man die Grenzlinien genauer präzisieren, so liegen sie im Westen, im
Ouellgebiete des Kuban, am Kluchor-Pass, an der imeritinischen Heerstrasse,
die in der Höhe von 28 13 m als Saumpfad über die Hauptkette führt, und
im Osten am Kreuz-Pass, welchen die gru.sinische Heerstrasse in 2379 m Höhe
überschreitet. Im Westen vom Kluchor-Pass liegt der westliche, im Osten
des Kreuz-Passes der östliche Kaukasus.
Odessa.
I. KAPITEL.
Nach dem Kaukasus.
Anil 1 will <ret nw to some far-off land,
Wherc higher mountains uniler licaven stand
And touch tlie bluo at lisiiiff of the stars.
George Elliot.
Von Budapest führt die Bahn über das Karpathische Randgebirge
nach Lemberg und, die russische Grenze bei Woloczysk überschreitend,
nach Odessa. Die Wellen des Schwarzen Meeres brechen sich an den
Klippen,*) mit welchen die südrussische Steppe bei Odessa zum Meere
abfällt. Oben auf dem hohen Plateau breitet sich die Stadt aus. Mit einem
der schönen Dampfer der »Russischen Schwarzmeer -Gesellschaft« setzten wir
die Reise fort. Langsam entschwinden dem Blicke der schöne Boulevard,
von welchem die imposante steinerne P'reitreppe hinab zum Hafen führt,
langsam das von hohen, vielkuppligen Türmen überragte Häusergewirre der
Stadt, und der Dampfer eilt an mit Villen und Landhäusern dicht besäten
Uferpartien vorbei, hinaus auf die freie See.
Nach fünfzehnstündiger Fahrt kommt am folgenden Morgen die
bergige Landschaft der Krim in Sicht, an deren Fuss das flache Kap
Chersonnes mit seinem Leuchtturme in das Meer hineinragt. Der Dampfer
läuft in die weit eingeschnittene Bucht von Sewastopol ein. Wir benutzen
*) Steppen -Kalke.
DiK SÜDKÜSTK DER KUIM.
einen nielirstiindiyen Aulcnthalt, um eine Riincltahrt durcli die zum Teil neu
aufgebaute Stadt zu maclien, an neuen Befestigungswerken und allen I'Vied-
höfen vorbei. Der Wind wirbelt den Staub von der trockenen, vegetations-
losen Steppe auf, die sich wellenförmig gegen Norden hinzieht, hn Südosten
ragt die Bergkette auf, welche, von grauem Dunst umhüllt, die breite Ma.sse
des Tschachrdagh abschliesst.
PZrst mit dem Umschiffen des chersonnesischen Vorgebirges und
nachdem man Balaklawa passiert hat, folgt auf die kahle Oede der Um-
gebungen Sewastopols jener durch Schönheit der Formen und Reichtum
der Vegetation ausgezeichnete Küstensaum des Schwarzen Meeres, der die
Südk liste der Krim.
Landschaft der Krim zu einer vielgepriesenen gemacht hat. Ist auch die
ihr von vielen gezollte Bewunderung eine zu überschwengliche, so wird der
Reichtum an Naturschönheiten, der diese Landschaften auszeichnet, mit
ihrem Wechsel der Ausblicke auf Berg und Tal, auf Meer und Uferklippen,
fesseln. Es sind die Südabdachungen der vom Plateau bei Sewastopol
sichtbaren Kalkkette, weiche hier in steilem Abfalle an die See heraus-
treten. Der Dampfer fährt nahe an der Küste hin und bietet so in rascher
Aufeinanderfolge den Anblick ihrer Schönheiten. Die Bergkette rückt bald
näher an das Meeresufer, bald weicht sie wieder zurück und gibt einer
nur wenig ansteigenden, von südlichen W^äldern bedeckten Küste Raum.
Ott jedoch verschwindet dem Auge der schmale Küstensaum, und dann
scheinen die Berge als steil abfallende Vorgebirge und Kaps unvermittelt in
die See hinauszutreten.
Kektscii lni> das Meer von Asow.
Kill in üpiji^er Vegetation prangendes Ufergelände, von Schlössern
und \'illen belebt, unter welchen Orianda, Alupka und Livadia durch
glückliche Verbindung von Kunst und Natur weit berühmt geworden sind,
gleitet als Wandeldekoration vor dem Seefahrer vorüber, bis die kleine,
halbkreisförmige Bucht von Jalta sich öffnet. Am Bergrund steigen die
Häuser und Villen amphitheatralisch empor, hinter denselben erhebt sich
waldiges Gehänge, von felsigen Graten gekrönt.
Als der Dampfer die Anker hob, war es Nacht, und am Bergrücken
von Jalta flimmerten bis hoch hinauf die Lichter und leuchteten noch lange
hinaus auf die dunkle, stille See.
Jalta.
Am frühen Morgen [massieren wir Feodossia, das Kaft'a der Genuesen,
und am \^ormittag konunt tue Halbinsel von Taman in Sicht. Die Küste
der Krim schiebt zur Linken das mit einem Leuchtturm gekrönte Kap
Takil-Buran vor, während zur Rechten die Halbinsel Taman mit dem Kap
Kischela sich ausdehnt. Zwischen beiden zieht die Meerenge von Jeni-Kale,
der kimmerische Bosporus der Alten. Einige Stunden später lässt der
Dampfer vor der Reede von Kertsch die Anker fallen. Die Küste ist von
niedrigen Sandhügeln umsäumt. Ueber Kertsch erheben sich die sonnen-
verbrannten Hänge des Berges von Mithridates, auf dessen Höhe ein kleiner
Säulentempel steht, in welchem früher die in der l'mgebung ausgegrabenen
Altertümer, bevor sie zum allergrössten Teile in die Eremitage nach
Petersburg gebracht wurden, aufgestellt waren. Abends fuhren wir langsam
durch die Enq;e in das Meer von Asow. Eine kühle Brise wehte; die Glut
Dil'. Ke'I'I'k des Kaikasus krscukint am Horizont.
tler Sonne, welche über Kertsch lai;-, ist gebrochen, und ihre letzten -Strahlen
zaubern jetzt nur noch Farbeneffekte an den Sanddiinen der Ufer hervor.
Am Abend des folgenden Tages ist das Nordende des Asowschen
Meerbusens erreicht. Eine dichte Staubwolke verhüllt das auf hohem Sand-
steinplateau liegende laganrog.
In früher Morgenstunde des nächsten Tages führte uns die Bahn
nach Rostow am Don. Die Stadt breitet sich zu beiden Seiten des von
einer Eisenbahnbrücke überspannten Musses aus und bietet, von einer hohen,
vieltürmigen Kirche im byzantinischen Stil überragt, einen schönen Anblick.
Die Eisenbahn zieht durch die reich kultivierten Ländereien des
Dongebietes und wendet sich später südwärts. Die Gegend nimmt den
Charakter der Steppe an. Mit Tagesanbruch haben wir das Plateau von
Stawropol erreicht. Wir nähern uns dem Kaukasus. Im Süden erhebt sich
das Terrain in flachen Terrassen zum Fusse des Gebirges. Die geraden
Linien werden unterbrochen, und aus der Hochebene treten die scharf-
geschnittenen Formen einer Reihe niedriger Berge. Im Dämmerlichte des
frühen Morgens bietet das Eruptivmassiv des Beschtau, zackige Felsberge,
welche aus der gewellten Hochfläche aufragen, eine fremdartige Landschafts-
szenerie. Plötzlich wird der Blick von diesem pittoresken Vordergrund nach
dem südlichen Horizont gezogen. In riesigen Grössenverhältnissen ist dort
ein i-soliert aufragendes Gebirge, doppelgipflig, in einen blendend weissen
Schneemantel gehüllt, erschienen: es ist Elbruss — der Minghi-Tau der
Kaukasier — , der höchste Gipfel des Kaukasus, 5629 m über der Meeres-
fläche. Am Pusse der Berge wogte ein grauer Nebelschleier. An den
Schneekuppen des mit majestätischer Würde in die Wolken sich erhebenden
Berges entzündete das Rot des anbrechenden Tages eine Feuersglut.
Die Bahnlinie in ihrem nach Süden gerichteten Verlaufe führt immer
mehr den kaukasischen Bergen entgegen. Als lange, ununterbrochene Kette
erscheinen sie am Gesichtskreise. Ueber bewaldeten Vorbergen steigen
zerrissene Felsgrate auf; zwischen denselben ziehen die Linien, welche die
Spalten der Ouertäler andeuten. Begünstigt von einer reinen Atmosphäre,
lassen sich die Schnee- und Eislager erkennen, welche sich in den Faltungen
des Gebirges ausbreiten. In der Höhe, die Kette krönend und die Lage
der mächtigsten Gruppen bezeichnend, erglänzen firnbedeckte Gipfel, scharf-
geschnittene Firste aus I""els und Eis. Unter denselben glaubte ich bei
meiner ersten Fahrt die Spitzen in der Gruppe des Koschtan-Tau und
Dych-Tau und das Massiv des Adai-Choch, im Hintergrunde des Ardon-Tales,
zu erkennen. Zu voller Geltung gelangen später die Gipfel, welche sich
WlADIKAWKAS — AUSOANOSI'UNKT KUR Dir: BkREISI'XC des IIoCIKUClilKrJES.
vom Adai-Choch bis zum Kasbek erheben, da man ihnen viel näher gerückt
ist und ihrer Breitseite entlang fährt.
Der Eindruck, den die den ganzen Tag währende, allerdings lang-
same Bahnfahrt entlang der Riesenlinie des zentralen Kaukasus auf mich
machte, war im Banne des Elbruss der mächtigste. Weiterhin erlahmte das
Interesse an dem Anblicke des Bergwalles, dessen Schönheit durch den
Mangel eines pittoresken Vordergrundes beeinträchtigt wird. Die weiten,
wellenförmigen Flächen, welche sich am Fusse der Berge ausdehnen, sind
schwach bevölkert, und nur selten sind die Häusergruppen russischer An-
siedlungen sichtbar ; der Boden ist meist ohne Kulturen, sonnenverbrannt,
der Steppe gleichend. Aber immer mehr nähert man sich dem hochragenden
Gebirge, bewaldete Vorberge treten heran, und das früher mehr einer Ebene
gleichende Terekgelände nimmt das Aussehen einer breiten Tallandschaft an.
Damals war Wladikawkas (russisch = die Beherrscherin des Kaukasus)
der Endpunkt der Bahnlinie. Die Stadt liegt in einer Seehöhe von 715m
am Fusse der pittoresken Masse des Tafelberges. Ueber den bewaldeten
Vorbergen erheben sich die Gipfel der Kasbekgruppe und im Osten die
Berghöhen aus den chewsurischen Alpen. Die Stadt beherrscht im Norden
die einzige über den Kaukasus führende fahrbare Strasse und ist daher ein
wichtiger Punkt für die militärische und politische Verwaltung Kaukasiens. Aus
seinen oberen schluchtigen Talstufen, drei einander folgende geologische For-
mationen, das kristallinische Urgebirge, die Jurakette und den Kreidewall
durchbrechend, tritt der Terek in das breite, von Tertiärhügeln umrandete
Becken von Wladikawkas. Mächtige Diluvialgeschiebe, alte lakustre Ablage-
rungen lassen schliessen, dass das weite Faltungsbecken in geologischer Vor-
zeit von einem See erfüllt war, und Massen von Glazialschutt sowie zahl-
reiche erratische Blöcke sind Zeugen einer entschwundenen Eiszeit.
Von Wladikawkas sollte die Bereisung des Hochgebirges in
Angriff genommen werden. Ich war nicht allein: zwei Bergführer aus
den Schweizer Alpen kamen mit mir. Gletscherwanderungen und hohe
Bergbesteigungen, die an erster Stelle meines Reiseprogrammes standen und
die die Erforschung der kaukasischen Hochregionen ermöglichen sollten,
sind für einen einzelnen Menschen unausführbar. Ein einzelner kann
zerklüftete Gletscher, weite Firnfelder allein nicht überschreiten, ohne durch
Einbrechen in die oft mit einer trügerischen Schneedecke verhüllten tiefen
Eisspalten sein Leben aufs Spiel zu setzen. Die durch die Ersteigungen
der höchsten und schwierigsten Alpengipfel in der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts hoch entwickelte Technik des Bergsteigens erfordert auch für
]5i:kgfCiirer ai;s dkx Alpen im Kaukasus.
das Erklettern vun steilen Felswänden , vereisten Hängen und scharfen
Firnschneiden die Anzahl von drei — nur ausnahmsweise von zwei —
Personen. Diese Bedingungen, sowie das bei Berg- und Gletscherfahrten
in Anwendung kommende System des gegenseitigen Anseilens der daran
teilnehmenden Personen kann wohl heute bei der in die weitesten Kreise
gedrungenen Kenntnis der Entwicklung des Alpinismus als bekannt vor-
ausgesetzt werden. Die technischen Errungenschaften aber des Alpinismus
sind es, die höheren Zwecken bei Erforschung der aussereuropäischen Hoch-
gebirge dienstbar gemacht werden sollen.
Es wurde oft die Frage gestellt, warum im Kaukasus nicht ein-
heimische h'ührer verwendet werden, und welche Dienste Alpenführer in den
ihnen unbekannten Gegenden leisten können. Der erste Teil der Frage
war leicht zu beantworten: weil es im Kaukasus überhaupt keine Führer
gab. Die einheimischen Bergbewohner, sonst rüstige Gänger, haben ebenso-
wenig versucht, die eisigen Hochgipfel ihrer Heimat zu erklettern, wie der
Tiroler oder Schweizer Bauer vor zweihundert jähren die höchsten Spitzen
der Alpen. Das Gebiet, welches über den obersten Weideplätzen liegt,
hatte für beide kein Interesse; nur tier Jäger machte gelegentlich einen
Streifzug in die höheren Regionen, und nur gezwungen benutzten die Berg-
bewohner in seltenen Fällen Hochpässe als Uebergang in andere Talgebiete.
Nichts aber führte sie auf das schwer zu begehende F^els- und Eisterrain
der Gletscherwelt, in die höchsten Regionen der Hochgebirge. Während
der Talwanderungen bis auf die letzten begrasten Bergrücken oder über
einzelne Hochpässe dienen die Einheimischen als Wegweiser; in der Gletscher-
region aber muss der Hochgebirgsforscher in dem ohnedies in immer-
währender Veränderung begriftenen Gebiete selbst die Route auf die eisigen
Gipfel, über die hohen Gletscherpässe suchen.
FVeshheld, Grove und ich waren die ersten, welche Alpenführer nach
aussereuropäischen Hochgebirgen mitnahmen; Freshfield 1868 Fran(;'ois
Devouassoud aus Chamonix, und J. C. Grove 1874 Peter Knubel aus dem
Wallis nach dem Kaukasus, während ich 1879 mit Andreas Maurer aus
dem Berner Oberland nach dem Sikkim-Himalaya reiste. Bergführer aus
Tirol, den Schweizer und Italienischen Alpen haben seitdem an der Er-
forschung der aussereuropäischen Hochgebirge teilgenommen. Während
einige von ihnen die ausgezeichneten Eigenschaften, die sie in ihrem Heimats-
gebirge entwickeln, ihren Mut und ihre Ausdauer auch in den fremden Hoch-
CTebirtren zur Geltung orebracht haben, konnten andere sich den ungewohnten
Verhältnissen schwerer anbequemen, das im Vergleiche mit den Bergfahrten
ViirbEkkitungen für die Gei!irc;skeise.
in den heimischen Alpen so iinsas^bar rauhere, entbehrungsreichere Leben
nicht ertragen, wozu dann noch oft Erkrankungen, die P'olge des schädlichen
Einflusses ungünstiger, ungewohnter klimatischer Verhältnisse und endlich
ein Gefühl von Heimweh sich gesellten. Was in den allermeisten Fällen
den Alpenführern nicht behagte, war die Reise selbst durch die Niederungen
bis an den Fuss des Gebirges, die Wanderungen durch die oft sehr aus-
gedehnten Talgebiete. Waren sie einmal inmitten der Gletscherregion, im
Aufstiege zur Gipfelhöhe, zum erstrebten Ziele, bei der Ueberwindung der
Schwierigkeiten, welche die Natur des Gebirges entgegenstellt, so fühlten
sie sich meist besser, auch bei den Entmutigten, den Wankenden erwachte
die Kraft, der Ehrgeiz, der Wille, den Erfolg zu erringen.
Als ich vor Antritt meiner Reise Umschau nach Genossen unter den
Alpenführern hielt, entbehrte ich schmerzlich meinen treuen, erprobten Be-
gleiter auf der Fahrt nach dem fernen Sikkim-Himalaya. Ein unbarmherziges
Geschick bereitete dem tatkräftigen, kühnen Mann einen frühen Tod: Drei
Jahre nach unserer Himalayaexpedition, nachdem wir noch in den Alpen
die zu jener Zeit zu den schwierigsten Ersteigungen zählenden Gipfel der
Dent Blanche, der Aiguille Verte und des Rothorn (von Zermatt nach Zinal)
zusammen bezwungen hatten, stürzte Maurer am 3. August 1882 mit dem
englischen Bergsteiger Pennhall am Wetterhorn, wahrscheinlich als Opfer
einer abbrechenden Eislawine.
Meine Gefährten waren diesmal zwei Bergführer aus der Schweiz:
Alexander Burgener und Peter Ruppen, beide aus dem Wallis. Burgener
gehörte zu den erfahrensten und kühnsten Berggängern der Alpen; gleich
ausgezeichnet auf Fels und Eis, kräftig und kühn, hatte er die in jener
Zeit schwierigsten Ersteigungsprobleme gelöst. Ich hatte es Burgener über-
lassen, einen zweiten jungen und kräftigen Mann mitzubringen; seine Wahl
fiel auf Peter Rup|:>en.
In Wladikawkas sollten die letzten Vorbereitungen für die Reise in
das Hochgebirge getroffen werden. Das K. und K. österreichisch-ungarische
Ministerium des Aeussern hatte sich im Wege der K. u. K. öster.-ung. Bot-
schaft in St. Petersburg mit dem Ersuchen an die Kais, russische Regierung
gewandt, mich in der Ausführung meiner Reisepläne zu unterstützen. In
Erfüllung dieses Ansuchens hatte die Kais, russische Regierung die Güte,
den Behörden in Kaukasien die Förderung meiner Reisezwecke zu empfehlen.
In Wladikawkas wurde mir die offene Order (russischer Otkrity List) des
Generalgouverneurs von Kaukasien, Fürsten Dondukow-Korsakow, behändigt,
in welcher Ziele und Zwecke meiner Reise dareeleg-t waren und alle Be-
Reis?:vekhältnissk im katkasisciien Hochckiurge.
hörden aufgefordert wurden, mich in der Ausführung derselben zu unter-
stützen. Der Gouverneur von W'ladikawkas, General von Yurkowsky, gab
diesem Vorschreiben in liebenswürdigster Weise tatkräftige Folge. Ohne
diese Empfehlungen und ohne diese Unterstützung wäre damals eine Reise
in das Hochgebirge unmöglich gewesen, ja sie wäre auch in gewissen Teilen
desselben nicht gestattet worden. Für eine Reise in Kaukasien, welche
sich auf die landläufige Tour nach Borschom, nach den nordkaukasischen
Bädern und über die grusinische Heerstrasse nach Transkaukasien, eventuell
auf den Nordfuss des Daghestan beschränkt, ist eine solches Vorschreiben teils
unnötig, teils ohne besondere Bedeutung. Sobald jedoch der Reisende von
diesen Linien, welche zu den bequem erreichbaren Reisezielen gehören, sich
entfernt und in die von wilden Völkerschaften bewohnten Hochtäler dringt,
deren Sprache er nicht versteht und die in der Beschränktheit ihrer eigenen
Hilfsmittel dem Reisenden nur wenig bieten können, werden sich Schwierig-
keiten in bezug auf Beförderungsmittel, Unterkommen und V'erpflegung
bieten, zu deren Ueberwindung eine sorgfältige Vorbereitung nötig ist und
bei welcher die Unterstützung der Behörden unentbehrlich war.
Eine erste Schwierigkeit bildete die Beschaffung eines Dolmetsch.
Derselbe sollte wenigstens eine der von den Bergbewohnern gesprochenen
Sprachen kennen und bei meiner damaligen Unkenntnis des Russischen auch
irgend eine der europäischen Sprachen. Ein solcher Mann war jedoch in
Wladikawkas nicht zu finden. General von Yurkowsky hatte nun die aus-
nehmende Güte, Herrn .Staatsrat W. Dolbischew, Lehrer am Gymnasium zu
Wladikawkas und durch seine archäologischen Forschungen in weiteren
Kreisen bekannt, zu ersuchen, auf meine Einladung sich während des ersten
Teiles meiner Reise mir anzuschliessen. Ausserdem sollte mir immer ein
Kosak von den in der Miliz dienenden Soldaten beigegeben werden, welcher
jener Völkerschaft angehörte, oder doch ihre Sprache kannte, in deren Ge-
biet sich meine Reise bewegte. Dieser musste auch etwas des Russischen
mächtig sein, damit eine Verständigung mit den Eingeborenen durch Ver-
dolmetschung des Herrn Dolbischew mir möglich gemacht werde. Ferner
traf General von \'urkowsky die Verfügung, dass im späteren Verlaufe meiner
Reise ein Mitglied des im Bakssantale, am Fusse des Elbruss ansässigen ein-
geborenen Feudalgeschlechtes Urusbiew, Hamsat Urusbiew, der etwas fran-
zösisch sprach, zu mir stossen sollte, um mich auf der Reise durch das
Gebiet seiner Stammesgenossen zu begleiten.
Nachdem auf diese Weise die grösste Schwierigkeit behoben war,
galt es, das Reisegepäck, das in Koffern und Kisten nach W'ladikawkas
DiK Reiseausrüstung.
transportiert wurde, auf eine den Beförderungsmitteln im Gebirge — Trag-
tiere oder Träger — angepassten Weise umzupacken. Was die Reiseaus-
rüstung betrifft, so hatte ich mich auf das Allernötigste beschränkt, soweit
dadurch die Reisezwecke selbst nicht gefährdet erschienen, da ich darin die
einzige Möglichkeit des Fortkommens im Hochgebirge erblickte. Da ich
damals noch keine Erfahrung auf Reisen im kaukasischen Hochgebirge hatte,
war ich in dieser Beziehung vielleicht ein wenig zu weit gegangen.
Den wichtigsten Bestandteil der Ausrüstung bildete ein kleines Zelt,
welches, von dem berühmten Anden- und Alpenreisenden Whymper konstruiert,
als Whymperzelt bekannt ist und mir schon wiederholt bei Bergreisen gedient
hatte. Es ist aus wasserdichter Segelleinwand dachähnlich gebaut und besitzt
einen, mit den Seitenwänden zusammenhängenden, Boden. Dies verhindert
in hohem Masse das Eindringen von Nässe und schützt auch gegen Kälte.
Die vorn und hinten in Verwendung kommenden Zeltstangen werden in
der Mitte au.seinander genommen, wodurch sie im Hochgebirge, insbesondere
bei Begehung von Felswänden, leichter transportiert werden können. Das
Zelt wird mittels Schnüren an in den Boden getriebenen Pflöcken befestigt
und widersteht dem heftigsten Sturme. Es hatte bequem Raum für zwei,
zur Not für drei Personen. Ueber den Zeltboden wurde noch eine Gummi-
decke gebreitet und an den Zeltvvänden befestigt ; ich hatte ausserdem eine
zusammenrollbare Korkmatratze, die ich in Calcutta erworben und die mir
schon im Himalaya gedient hatte. Ich benutzte ferner eine mit Pelz ge-
fütterte Decke, die in der unteren Hälfte die Form eines Sackes hatte.
Bei einem F"reilager wurde noch eine dünne Gummidecke darauf geknüpft.
Für die Führer gab es Wolldecken und einen gros.sen .Sack aus dickem
Kautschukstoff, der Raum für beide bot. Eine einfache Küchenbatterie, die
ich, meinen Bedürfnissen angepasst, mir anfertigen Hess, und die mir gleich-
falls schon im Himalaya gedient hatte, dazu eiserne Teetassen, Teller,
Löffel und Messer, war so eingerichtet, dass alle Teile ineinander und in
den grössten Kochtopf passten, über den dann der Deckel geschnallt wurde.
An Provisionen wurde nur das Allernötigste mitgenommen. Erbs-
wurstsuppen, einige Büchsen Konservenguljasch, Potted Meats, Sardinen,
Liebigschen Fleischextrakt hatte ich mitgebracht. I3en Mangel eines grösseren
Vorrates an Konserven sollten wir aber im X'erlaufe der Reise noch bitter
empfinden. Tee, Zucker, Salz, Kerzen, Streichhölzer, eine Flasche Sherry
und drei Flaschen Cognac — diese für äusserste Fälle bei grossen Berg-
besteigungen und als Medizin — , wurden in Wladikawkas gekauft. Eine
Menge anderer Gegenstände kamen noch hinzu : Laterne, zusammenlegbarer
VVlSSENSCHArrUCHE INSTKL.MENTE.
Wassereimer, Stricke zum Festbinden des Gepäcks auf den Sätteln der
Tragtiere, einige Werkzeuge, wie Holzhacke, Hammer, Stemmeisen, Bohrer,
Nägel, Nähzeug (Knöpfe und Bindfaden). Endlich waren verschiedene Kleinig-
keiten, wie Taschenspiegel, Messer, Kompasse (wichtig für Mohammedaner),
als Geschenke für die Bergbewohner bestimmt.
Zur Ausrüstung gehörten ferner die für Bergbesteigungen nötigen
Behelfe, wie Eisäxte (eine als Reserve), Gletscherseile aus bestem Manila-
hanf, Gletscherbrillen, Schuhnägel. An Waffen wurden zwei Revolver, eine
Kugelbüchse und Munition mitgenommen. Die Reiseapotheke war mit den
wichtigsten Mitteln und Verbandzeug gut au.sgestattet.
Die wissenschaftliche Ausrüstung bestand aus folgenden Instrumenten:
Zwei Aneroide von Casella und Goldschmid, Kochjiunktthermometer von
Casella, zur gelegentlichen Kontrolle der Ablesungen an den Aneroiden,
mehrere Thermometer, Maximum- und Minimumthermometer, Kompass
und Klinometer. Die Aneroide wurden vor und nach der Reise mit
dem Normalbarometer des k. u. meteorologischen Instituts in Budapest
und auch während der Reise in Wladikawkas und TiHis verglichen. Die
grösste Aufmerksamkeit wurde dem photographischen Apparate gewidmet,
insbesondere der Verpackung der Glasplatten, die ein grosses Gewicht in
der Reiseausrüstung repräsentierten. Kartenmaterial, einige Bücher, Schreib-
und Zeichenrequisiten, Notiz- und Skizzenbücher, sowohl für Notizen als
für Registrierung der photographischen Aufnahmen und der AI)lesungen der
Instrumente, ergänzten das Vorstehende. Dazu kam endlich unsere persön-
liche, allerdings auf das Allernötigste beschränkte Ausrüstung, Kleidung und
W'äsche, unter Berücksichtigung von hohen Biwaks und Wanderungen in
der Schneeregion.
Die ganze Ausrüstung wurde zum Teil in mitgebrachten Sattel-
säcken, zum Teil in kaukasischen .Säcken (Sumcha) und in Rucksäcken
verpackt. Die Sattelsäcke waren so eingerichtet, dass sie sowohl auf
Tragtiere geladen, als auch, in gleiche Hälften zerlegt, mittels zu diesem
Zwecke angebrachteiu Riemzeug von Trägern getragen werden konnten.
Manches habe ich in der vorstehenden Liste nicht aufgeführt. Nichts
aber wurde mitgenommen, was nicht entweder für uns persönlich oder für
meine Arbeiten unbedingt nötig gewesen wäre. Trotz grösster Umsicht in
der Zusammensetzung der Ausrüstung und weitgehendster Beschränkung,
war die Masse des Mitzunehmenden bedeutend angeschwollen, und das
Sortieren und Verpacken der meine Zimmer in Wladikawkas bis in allen
Ecken füllenden, auf Tischen, Stühlen, Kästen, Betten und am Boden
Der zentrale Kalkasls -— Kkiseceiuet.
liegenden Gegenstäntle erforderte eine, zwei Tage Ijis spiit in die Nacht
dauernde, nahezu ununterbrochene Arbeit, die ich allein verrichten musste.
Erschcipft und ermattet ging ich um 2 Uhr morgens des 20. Juli zur
Ruhe, nachdem die letzte Kiste geschlossen, der letzte Sack zugeriemt war,
und einige Stunden später, um 8 Uhr, verliessen wir Wladikawkas. Im ersten
Wagen fuhren Herr Dolbischew und ich; auf dem Kutschbock sass Burgener.
Die Instrumente und photographischen Apparate hatte ich bei mir im Wagen.
Eine zweite Telega — ein Karren, von dem noch später die Rede sein wird —
war mit dem Gepäck beladen; hoch auf demselben thronten Peter und der
uns begleitende Kosak. So fuhr ich denn endlich dem Gebirge, dem heiss
ersehnten Ziele zu, in Erwartung des kommenden, kühner Pläne voll.
Die Reise sollte sich im zentralen Kaukasus bewegen, in jenem
Teile des kaukasischen Gebirgssystems, in welchem dessen grossartige
Hochgebirgsnatur sich am mächtigsten entwickelt, seine höchsten Erhebungen
liegen und die Schneebedeckung und die Gletschererscheinungen ihre grösste
Ausdehnung erreichen. In grossen Zügen hatte ich einen Plan für meine
Reise in diesen Bergen entworfen. Zuerst wollte ich in jene Hochgebirgs-
gruppe dringen, welche im 4647 m hohen Adai-Choch- Gipfel kulminiert,
versuchen, denselben zu ersteigen und die Gletscher ihrer Nordabdachung
begehen. Auf einer Wanderung über eine Reihe von Hochpässen sollten
dann möglichst nahe \om Hauptkamme die gegen Westen einander folgenden
nördlichen Ouertäler besucht werden, insbesondere die Gletscher im Hinter-
grunde des Tscherek- und Besingi-Tales, und der Versuch gemacht werden,
den Koschtan-Tau genannten, 5000 m übersteigenden Hochgipfel zu bezwingen.
Im Bakssan-Tale, am Fusse des Elbru.ss angelangt, nahm die Ersteigung
dieses höchsten kaukasischen Gipfels die erste Stelle im Reiseprogramm ein.
Ueber einen von Reisenden noch nicht betretenen Gletscherpass sollte dann
die Hauptkette des Kaukasus nach Süden überschritten werden, um das
parallel mit dem Hauptkamm streichende swanetische Hochtal des Ingur zu
erreichen. Auch dort sollte die Ersteigung eines Hochgipfels versucht werden
und dann die Rückkehr über den Latpari-Pass in das Rion-Tal erfolgen.
Die Reisezeit im Hochgebirge ist kurz bemessen, nur die Sommer-
monate sind benutzbar, ein früher Schneefall kürzt oft auch diese wenigen
zur Verfügung stehenden Wochen. Die lange Reise nach Kaukasien hatte
zehn Tage gekostet ; mit den Reisevorbereitungen war viel kostbare Zeit
verstrichen, und zagend fragte ich mich, wie viel von diesem Reiseprogramm
ein gütiges Geschick mir wohl gestatten werde, zur Ausführung zu bringen.
Düchy: Kaukasus. 2
Kaukasiiskette (Kasbek ijruppe") aus der Te rekebene.
II KAPITEL.
Von Wladikawkas in die Gruppe des Adai-Choch.
Wie vii^chirden aiuli (iic- Anlorderuiiijeii sind,
welche die Forschuiiij an den Geographen stellt,
überall tritt ein Problem in den Vordergrund,
das nur ihn aiifjeht; das ist die Erdoberfläche.':
AllMecht Penck: Die Physioffrapliie.
Als wir am Morgen des 20. Juli über die gewellte Tereksteppe
fuhren, war das Ardontal und die im Hintergrunde desselben aufragende
Gruppe des Adai-Choch '■') unser Ziel. Tertiärablagerungen, von machtigen
(juartären Sedimenten bedeckt, bilden den Boden des im Talbecken von
Wladikawkas bis an den Fuss der Vorberge sich ausdehnenden Flachlandes.
Die weite Ebene ist ohne Baum und Strauch, von verdorrtem Graswuchs
bedeckt. Die vereinzelten niedrigen Erdhügel auf ihr sintl Kurgane, Grab-
stätten längst verschwundener \'ölkerschaften.
Im Dorfe Archonskaja, einer russischen Ansiedlung, wechselten wir
zum erstenmale Pferde und Wagen. Wir fahren auf der landesüblichen
Telega, einem auf vier Rädern und denselben aufgesetzten Stangen ruhenden,
muschelförmigen Holzkasten. Der Wagen hat keine Federn und auch
keinen Sitz. Die Stelle desselben vertritt ein Bündel Stroh oder Heu. Oft
*) Choch im Oäsetischen gleich Gipfel.
UI':i;i:r dtk Teri'.kstepi'e.
wird in Sitzeshühe ein Strick in vielfacher V^ersclilingung- angebracht, unter-
halb und oberhalb dieses Strickgewebes, »Pereplioth genannt, wird Heu
oder Stroh gelegt und tlarüber eventuell eine bilzdecke ausgebreitet. Es
verhindert dieser Pereplioth durchaus nicht, dass der Reisende unbarmherzig
gerüttelt und gestossen wird, aber die Beständigkeit des mit Stroh her-
gestellten Sitzes wird ein wenig \erlängert. Man gerät eben nur später in
eine Lage, die kein Sitzen mehr ist. Die Telega, die zwei Personen Raum
bietet, ist unbedeckt, der Reisende daher den Unbilden des Wetters voll-
kommen preisgegeben. Die Pferde werden nach russischer Art zu dreien,
Troika , dem Wagen vorgespannt. Das mitdere Pferd geht in einer
Gabeldeichsel und unter einem hohen, mit Glocken gezierten hölzernen Joch,
Duga genannt. Die zumeist guten Pferde werden rasch getrieben, oft die
ganze Strecke im Galopp.
Nach dem Verlassen von Archonskaja wurde der dem Terek zu-
fliessende Arclon auf einer hölzernen Brücke übersetzt. Die trüben Wasser
schiessen in breitem Bette dahin, stellenweise die niedrigen Ufer überflutend.
Der Fluss verdient seinen Namen, welcher in der Sprache des von Ossen
bewohnten Gebietes, welches er durchströmt, -wütendes Wasser« bedeutet.
In Ardonskaja, einer andern russischen Ansiedlung, machten wir Mittags-
station. Das uns hier in Aussicht gestellte Mittagessen war jedoch nirgends
aufzutreiben.
Bald nachdem wir aus Ardonskaja gefahren waren, wurden wir zu
einem längeren Stillstande gezwungen, da die mit dem Gepäck, Peter und
dem Kosaken beladene Telega, welche meinem Wagen nachfahren sollte,
ausser Sicht gekommen war. Nachdem wir längere Zeit gewartet hatten,
ohne dass die Telega erschien wurde ich über den Verbleib des Gepäcks
um so besorgter, als ich wusste, dass Peter bei einem Unfälle sich nicht
verständlich machen konnte; ich schickte unsern Kutscher daher auf einem
der Wagenpferde nach Ardonskaja zurück. Es währte lange bis dieser
Bote zurückkehrte und folgendes meldete: Bald hinter Ardonskaja hatte
die Telega sich einfach in ihre einzelnen Bestandteile aufgelöst, und es
musste ein anderer Wagen herbeigeholt werden, auf den das Gepäck, das
glücklicherweise keinen Schaden genommen hatte, übergeladen wurde. All
dies hatte .selbstverständlich eine geraume Zeit in Anspruch genommen, und
wir waren glücklich, als endlich die Telega anlangte. So geringfügig solche
Unfälle erscheinen mögen, es sind dies Minuten unsäglicher Qual und Sorge,
die der Reisende durchmachen muss. Durch einen unglücklichen Sturz des
Wagens können Instrumente und Apparate zerschmettert und mit einem
Das NaciitijlartiI'.u i\ Ai.agir.
Schlage alle I loffnungen, die der Reisende infolge der sorgfältigsten Vor-
bereitungen für die Krfolge der Reise hegte, vernichtet werden. Die Apparate
und Instrumente, soweit als möglich auch alle photographischen Platten, ins-
besondere die schon exponierten, trachtete ich immer in meiner unmittel-
baren Nähe, unter meinen Augen zu haben.
Von Ardonskaja wandten wir uns in gerader Richtung, südlich, den
Bergen zu. Die Vegetation, welche sich kräftiger zu entwickeln beginnt,
belebt die Hintörniigkeit der Steppe. Zwischen den dichten Stipa-Büscheln
und blühenden Malven wiegen sich die lichtgrünen, hohen Thyrsagräser im
Winde. Auch eine kleine Waldoase erfreut das Auge. Das aus Laub-
hölzern bestehende kleine Wäldchen gilt bei den Eingeborenen als heiliger
Hain. Schon bei den alten Schriftstellern finden wir Mitteilungen, welche
auf einen Kultus der Wälder bei den im Altertum in Kaukasien sesshaften
Völkern schliessen lassen. Insbesondere bei den 0.ssen hat sich dieser
Kult bis auf den heutigen Tag erhalten. In mehreren dieser für heilig ge-
haltenen Haine, welche oft ausserhalb der Waldregionen liegen, werden
jährlich Feste gefeiert und bei diesen dann Opfertiere geschlachtet und
Gaben dargebracht, geschmaust und auch von dem selbstgebrauten Ossen-
bier tüchtig getrunken.
Dort, wo Talgehänge den Ardon zu umschlie.ssen beginnen, erreichen
wir unsere Nachtstation, die grosse Ortschaft Alagir. Der Ort liegt 625 m
hoch, inmitten von Obstgärten, und gewährt einen freundlichen Anblick.
Alagir ist der Sitz eines russischen Bezirksvorstehers — Pristav — ,
der jedoch bei unserer Ankunft abwesend war. Wir mussten daher selbst
für ein Unterkommen sorgen, das wir endlich in einem kleinen Hause eines
russischen Kolonisten fanden, der uns zwei leere Zimmer zur Verfügung
stellte. War schon durch das lange Suchen nach einem Nachtquartier viel
Zeit verloren gegangen, so war es späte Nacht, bis es mir gelang, die
Materialien für ein Abendessen zusammenzubringen. Selbstverständlich konnte
und durfte ich um keinen Preis unsere nur für das Hochgebirge bestimmten
Vorräte und Konserven schon hier, am P'usse des Gebirges, in bewohnter
Gegend angreifen. Jetzt war die Reihe an Burgener, seine Kochkunst zu
zeigen. ( )h, der köstliche Anblick, als ich Ale.xander zum erstenmale in
seiner gestrickten Wolljacke und mit Lagerkappe, welch letztere die Form
einer spitzen Zipfelmütze hatte, seines Amtes walten sah. Es wurden Hühner
bereitet. Peter assistierte. Unsere Küchenbatterie wurde hervorgesucht.
Ich deckte den Tisch, half auch sonst mit ; musste auch noch die Aneroide
und Thermometer ablesen.
— 20 —
Die Geduldfrage im Kaukasus.
Unterdes war der Pristav angelangt. Nach \''orzeigung meiner offenen
Order erklärte er, dass es schwierig sein dürfte, zwei Telegen für den
nächsten Tag zu beschaffen, da wohl zwei solche Karren in Alagir vorhanden
seien, einer der beiden jedoch in total unbrauchbarem Zustande sich befinde
und der andere gleichfalls einer Reparatur bedürftig sei. Bis zu Mittag
glaubte jedoch der Pristav, wäre es möglich, einen Wagen reisetüchtig zu
machen, das Gepäck dagegen luüsste auf Tragtiere geladen werden und
würde dann einen Tag später in St. Nicolai, unserm nächsten Nachtquartier,
eintreffen.
Diese Mitteilung machte auf mich einen fast niederschmetternden
Eindruck. Nach mehreren Tagen schlechten Wetters wiesen alle Anzeichen
auf eine Besserung hin, und diese ersten schönen Tage sollte ich, gleich
am Beginne unserer Reise, nutzlos mit dem Zuwarten auf das Gepäck ver-
bringen ! Nein ! Ich bestand mit grösstem Nachdruck darauf, dass beide
Wagen sofort instand gesetzt würden und sollte auch die ganze Nacht
daran gearbeitet werden. Ich ging selbst noch, die Wagen zu besichtigen, und
ruhte nicht eher, als bis ich vom Pristav die Versicherung erhielt, dass um
5 Uhr morgens die beiden Wagen und die benötigten sechs Pferde bei-
gestellt sein würden. Ich kann nicht sagen, dass ich vollkommen beruhigt
war, mehr konnte ich aber nicht tun. Nur eins war mir klar: der Mann
schien mein Drängen absolut nicht begreifen zu können. Ist es nicht gleich-
gültig, ob man einen Tag früher oder später nach St. Nicolai im Ardontale
(unserm nächsten Nachtquartiere) kommt" Das war sein wiederholter, fragen-
der Ausruf. Ich kannte noch nicht Kaukasien, ich hatte es noch nicht er-
fahren, dass nicht nur bei den Eingeborenen, sondern mehr oder weniger
auch bei den Russen dort der Wert der Zeit ein unbekannter Begriff ist,
ich wusste noch nicht, dass auf einer Reise im Kaukasus vor allen Dingen
das nötig ist, was wir Geduld ^ nennen, viel Geduld und Geduld vor allem!
Erst nachdem ich die Wagenfrage erledigt hatte, kehrte ich in unser
Nachtquartier zurück. Mit einem Teile der Ausrüstung hatten wir uns teils
auf der Diele, teils auf einer Bretterbank das Lager bereitet, indes ich
Herrn Dolbischew ein bettähnliches Holzgestell überliess. Es war wieder
spät geworden, nahezu Mitternacht, bis wir zur Ruhe kamen und das harte
Lager aufsuchen konnten.
Schon um 4 Uhr morgens war ich wach. Es wurde ein Morgentee
bereitet, rasch eingepackt und der Kosak abgeschickt, um nach den Telegas
zu sehen. Läng.st war 5 Uhr vorüber, aber noch kein Wagen war er-
schienen. Nun Hess ich mich selbst nach dem Standplatz der Wagen ge-
— 21 —
VOROEBIRGSLANDSCHAFT.
leiten. \^erlasseii und einsam lagen dort die Bestandteile zweier Telegen
auf dem Boden. Es bedurfte der grössten Energie von meiner Seite, viel-
leicht auch etwas Rücksichtslosigkeit, mit der ich den Pristav aus seiner
Morgenruhe stören Hess, um flott zu werden. Es waren die Erfahrungen,
welche ich an diesem ersten Tage unserer Reise im Gebirge gemacht hatte,
keine ermutigenden. Um 7 Uhr rollten unsere beiden Telegen aus den
Mauern Alagirs.*)
Es war ein lieblicher Morgen, als wir in die Berge fuhren, und in
der ersten freudigen Erregung des Betrachtens der sich entfaltenden
Schönheit der Landschaft vergass ich für einige Zeit das unbarmherzige
Rütteln des Teleea «jenannten Marterinstrumentes.
N a c h a s - Schlucht.
Es ist eine offene Landschaft, dvirch die man in südlicher Richtung
zwischen einzelnen Linden- und Erlenbeständen sich den in sanften Linien
verlaufenden, dicht bewaldeten Vorbergen nähert. Etwa 9 km von Alagir
tritt der Ardon aus der engen Nachas-.Schlucht. Zur Linken bilden bewaldete
Hänge mit üppig wuchernder Vegetation, zur Rechten pittoreske Felsausläufer
das Defile. Am rechten Talgehänge zieht die Strasse. In der Tiefe tost
der Bach. Blauer Schattendunst liegt in der dunkeln Enge, nur das
schäumende Wasser vergolden schräg auffallende Sonnenstrahlen. Nahezu
*) Unmittelbar hinter Alagir befand sich damals ein ärarisches Hüttenwerk, ein von
Türmen flankiertes, festungähnliches Gebäude, in welchem die aus dem Ssadoner Bergwerke hierher-
gebrachten silberhaltigen Bleierze verschmohen werden. In den letzten Jahren ist der Betrieb des
Bergbaues im Ardontale einer belgischen Gesellschaft übertragen worden, welche ihn in intensivster
Weise in Angriff nahm, grosse Werke anlegte und Strassen baute. — Auch in Alagir müssen die
Verhältnisse, insbesondere was Unterkunft betrifft, eine Veränderung zum Bessern erf.ihren haben.
22
Die Schluchten der nörtilichen Quertäi.er
Neuer ossetischer (irabstcin.
eine Stunde verfolgt man die Win-
dungen der sich später etwas erwei-
ternden Schlucht, und bevor man sie
verlässt, schieben sich die Seiten-
wände noch einmal zusammen, und
über denselben erscheinen die schneei-
gen Grate des dem Hauptkamme vor-
gelagerten latitudinalen Erhebungs-
zuges. Diese schluchtigen Engen,
in welchen die vom Hauptkamme
niederziehenden Bergströme dessen
nördliche Vorlagen durchbrechen, sind
charakteristisch für die Ouertäler des
zentralen Kaukasus.
Man konnte auf dem Wege zu-
erst mächtige Tuffe eines Biotit-
Andesits beobachten, welche bis zum
ersten aus SW. kommenden Seiten-
bache des Ardon reichten. Jenseit desselben tr'-Tt man bereits die lichtgelben
oder weissen mergeligen Kalksteine der oberen Kreide. Diese unterteufend
folgen die grünen Sandsteine der mittleren Kreide, in welchen Kalkbänke
voll mit Bruchstücken von Versteinerungen eingelagert sind. Südlich des in
den Ardon fallenden Tamiskbaches
gelangt man abermals in das Ge-
biet der dem Neocom, der unteren
Kreide angehörenden Kalksteine.
Diese Komplexe der mittleren und
unteren Kreide bilden im zentralen
Kaukasus, an dessen Nordseite,
einen orographisch gut markierten
Wall, welcher der Jurakette und
dem Hauptkamme parallel läuft
und in allen Ouertälern zwischen
Kreide und Jura eine sofort er-
kennbare Grenze bildet.
Wir kommen in ein erweiter-
tes Talbecken. Der Waldreichtum
der Vorberge ist verschwunden. Alte ossetische Grabsteine.
WaCHTTCRME l-NO ALTE BEFESTIGUNGEN.
Nur hier und da stehen zerstreut an den Hängen Buche und Birke oder
nistet an felsigen Klüften lichtes Gebüsch, sonst fallen die reich geglie-
derten Grate, nackt und mit lebhaft gefärbten Schiefern zum Bachufer.
Ossetische Grabsteine stehen an der Strasse. Auf der Höhe einer vor-
springenden Felswand kleben einige elende Steinhütten des Weilers Bis.
Auf einer Zacke der Felsklippen stehen die Ruinen einer verfallenen Wacht,
eines Turmes, Zeugen verflossener Kriegszeiten, wie man solchen in den
Tälern des Kaukasus oft begegnet.
Diesem fast ebenen Talbecken folgt wieder eine enge Schlucht. Die
Kalkwände treten so nahe aneinander, dass kaum Raum für Strasse und
Bach bleibt. Aus dieser Enge tretend, machten wir bei einer einsamen
Steinhütte Mittagrast (965 m A. D.). Wir waren nicht die einzigen Reisenden;
Ossen zu Pferde, in der malerischen Tracht der Kaukasier, lagerten vor
dem Hause; schwer beladene, zweiräderige Karren, von Ochsen gezogen,
rollten vorbei. Der Bach ist hier überbrückt, und Pfade führen im Zickzack
an den steilen Berghängen empor, auf welchen das Grün mehrerer Korn-
felder sichtbar ist.
Das Tal, welches bis hierher streng südlich und als typisches
Ouertal senkrecht auf die Achse des Hauptkammes zog, schlägt nun eine
westliche Richtung ein ; es verengt sich wieder, und wo die Felswände sich
nähern und an den Bach herantreten, sind die Reste einer torähnlichen
Ummauerung sichtbar, die »Batsche Pforte«, mit welcher in längstvergangenen
Zeiten (angeblich von den Genuesen.^) der Zugang ins Ardontal vom Norden
geschlossen wurde. Auf einer etwa 10 km langen -Strecke fliesst der Ardon
durch das enge Tal in seinem zwischen schwarzen Schiefern vertieften Bett,
parallel mit der unmittelbar im Norden steil aufragenden und bizarr geformten
Jurakalkkette, indes vom Süden die Ausläufer der granitischen Hauptkette
herantreten. Vor dem PZinfallen des aus dem Westen kommenden Ssadon-
baches stösst man auf verwitterte Protogin-Gneise, welche das Liegende
der Schieferformation bilden. Dieser Protogin- Gneis reicht bis zur Ver-
einigung der beiden Gewässer. Nun wendet sich das Ardontal wieder
gegen Süden. Bald war die Gneis -Zone verquert, und man gelangt
abermals in die dunkeln Tonschiefer. Diese zweite, südlichere Schieferzone
i.st kaum breiter als 2 km und endet schon einige Schritte südlich des
Aul*) Nusal. Die armselige Hüttengruppe, welche dieses Dorf bildet, liegt
in 1108 m (B. D.) Seehöhe. An der südöstlichen, nahezu senkrecht
*) Aul ist die einheimische Bezeichnung für Dorf.
— 24 —
LÄRM PER EiNGEBOREXEX BEIM UMLADEN DES GEI'ÄCKS.
abfallenden Talwand sind in der Höhe die Ummauerungsreste in den Fels
o-ehöhlter, uralter, verlassener Wohnstätten zu erkennen.
In Nusal hörte der Fahrweg auf, über den wir auch bis hierher nur
mit Not, meist zu lüiss wandernd, das Gefährt gebracht hatten. Es war
keine leichte Arbeit, das Gepäck jetzt auf die durch vorausgesandte Boten
hierher beorderten Tragtiere
zu laden. Ich sollte zum
erstenmale Zeuge der lär-
menden Auftritte sein, welche
sich bei solchen Gelegen-
heiten im kaukasischen Ge-
birge immer abspielen, der
Streitigkeiten zwischen den
Eingeborenen, welche durch
die Verteilung des Gepäcks
entstehen, indem jeder für
sein Pferd die leichteste und
am bequemsten aufzuladende
Last zu erhalten wünscht.
Die Leute hatten nichts mit-
gebracht, um das Gepäck auf
den Packsätteln zu befestigen.
Zum Glück hatte ich vorsorg-
lich einige Stricke mitge-
nommen. Jeder V'ersuch, die
Leute dazu zu bewegen,
die Stricke bei jenen Ge-
päckstücken , welche Ringe
oder Oesen hatten, durch
diese zu ziehen und auf diese
Weise sicherer und bequemer
zu befestigen, stiess auf Widerstand. Die Stricke liefen aussen um Gepäck
und Pferd und wurden so verschnürt. Oft war es schwierig, das Gewicht
des Gepäcks auf beide Seiten des Pferdes gleichmässig zu verteilen und,
kaum aufgebrochen, rutschte an der ersten steilen Stelle das Gepäck nach
der schwereren Seite; es musste abgeladen und neu aufgeladen werden.
Endlos waren oft die dadurch verursachten Aufenthalte, die den vorwärts
strebenden Reisenden zur Verzweiflune bring-en können.
Nusal -Schlucht.
DiK Taiavkituxg von St. Nicolai.
Hinter Nusal stürmt der Ardon wieder aus einer Enge. Die Schiefer-
formation endigt hier, und jetzt sind es prächtige Klippen aus Gneis und
Gneisgranit, welche das brausende Wasser durchschneidet. Die Schnee-
felder und scharfen Gipfel der Kaltber- Kette erscheinen im Vorblick über
den steilen Talwänden, welche stellenweise mit Gebüsch und Nadelwald
bekleidet sind. Die .Schlucht — die schönste und wildeste der bis jetzt
passierten — ist kurz und mündet in die Talweitung von St. Nicolai. Man
ist hier auf einer zwei Stufen bildenden Terrasse, von den Bergwänden
kesseiförmig umschlossen, in einer Höhe von 1142 m. Grünende Matten
und Felstrümmer bedecken die kleine, aus P'lussschotter bestehende Tal-
fläche. Schöne Kieferwaldungen erfreuen das Auge. Aus einem -Seitental
im Westen stürmen die trüben Wasser der gletschergeboreneii Zeja.
St. Nicolai besteht aus einem einsamen Gehöfte, in welchem ein
grösseres Haus und zwei kleinere Nebenbaulichkeiten liegen. Die Gebäude
gehören der Regierung und dienten den Ingenieuren und der Bedeckungs-
mannschaft zur Zeit des Baues der Strasse über den Mamisson-Pass zum
Aufenthalt.') Das grössere Haus enthält mehrere geräumige Zimmer nu't
gedieltem Boden, in welchen einige einfache Möbel sich befinden. Ein Auf-
seher besitzt die Schlüssel und öffnet das Haus den mit Regierungspapieren
versehenen Reisenden. Es ist hier im Ardontale ein Standquartier geboten,
wie ein solches im zentralen Kaukasus nicht mehr zu finden ist. Da es
unmöglich war, noch heute weiter zu konunen, obgleich ich es an einem
Versuche hierzu nicht fehlen Hess, richteten wir uns häuslich ein. Den
Dorfältesten von Nusal, die nach Nicolai gekommen waren, gab ich den
.strengsten Auftrag, dass die für den nächsten Tag benötigten Lastpferde
sowie die Träger sich noch am Abend in St. Nicolai einzufinden hätten, um
am Morgen eines frühen Aufbruchs sicher zu sein.
Am 22. Juli, 7 Uhr morgens, verliessen wir St. Nicolai. Den grössten
Teil des Gepäckes hatten wir zurückgelassen, was wir mitnahmen, Zelt,
Decken, Schlafsäcke, Küchenbatterie und Provisionen für einige Tage, wurde
auf zwei Pferde geladen. Die histrumente, der photographische Apparat
und Glasplatten wurden getragen. Unsere Gesellschaft marschierte zu P'uss
und bestand ausser uns noch aus vier Trägern, also zusanunen eine
Karawane \on acht Mann und zwei Pferden.
■••) Der Weg — die ossetische HeersIrasse — , welche als Fahrstrasse projektiert wurde,
jedoch in ihren oberen Teilen, sowohl nördlich als südlich des Ueberganges über den Mamisson-
Pass, nur als Saumpfad benutzbar ist, führt aus dem Ardontale nach dem Riontale im Süden,
nach Oni und hinaus nach Kutais.
— 26 —
Adai-Choch vom Zeua-Tal
Durch das Tai. der Zeja.
Nur wenige Schritte bringen vom Kronshause zur Brücke, welche über
den Ardon führt, und bald darauf überschreitet man den Zeja-Bach und tritt
in das Tal, aus welchem derselbe strömt. Das Zeja-Tal beginnt an der
Schnee- und firnbedeckten nördlichen Abdachung des Adai-Choch- Massivs,
und dasselbe verfolgend, wollten wir uns seiner eisigen Hochregion nähern.
Nachdem man im engen, an seinem schluchtigen Ausgange von Glazial-
diluvium erfüllten Tale eine halbe Stunde gewandert ist, bringt eine Brücke
in 1427 m (A. D.) Höhe an die Talwand. Durch schattigen Buchenwald
windet sich der scharf ansteigende Pfad. Immer tiefer sinken die von
dichtem Laubwalde erfüllten schluchtigen Talgründe, durch die stellenweise
der schäumende Bach hervorblinkt. An einer vorspringenden Ecke erscheint
der eisige Hintergrund des Zejatales, von dunkelgrünem Waldgehänge und
dem Geäste prächtiger Laubhölzer eingerahmt. Abat-Choch rufen die Ein-
geborenen und weisen auf das Schneegebirge: Ueber einen Zug eis-
bepanzerter Steilmauern, die ein zerrissener, abbrechender Gletscher um-
gürtet, erhebt sich, alles beherrschend, ein blendend weisser Eirngipfel;
gegen Südwesten stürzt derselbe in schneedurchfurchten Felswänden ab; die
gegen Norden gerichtete Breitseite ist in makellosen Firn gehüllt und
scharfe Eisschneiden ziehen zum Gipfelfirst empor. — Es ist Adai-Choch,
der 4647 m hohe Kulminationspunkt der gleichnamigen Berggruppe.
Bald darauf gelangt man zu den armseligen Hütten des Aul Zei,
die — in einer Höhe von 1 700 m — auf einer Längsterrasse der
nördlichen Talwand liegen, welche steil zu dem in tiefer Erosions-
schlucht brausenden Bach abfällt. Der Blick auf den Talschluss hat
sich geweitet. Die vom Kaltberkamm ausstrahlenden, in der Höhe schnee-
bedeckten Gratzüge und die vom Norden niederziehenden Felshänge
umschlie.s.sen die Talschlucht, in welcher das Eis eines mächtigen Gletschers
an den Waldessaum grenzt. Zwischen nackten, schneegefurchten Stein-
mauern dringt ruhig der lange Strom des Zeigletschers nieder. Lichte
Wolken haben sich am Horizonte gesammelt und umwogen die den Gletscher
überragende Gipfelkette, ohne ihrer Schönheit zu schaden. Der eisige
Hintergrund des Tales mit dem mächtigen Gletscherstrom, der bewaldete
Rahmen desselben, die auf der Zei -Terrasse sich ausdehnenden Wiesen
und Gerstenfelder mit den zerstreut liegenden Hüttengruppen zaubern ein
Hochgebirgsbild aus den Alpen vor das entzückte Auge des W^anderers.
Bei un.serer Ankunft waren die Dorfbewohner — Männer, Frauen
und Kinder — von allen Seiten herbeigeeilt, um das ungewohnte Schau-
.spiel unseres Einzuges anzustaunen. Die Leute waren nicht so lästig und
— 27 —
RlIÜDODEXDROX CAUCASICUM.
zudringlich, wie wir es später oft in andern Tälern des Kaukasus erdulden
mussten. Die Männer waren in ihrem Benehmen eher zurückhaltend und
sahen ziemlich gedrückt untl elend aus. Das Dorf muss sehr arm sein, und
es schien uns, als ob die Not sich in den Zügen der abgehärmt aussehenden
Menschen abspiegelte. Wir hatten beabsichtigt, bei diesen Hüttengruppen,
welche die einzige Ortschaft des Tales bilden, einige Lebensmittel zu kaufen,
es war jedoch absolut nichts erhältlich, und auch die Schafe waren auf den
hoher im Gebirge gelegenen Weideplätzen. Rasch war der Mandel um
zwei Schafe abgeschlossen, ein
Mann wurde abgesandt, sie zu
holen, und der uns begleitende
Kosak wurde im Aul zurück-
gelassen, um abends mit den
Schafen zu folgen.
Nach steilem Abstiege an
zwei zerfallenden, viereckigen
Steintürmen vorbei, waren wir
wieder am Bachufer. Dichter
Wald umsteht die Matten,
welche einen duftenden, farben-
reichen Blumenflor von weissen
Rhododendron, blühenden Aza-
leen, wilden Rosen und andern
hohen Gräsern und gross-
blättrigen Kräutern trugen.''')
Rhododendron Caucasicum ist
die eigentliche Alpenrose des
Kaukasus. Oft bedeckt weite
Strecken des Gehänges bis in
die hochalpine Region das derbe, glatte Geäste mit den dunkelgrünen, matt
glänzenden, lederdicken Blättern, und den hochgeschwollenen Knospen ent-
spriesst eine Pülle weisser, oft gelblich angehauchter herrlicher Blüten.
Zwischen Felsblöcken gelagert, von mächtigen Buchen beschattet, hielten
wir unsere erste Rast Bald flackerte helles Feuer, und die erste Suppe
im Gebirge wurde gekocht. Die würzige Waldluft war \on belebender
Frische und doch angenehm warm, das Rasenpofster weich, und .Stunde
■•'•■) Anthemis rigescens MB., Azalea pontica L., Diaiithus Carthusianorum L., f. Caucasicus
Kupr., Echium rubrum Jacq., Nonnea rosea MB., Rosa glutinosa S. et L. u. a.
Die K.iranane zieht durch Dorf Zei.
28
Ein ossETi.sciiKs hkh.iütl m; du'. Kai'I.i.i.k 1\i:k(im.
um Stunde verrann im seligen Träumen. Das waren herrliche Augenblicke,
voll der Poesie eines freien Wanderlebens!
Beinahe 3 Uhr war es geworden, als wir wieder weiter zogen.
Stetig erhebt sich jetzt die Talsohle. Auf ebenem Wiesenplan, von Wald
umgeben, dessen reiche Blätterkronen geheimnisvoll rauschen, steht ein
ossetisches Meiligtum, tlie Kaijelle Rekom, eine 1 lolzhütte, mit vom Alter
und Wetter gebleichten Hörnern und Schädeln des kaukasischen Steinbocks
und der Gemse geschmückt. In Haufen liegen Steinbockhörner mit anderm
Kram, Metallplätlchen, Glöckchen, alten Pfeilspitzen vermischt, vor der
Hütte. Es ist ein Wallfahrtsort der Ossen, und einmal im Jahre wird hier
ein grosses Fest gefeiert, Gebete verrichtet. Opfergaben gespendet und
dabei reichlich gegessen und getrunken.
In mächtigem Felsabsturze tritt die rechte Talwand vor und erinnert
an den Abfall der Mauern des Wellhorns, von Rosenlaui gesehen. Hinter
ihr erscheinen Gletschermassen, welche an den zirkustörmigen Wänden
niedergleiten und hoch über der Talsohle endigen (3300 m). Den Gletscher
nannte ich nach der Kapelle Rekom-Gletscher.*) Weit vorgeschobene Moränen
zeigen, dass der Gletscher einst viel tiefer reichte und sich mit dem das
Tal erfüllenden Zeigletscher vereinigt hatte.
Nun wandert man durch dichten Fichtenwald, dessen prächtige,
schlank aufschiessende Stämme sich schon früher, von den Talhängen
niederziehend, zwischen die Laubhölzer gemischt hatten. Später bleibt der
Wald zurück, mächtiges Gerolle bedeckt den Boden, und etwa 10 km vom
Aul Zei ist der Fuss des Zeigletschers erreicht.
Die Wanderung durch das Zejatal hatte uns von St. Nicolai bis zum
Aul Zei durch Gneisgranite geführt, und nur beim Aul Zei findet man
dünnschiefrigen Glimmerschiefer anstehend ; talaufwärts bis zum Gletscher
bilden Granite das vorherrschende Gestein.
Der Zei-Gletscher erfüllt die ganze Breite des Tales, die etwa 300 m
betragen dürfte, und bricht in schmutzigen, hohen Fiswänden ab. Nahezu
die ganze, dem Gletscher vorliegende Fläche ist nu't alten Fndmoränen und
Geröll bedeckt, durch welches sich die einem niedrigen Gletschertor ent-
strömenden, brausenden Wasser winden. Der Gletscher gehört zu den
bedeutendsten des zentralen Kaukasus : er bedeckt mit seinem Firn-
gebiet eine Fläche von etwa 21 qkm und besitzt eine Länge von 9,50 km.
*) Für diesen Gletscher wurde in den letzten Jahren auch die Bezeichnung Kaltber-Gletscher
oder auch Skas-Gletscher gebraucht.
Dkr ZKi-Gi.irisniEK.
Die ("jletscherzuiig-e eiulete bei 2060 ni. Alles weist auf einen Rückgang
des Gletschers hin ; Glctscherschliffe an den 'lalwänden in einem viel höheren
Niveau, als der jetzige Stand des Gletschers, die denselben überragenden,
stellenweise durch Moränen - Anhäufungen jüngeren Datums getrennten
Seitenmoränen und die weit vorgeschobenen Endmoränen.
Nahe vom Gletscherende, wo sich zu unserer Rechten am Fusse der
seitlichen Gehänge auf dem geröllbesäten Boden etwas Vegetation kümmer-
lich fortbringt und einige niedrige und verkrüppelte Bäume sich vorgewagt
haben, schlugen wir unser Lager auf Das erste Zeldager in den Bergen
des Kaukasus !
Zunge des Z ei- Gletschers mit Gletschertor.
Da jetzt die Lagerausrüstung zur Verwendung kam, die Zelte auf-
geschlagen wurden, musste ich diese Arbeiten leiten. Den Ossen wurde
befohlen, Holz und Wasser zu bringen, und während ich Aneroide und
Thermometer ablas, baute sich Burgener mit Steinen einen Kochherd.
Früher, als ich erwartet hatte, kam der Kosak mit den Schafen. Mit
überraschender Geschicklichkeit und Schnelligkeit schlachteten die Kaukasier
eines derselben und weideten es aus. Bald brodelte in einem Kessel die
Suppe. Auf langen Holzspiessen wurden dünn geschnittene Scheiben Hammel-
fleisch und Leber aufgereiht und am offenen P'euer gebraten — das Schaschlik
der Kaukasier. Man Hess es sich schmecken. Zum Schlüsse kam der in
Russland — und auch im Kaukasus — unerlässliche Tee, dessen anregende
und wärmende Wirkung wir noch oft im kalten Biwak oder nach einem
streneen Marsche würdigen sollten.
Das kkstk Zki.ti.ackr im Kaikasis.
]\s war tiell' Nacht L;e\v(>rden. Noch musstcn die photoL^raphisi lu:n
C'ilasplatten gewechselt werden. Man kennt jetzt, da die Photographie in die
weitesten Kreise gedrungen ist, diese Arbeit und halt sie — wenn man nicht
nur mit auch im TagesHcht auszuwechsehiden Rollfihiis (die neueren Datums
sind), arbeitet und beim schwachen Lichte der roten Lampe hantieren
muss — selbst in der Dunkelkammer oder abends am Tische des Hotel-
zimmers sitzend, — ■ für keine angenehme. Nun bedenke man, dass diese
Arbeit, zusammengekauert, zwischen Schlafsäcken, Matratzen und Decken,
im niedrigen Zelte, wo weder für Lampe noch für Kassetten und Platten eine
Tischfläche zu haben war, und wo es keinen Sitzplatz gab, ausgeführt
werden musste. Ausserdem war es nötig, die Glasplatten vor und nach
der Exposition auf das sorgfältigste zu verpacken, um dieselben vor Licht
und Feuchtigkeit und bei dem schwierigen Transport vor Bruch zu schützen.
Eine genaue Registrierung der gemachten Aufnahmen war gleichfalls uner-
lässHch. Man musste immer den Eintritt völliger Dunkelheit abwarten und
Sorge tragen, dass nicht eventuell durch das Zelt dringendes Mondlicht oder
die Helle des Lagerfeuers die Resultate gefährde. Oft musste ich das
Wechseln der Platten nach schwerem Tagewerk, gegen Müdigkeit und Schlaf
ankämpfend, ausführen, denn diese Arbeit duldete keinen Aufschub, wenn
man am folgenden Tage sich nicht der Möglichkeit berauben wollte, Auf-
nahmen zu machen, und in diesen lag ein Hauptergebnis meiner Reisen.
Endlich war die Arbeit, zum erstenmale auch die schwerste, be-
endigt. Ich trat vor das Zelt. In ihre Burkas — aus kaukasischen, lang-
haarigen, filzarticren Loden verfertigte Mäntel — oehüllt, lagen die Berg-
bewohner und Herr Dolbischew am glimmenden Feuer. In unklaren Um-
rissen erschien das Gletschertal. Der Himmel war klar, von Sternen besät.
Die Luft war ruhig. Alles Hess für morgen einen schönen Tag erwarten.
Bald herrschte tiefe Stille rings herum; nur die Gletscherwasser rauschten in
gleichen Harmonien fort und fort.
Hintergrund des Zeja-Tales \on den Hütten des Dorfes Zei.
III. KAPITEL.
Die Ersteigung des Adai-Choch.
l.tur liopes like toweriuo; falcons aiiu
At objects in an airy liigLt.
Der Morgen des 23. Juli brach in strahlender Klarheit heran. Unsere
Absicht war ursprüngHch, eine Exkursion in das P'irngebiet des Zeigletschers
auszuführen und dann eine der umliegenden niedrigeren Höhen zu ersteigen,
um einen Einblick in die Konfiguration der Gruppe zu erhalten und die
Anstiegsrichtung auf den Adai-Choch zu rekognoszieren. Beim Anblick des
klaren Himmels jedoch entschlossen wir uns rasch, statt mit kleineren
Touren zu beginnen, sofort die Ersteigung des höchsten Gipfels der Gruppe
in Angriff zu nehmen. Das Wetter war schon seit einigen Tagen prachtvoll
gewesen ; wir befürchteten einen Umschlag desselben, und bei der ohnehin
kurz bemessenen Reisezeit im Hochgebirge hätte uns lang andauerndes
schlechtes Wetter vielleicht gezwungen, uns andern Gebieten zuzuwenden.
Gerade das Eindringen aber in die von keines Menschen Fuss betretenen
Hochschneeregionen der Adai- Choch- Gruppe und die Ersteigung ihres
höchsten Gipfels, hatte für mich grosses Interesse. War einmal dieses
Unternehmen gelungen, so war für die Fortsetzung unserer Reise, die
Ueberschreitune der Pässe nach den weiter im Westen gelegenen ( )uer-
— 32 —
Adai- Choch
ArKiiRucii ZUR Rrstetcunc des AdaiCjkhii.
tälern, schönes Wetter weniger von ausschlaggebender Hedeutung. So
brachten es die Umstände mit sich, dass wir den Versuch zur Ersteigung
des Adai-Choch zu unserer ersten Wanderung, zu unserer ersten Tat im
Kaukasus machten.
Es wurde ein hohes Freilager in der l'irnregion des Zeigletschers
beabsichtigt, um dann am folgenden Tag die Ersteigung des Gipfels in
Angriff zu nehmen. Das mitzunehmende Gepäck wurde möglichst beschränkt.
Das Zelt wurde zurückgelassen, nicht nur der Last wegen, die einen Mann
\'egetatiuii (mit blühendem Rhododendron Caucasicum) am Zei - de tscher.
erfordert hätte, sondern weil voraussichtlich auch kein genügend grosser
ebener Platz zum Aufschlagen desselben gefunden worden wäre. Es wurden
daher nur die beiden Schlafsäcke, das Nötigste an Proviant und eine
kleine .Spiritusmaschine zur Bereitung von Tee mitgenommen. Unsere
persönliche Ausrüstung bestand aus warmen Handschuhen, Biwakmützen,
seidenen Halstüchern, Schneebrillen, Eispickel und Seil. Ausserdem wurden
der photographische Apparat und die mit Glasplatten gefüllten Kassetten,
Aneroid und Thermometer mitgenommen. Dies war so ziemlich alles,
machte aber immerhin eine genügende Last für die drei Eingeborenen aus,
V)Lchy: Kaukasus. 3
— 33 —
KKICIlh; X'KGETATIOX am GLETSCIlEKRANnE.
welche, solaiiL^c das Terrain leicht begehbar blieb, mit uns kommen sollten,
um Alexander und I'eter des Tragens zu entheben.
Um 7 Uhr Morgens verliessen wir das Lager. Wir folgten dem linken
(nörtllichen) Ufer des Gletschers. Stellenweise tritt hier das Talgehänge weit
\(»m (iletscher zuriirk, und auf dem einer günstigen Sonnenlage sich er-
freuenden Boden prangt eine reiche Vegetation, aus deren grünender Decke
ich mit Entzücken viele unserer geliebten Alpenpflanzen erkenne: Aster
alpinus, mit prächtigen rosa Blüten, die schönste Aster des Kaukasus, die
dunkelviolette Gentiana caucasia, Primeln, Saxifragen, Silenen und Rosen
— blühende Rosen am Gletscherrande.*)
Die Oberfläche des Zeigletschers ist höher oben nur wenig mit
Geröll bedeckt, und während unserer Wanderung längs der bald steinigen,
bald grasbedeckten Hänge seines Ufers und über Strecken seiner Seiten-
moränen hatten wir beständig Gelegenheit, die glänzende Reinheit und die
oft prächtig blaue Farbe des Eises zu bewundern. Die IN'eigung des unteren
Teiles des Gletschers ist sehr gering, dennoch ist seine Oberfläche durch
Ouerspalten stark zerklüftet, und kein Gletscher entspricht besser dem
Bilde eines bewegten Stromes, der in eisigen Wellen niederflutet, als dieser
untere Teil des Zeigletschers.
Nach einem etwa dreistündigen Marsche gelangt man zu jener
Stelle, wo die dunkelfarbigen Seitenwände des Gletschertales sich nähern.
Das zwischen dieselben gepresste Eis stürzt dort von der höheren Terrasse
des Gletschers über eine Steilstufe nieder, in unzählige Nadeln, Türme und
Zacken zerrissen und zersplittert.
Hier verliessen uns Herr Dolbischew und die Eingeborenen. Ich
hätte gern die Träger wenigstens bis auf den oberen Gletscherboden mitge-
nommen, von wo sie noch leicht bis abends zum Lager hätten zurückkehren
können. Die Eingeborenen aber, insbesondere die des Ardon-Tales, meiden
die sie schauerlich dünkende Eiswildnis. Um keinen Preis waren die Träger
zu bewegen, weiter mitzugehen. Ich bat noch Herrn Dolbischew, mir gegen
Abend des folgenden Tages die drei Träger mit Proviant entgegen-
zusenden. Wir wechselten zum Abschiede einen warmen Händedruck mit
•*) Alsine imbricata M. B. : Alchemilla serica Willd.; Anlhemis Bicbersteiniana Boiss.;
Aster alpinus L. forma alata; Astragalus alpinus L. : Azalea pontica L. ; Delphinium Caucasicum
C. A. M.; Erigeron caucasicus Stev.; Gentiana caucasica M. B. ; Geranium Ibericum Cavan.; Myositis
alpestris Schm.; Polygonuni alpinum AU.; Primula nivalis Fall.; Rhododendron Caucasicum Fall.;
Saxifraga Sibirica L.; Scrophularia Olympica Boiss.; Silene sa.xatilis Sims, forma caucasica; Veronica
gentianoides \'ahl. u. a.
In dkx SiiRACs des Zei-C'.i,etsciieks.
Herrn Dolbischew, und die Träger schienen uns in unverständlichen Worten
ein ossisches »Achtgeben« und »Glück auf« zuzurufen.
Wir betraten nicht sofort den Gletscher, sondern umkletterten zuerst
das Felsgehänge und gingen dann auf ein hartgefrorenes Schneefeld über,
welches zwischen Seracs und Felshängen steil niederzieht, und an welchem
wir in gehauenen Stufen emporstiegen. Von der gerade unter uns liegenden
Seitenmoräne gesehen, musste die Steilheit dieses Schneehanges viel
In den Seracs des Zei-Gletschers.
bedeutender erscheinen, als sie in Wirklichkeit war, und wie mir Herr
Dolbischew später erzählte, veranlasste unser Anstieg den Zurückgebliebenen,
die uns erstaunt nachblickten, manch bedenkliches Kopfschütteln.
Nach dem hohen Absatz des Eisfalles folgt eine ziemlich ebene
Terrasse des Gletschers, beinahe ohne Schneelage, welche zu einem zweiten,
kleineren Gletschersturze brachte, durch dessen Spaltengewirr wir uns den
Weg bahnen musstcn. Die Bergkette, welche die Umrandung des Gletscher-
beckens bildet, türmt sich hoch empor, in Formen wildester Grösse. Die
SciiwiKKKii': Uki;i:k\vini)1'xg kinks Eisfali.s.
Grate steigen in steilen W'iuulen auf, mit liis und Schnee beladen, und
enge Schneerinnen ziehen zwischen den nadeiförmigen Spitzen empor. Wo
immer die Neigung der Hänge einer grösseren Ansammlung von Schnee
und Firn zu ruhen gestattet, senken sich steile, zerrissene Hängegletscher
zum Zeigletscher. Der äussere Anblick im Aufbau der das Firnreservoir
des Gletschers umrandenden Kette, in ihren Formen von F"els und Eis,
erinnert lebhaft an die Aiguilles der Montblanc-Kette. In kurzer Entfernung
trat hierauf ein dritter Fisfall in Sicht, welcher, von steilen Felswänden
flankiert, in unbeschreiblicher Zerrissenheit niederstürzte. Während wir
unsern W^eg durch dieses Labyrinth von Spalten, zwischen Türmen, Nadeln
und Zacken erkämpften, wurde unsere Bewunderung immerwährend heraus-
gefordert durch die wunderbaren Formen und prächtigen Farbenspiele der
eisigen Umgebung.
Am Fusse einer Masse wilil durcheinander gestürzter Seracs mussten
wir uns durchwinden, um an einen Eiswall zu gelangen, dessen Höhe wir
erreichen wollten. Ueber uns hingen wankende Eisblöcke; zu unsern Füssen
öffneten sich tiefe Klüfte. Peter, der voran war, konnte selbst mit unserer
Unterstützung sich nicht an dem etwas überhängenden Eiswall emporhissen.
Es schien nach mehreren Versuchen keine Möglichkeit zu geben, unseren
Weg in einer andern Richtung über den Eisfall zu erzwingen, und Burgener
erklärte jedes weitere Verweilen in diesem eisigen Chaos für nutzlos und
gefährlich. Der Tag war schon vorgeschritten, die Sonne lockert das
Gefüge der eisigen Massen, die dann, oft ganze Eislawinen bildend, nieder-
stürzen. Nun verliessen wir das Eis, um die Felswände an der Seite des
Gletschers, zu unserer Rechten, anzugreifen. Durch ein Schneecouloir auf-
steigend, wollten wir dessen untere, nahezu .senkrechte Abstürze vermeiden,
dann oben die Felsen durchklettern und hofften so den Eisfall zu umgehen.
Aber hier wurden wir zum zweitenmale zurückgeschlagen. Nachdem wir
etwa 40 Meter in der Schneerinne aufgestiegen waren, wurde das weitere \"or-
dringen durch einen riesigen Block gehemmt, welcher von oben herabge-
stürzt war und sich in derselben eingeklemmt hatte. Ich war der erste im
Anstieg. Es war mir unmöglich, diesen Block zu erklimmen oder denselben
zu umgehen. Burgener band sich vom Seile los und machte einen Versuch,
die Klippen zur Linken zu erklettern, die dort in entsetzlicher Steile empor-
ziehen. Bald kam er ausser Sicht. Fallende Steine zeigten, dass er an
der Arbeit war. Gespannt warteten wir auf seine Rückkehr oder einen
ermunternden Zuruf Endlich erschien er mit der unwillkommenen Nachricht,
dass auch über diese steilabstürzenden Klippen keine Passage möglich sei.
FREILAGKR IX 3300 M Hc')HK.
Es blieb nichts übrig, als zu den Seracs zurückzukehren. Wir sahen
uns gezwungen, wieder den Eisbruch, die über tiefer Kluft aufsteigende Eis-
wand anzugreifen, welche wir früher als zu gefährlich verlassen hatten.
Zwang kennt kein Gesetz, und was die Theorie vielleicht verdammt, recht-
fertigt oft die Praxis. Jedenfalls beschlossen wir, zu sehen, was mit An-
wendung all jener Geschicklichkeit und Vorsicht, welche wir in vielen Jahren
alpiner Erfahrung erlernt und ausgeübt hatten, ausgerichtet werden könne.
Mit erneuter Energie griff Burgener die Eiswand an, hackte tiefe Stufen
und schwang sich dann auf die Kante derselben. Der Erfolg ward unser:
der Eisfall besiegt !
Der Gletscher hat die Nord-Süd-Richtung, welche sein unterer Teil
einhält, verlassen und wendet sich scharf gegen Westen. Vor uns zog
das weite Firnbecken in die Höhe. Es ist von langen, unter Schnee und
Eis begrabenen Graten unterbrochen, welche von den umgebenden Bergen
niederziehen. In der Ecke der Schneelandschaft erscheint jetzt über vor-
liegenden Firnwällen ein mächtiger Gipfel. Es ist die Pyramide des
Adai-Choch.
Wir lenkten unsere Schritte einem Bollwerk von Feh und Schnee zu,
welches weit in die eisige Fläche vortrat. Auf den wenigen P^elslagern
desselben wollten wir die Nacht verbringen. Als wir sie nach kurzem An-
stiege erreichten, sahen wir bald, dass wir auf keine gastliche Aufnahme
zu rechnen hatten. Kaum konnten wir so viel ebene, aber auch dann noch
abschüssige Fläche finden, um einen Schlafsack auszubreiten. In einer Ecke,
die ein wenig \om Winde geschützt war, lagerten wir uns. Es war 5 Uhr
45 Minuten nachmittags. Wir waren vom ersten Eisfall sieben Stunden
ohne jede Rast angestiegen, zehn Stunden vom Fuss des Gletschers. Die
Höhe unseres Biwaks wurde mit 3300 m (A. D.) bestimmt.
Die Szenerie, welche unsern Lagerplatz umschloss, war von eindrucks-
voller Grossartigkeit. Wir waren auf hohem Belvedere. Unter uns lagen
die herrlichen Seracs des Zeigletschers. Die Felsmauern zu beiden Seiten
nähern sich einander immer mehr und schliessen immer enger und enger
den Eisstrom ein, wie er aus dem weiten Reservoir der obersten Firne ab-
wärts dringt. Mit kahlen P'elswänden, auf ihren einzelnen Höhepunkten
schneebedeckt, ziehen tliese Ketten talauswärts. Ueber ihren Ausläufern
sind Bergreihen sichtbar geworden, deren allgemeine Richtung im rechten
Winkel zu diesen zog. Nebel lag in den fernen Tälern. Die erste uns
gegenüberliegende Bergkette, mit ihren gezähnten Kämmen, war schon in
dämmeriges Dunkel gehüllt, indes hinter derselben die höhere Jurakalkkette
— 37 —
Stürmische Nacht im hohen Biwak.
noch im Abendsonncnschein ert^länzte und das ^-tjlblich-rote dolomitische
Gestein in lebhaften Farben spielte. Ihr nördlicher Abfall ist ein sanfter,
indes die steilen Klippen der von hier sichtbaren südlichen Fassade mit
den schneebedeckten Spitzen, derselben ein pittoreskes Aussehen geben,
welches an die über Sallanches der Montblanc-Gruppe vorliegende Kalkkette
erinnert. In entgegengesetzter Richtung — indem wir einige Schritte um
unsere Felsecke treten — wird im fahlen Dämmerlichte die eisige Gestalt
des Adai-Choch sichtbar: fern und alles überragend.
Der Mangel an ebener Fläche hatte uns genötigt, unser Lager zu
teilen; Burgener und Peter hatten ihren Lagerplatz einige Fuss tiefer wählen
müssen. Zum Schutze gegen den Wind hatten wir aus Steinen eine kleine
Mauer aufgeführt. Wir fanden in der Nähe ein wenig Wasser von
schmelzendem Schnee, mit welchem wir in der kleinen Spiritusmaschine
etwas Tee bereiteten. Unser lVo\iant bestand, da, wie es sich zeigte,
leider manches beim Einpacken im Lager vergessen worden war, nur aus
einer Büchse Sardinen und Hammelfleisch, und dieses, von Burgener am
Abend vorher im Lager am Rost gebraten, war bei diesem ersten Versuche
bis zu einem hohen Grade angeraucht und fast ungeniessbar.
Um 7 Uhr abends zeigte das Thermometer 6° C. Von allen Seiten
waren feuchte Nebel aufgestiegen. Mit der Nacht zog der Sturm heran.
Donner und Blitz mischte sich mit dem Heulen des Windes. Die Berge
gaben den Aufruhr mit mächtigem Echo zurück, und bald darauf hörte
man, wie der Regen die l'elsen peitschte. Unsere Schlafsäcke boten nur
armseligen Schutz gegen die Angriffe des Sturmes und Regens. Welche
Nacht! Wie lange ich wohl schlaflos dagelegen habe: Zuerst lauschte ich
dem lärmenden Chaos, gewaltigen Stimmen in allen Tonlagen, in allen
Klangfarben. Nichts konnte die Fremdartigkeit meiner Lage eindrucksvoller
zur Geltung bringen, als die entfesselten Naturgewalten, welche jetzt die
eisigen Höhen des fernen Kaukasus umtobten. Die geistige Aufregung
verscheuchte lange den Schlaf. Weit weg von der Menschen Stätte, hoch
über der letzten grünenden Talstufe, auf Felsgeklippe inmitten der noch von
keines Menschen Fuss betretenen weiten Schneewüsten, lag ich da, sinnend
und träumend. Der Fels ist hart, die Kälte durchdringt Mark und Bein,
es ist ein elendes Lager da oben — und doch: in dem Aussergewöhnlichen
der Situation, die uns herausreisst aus dem Alltag.sgetriebe der Welt, liegt
ein Etwas, das unser ganzes Ich begeisternd durchzittert, das noch in der
Erinnerung erhebt, das der Verständnisvolle vielleicht mitfühlen wird, das
sich aber nicht beschreiben lässt.
EI- Gletscher
KÄLTE UND SPÄTER AL'l-MKL'Cri.
Get^fen Morgen wurde es ruhiger, aber zu gleicher Zeit steigerte sich
die Kälte in eindringh'chster Weise. Das Wetter hatte einen frühen Auf-
Adai-Choch vom Osten.
h)rucli unmöglich gemacht; erst um 3 '2 Uhr morgens, am 24. Juh', verliessen
wir unser Biwak. Es war zu kalt und zu spät, um ans Essen zu denken.
Wir stieeen auf die Höhe des Bollwerks, in dessen Felsen wir die Nacht
Schwierige Kletterei am Gipeelcrat.
verbracht hatten, folgten seiner Schneekante, drangen in ein Schneecouloir
und begannen dann an dem steilen Schneewalle anzusteigen, welcher der
Basis des Adai-Choch vorgelagert ist.
Nachdem die Höhe dieses Schneewalles gewonnen war, lag der Berg
vor unsern Augen. Die breite Fassade baut sich mit Felsflühen und ab-
brechenden Eis- und Firnlagern auf und übertrifft an Steile, Zerklüftung
und Wildheit die Bildungen der Alpenwelt. Scharfe Schneiden ziehen zu
einem langgestreckten Firnkamme, dessen entfernter liegendes Ende sich zu
einem höheren Gipfelpunkt zuspitzt.
Wir entschlossen uns, den zum Gipfelkamm emporziehenden eisigen
Grat anzugreifen. Es war eine steil geneigte Schneeschneide, an mehreren
Stellen von Felsen durchbrochen oder von überhängenden Schneegewächten
gekrönt. Wir waren des öfteren genötigt, Stufen zu hauen, die eigentliche
Schneide zu verlassen und an den abstürzenden Hängen, teilweise mit Eis
und Schnee überzogene Felsen zu traversieren, oder über Felstürme zu
klettern, welche aus dem Grate aufragten. Stunde um Stunde verrann in
gleichem, hartem, nicht enden wollendem Ringen. Endlich um Mittag ge-
wannen wir die oberste Kammhöhe.
Das Wetter hatte sich wieder zum schlechtem gewendet, und der
höhere Gipfel lag noch weit, durch gewundene F'irnschneiden von uns ge-
trennt. Physisch waren wir erschöpft, aber nicht moralisch! »Nur einige
Minuten Rast!< rief Burgener aus, und wieder war er der erste, um vor-
wärts zu dringen.
Ein kalter Luftzug wehte um die höchsten Grate und erfrischte und
steigerte unsere Kräfte. Grosse Vorsicht war geboten, um die oft über-
hängenden Schneewächten zu vermeiden. Die Firnschneiden trafen sich in
einem Punkte, nach dessen Erreichung der höchste Gipfel noch entfernter
denn je erschien. — Immer schwieriger wurde unser Fortschritt. Felszacken,
die dem Grate entragten, mussten überklettert werden, oder von demselben
abgedrängt, mussten wir an den nordwestlichen Hängen auf glatten ab-
stürzenden Platten traversieren. hisbesondere die Ueberwindung zweier
Passagen bot aufregende Augenblicke und erforderte grosse Geschicklich-
keit und Besonnenheit. Die eine stellte sich als Felsenpartie dar, welche
in glatten Platten gegen die tiefen Abgründe der rechten Bergseite abfiel.
Mit dem Gesichte zur P'elswand gekehrt, musste man traversieren und mit
einer Schwungbewegung den nächsten Tritt zu erfassen suchen. Sodann
war die Ueberkletterung eines auf dem Grate sich erhebenden und aus
überhängenden Blöcken bestehenden I""elsturmes ausserordentlich schwierig.
— 40 —
Alf der hüchsten Spitze des Adai-Choch.
Alles mahnte an den Grat des VYeisshorns, nur dass hier die Länge
desselben und tue einzelnen Schwierigkeiten grösser waren. Und dann kam
der letzte, steile, aber breitere Plrnkamm, auf welchem der Fuss wieder
sicheren Tritt fand. Er teilt sich in zwei scharfe .Schneiden; noch einige
Schritte auf der zur Linken emporstrebend, und um i Uhr 30 Minuten
nachmittags des 25. Juli 18S4 standen wir auf der höchsten .Spitze des
Adai-Choch!
Das Gefühl lebhafter Befriedigung, das Selbstgefühl eines wohl-
verdienten Triumphes durchdrang mich, als wir uns auf der Spitze die
Hände reichten.
Der Tag war kein aussichtsgünstiger. Die Bergwelt im Westen war
durch Nebel verdeckt. Nur im Osten waren die glitzernden Firnhäupter
der Berge zwischen uns und Kasbek klar geblieben. Es ist eine Kette kühn
geformter, scharf geschnittener Gipfel, erglänzend im blendenden Weiss ihrer
Schneeumhüllung, aus welcher die hohen Gipfel des Tepli- und des Gimarai-
Choch aufragen und die das edle Schneehorn des Kasbek schliesst. Firn-
felder und wild zerrissene Hängegletscher drangen vom Gipfel, auf welchem
wir standen, in die Tiefe. Die grosse Landschaft, vom Dunkel des
kommenden Sturmes überschattet, trug das Gepräge der wildesten und
mächtigsten Hochalpenszenerie. Nur im Süden, wo durch eine Lücke der
sich vor uns erhebenden, wild zerrissenen Gebirgskämme in ferner Tiefe
die grünen Matten, Hügel und Wälder der Radscha, noch von den Sonnen-
strahlen vergoldet, erschienen, zeigten sich mildere Züge in der wilden
Grossartigkeit der Aussicht.*)
Wir verbrachten nur eine kurze Viertelstunde aut der schmalen
Schneeleiste der Spitze, welche kaum Raum für uns bot. Einige Schritte
nach rechts brachen Felsen durch den Firn. Wir schichteten mehrere
Gesteinstücke zu einem kleinen Steinmännchen. Das abgeschlagene Hand-
stück des Gesteins, das ich mitnahm, ist ein granitischer Gneis.
hii Abstieg war die Ueberwindung schlechter Stellen schwieriger als
im Aufstieg und erforderte grosse Vorsicht. Aber im ganzen kamen wir
rasch vorwärts. Wir wurden hierbei durch den Zustand des Schnees unter-
stützt, welcher bis spät am Tage gut blieb und nur in den letzten Stunden
erweicht war. Gegen Abend waren wir wieder im Schneecouloir, in welchem
wir am Morgen emporstiegen. Hier traf uns ein Lhifall, der ernste Folgen
hätte haben können, indem der vorangehende Ruppen ausglitt und stürzte;
*) Adai-Choch, der höchste Gipfel der Gruppe, liegt, wie dies im Kaukasus oft der Fall
ist, in einem vom Hauptkamm sich ablösenden, gegen Norden streichenden Zuge.
— 41 —
IRKI AHRTEN I\ PER SciINEEWÜSTE.
zum Glück war der Schnee etwas erweicht und wir hemmten Jen Sturz so-
fort durcli das stratt angezogene Seil, mit dem wir verbunden waren. Am
Fusse des Couloirs latren grosse Massen Schnee, welche dort den Berg--
schrund zum Teil überdeckten. Wir verfolgten das Couloir bis über das
lüiile hinaus, überschritten ohne Schwierigkeit den Bergschrund imd schlugen,
um zu unserm Biwakplatz zu gelangen, tiefer unten, links wendend, eine
kürzere Route ein als die am Morgen, die uns erst auf die Höhe des
Felswalles gclührt hatte, von wo wir dann h()her oben in das Couloir
einmündeten
Um 7 Uhr abends hatten wir unser Biwak wieder erreicht. Unglück-
licherweise war alles, was wir dort gelassen hatten, die Schlafsäcke, die
armseligen Ueberreste unseres Proviants, durch das über die Felsen rieselnde,
abschmelzende Schneewasser durchnässt. Wir nahmen einige Mundvoll
warmer Limonade, welche wir nur schwer erwärmen konnten und krochen
dann in die .Schlafsäcke. Unser armer Peter war von Unwohlsein befallen
und jammerte. Die Nacht, welche folgte, war eine elende. Wind und Regen,
Hagel und Schnee lirachen über uns herein. Nur schlecht geschützt in den
stellenweise ganz durchnässten Schlafsäcken, froren wir entsetzlich.
Mit Tagesanbruch — das Wetter war wieder besser geworden —
sammelten wir unsere Sachen und begannen den Abstieg. \n der flucht-
artigen Eile, mit welcher wir die ungasdiche Stätte verliessen, vergass ich
Notizen zu machen, und meine Erinnerung sagt nicht, wieviel das Minimum-
Thermometer zeigte, noch um welche Stunde wir aufbrachen.
hl der Absicht, die Pa.ssage durch den obersten Eisfall zu vermeiden,
blieben wir auf der Höhe unseres Bollwerks, um nach einem Abstieg zu
forschen, welcher uns unterhalb des Eisfalles auf den Gletscher landen
sollte. Nirgends jedoch konnten wir eine möglich erscheinende Abstiegslinie
entdecken : die Felsen und Rinnen waren durch ein kontinuierliches Band
abstürzender Klippen vom Gletscher abgeschnitten. .Stunden verstrichen in
fruchdosen Versuchen. Wir hatten seit 24 Stunden nahezu keine Nahrung
zu uns genommen, und ein zweites Nachtlager in der Eisregion hätte uns
in eine fatale -Situation gebracht. Das Wetter hatte sich wieder verschlimmert,
und ängsdich forschend standen wir jetzt auf einer Höhe, um aus der schon
von wogencien Nebeln umhüllten Schneewüste einen Ausweg zu finden.
Endlich beschlossen wir, in der Höhe weitergehend, das Becken eines
kleinen Seitengletschers zu erreichen und über denselben zum tieferen
Gletscherboden abzusteigen. Es war ein grosser Umweg, aber es war die
einzige Richtung, welche praktikabel erschien und sich auch als solche erwies.
— 42 —
Abstieg zum Zei-Gletschf.r.
Wir überquerten im Abstieq^e den Firngletscher, um zu einer
Schneerinne zu gchuii^cn, durcli die wir zum Zeigletscher absteigen
wollten. Frülier machten wir noch eine Rast und verzehrten die armseligen
Reste unseres Proviants. Durch die steile Schneerinne mus.sten wir uns den
Weg mit dem Eispickel bahnen. Der untere Teil des Zeigletschers war
durch den Regen glatt und schlüpfrig geworden. Weite Schneeflächen
waren rot gefärbt, in einer Ausdehnung, in welcher ich dieses Phänomen
in den Alpen nie bemerkt habe. Die rote P^ärbung entsteht, wie in den
Alpen, durch eine kleine Planzenart: Protococcus nivalis.
Der Eisstrom des Zei-tUetschers l^taluärts).
Endlich erreichten wir den Schneehang an der Seite des untersten
Eisfalles. Aengstlich forschten wir an den Uferhängen des Gletschers, um
dort unsere Leute zu erblicken Wir hatten die Träger mit Proviant und
Kochapparat für den vorhergehenden Nachmittag an den P\iss des Eisfalles
bestellt, in der Hoftnung, dass es möglich sein würde, am Tage der
Ersteigung des Gipfels noch dorthin zu gelangen. Wir mussten nun
befürchten, dass die Leute, da wir nicht ankamen, wieder abgestiegen
waren und gar nicht mehr heraufkommen würden. Und diese Befürchtung
wurde fast zur traurigen Gewissheit. Keine Spur von Menschen war in der
Nähe des Gletschers zu entdecken. Zu allen Unbilden des Wetters, die wir
43
Zusammentreffen mit uxsern Träcerx.
zu erdulden hatten, schien es, als müssten nun die Oualen des Hungers
sich gesellen. Da — plötzlich entdeckten wir weit unten einige Männer
langsam emporsteigen. Es konnte kein Zweifel sein, es waren unsere Leute,
und mit ihnen kam Proviant, Brennholz und unser Kochapparat. Wir konnten
kräftige Ausbrüche der Freude nicht unterdrücken. Burgener zog, um ein
Zeichen zu geben, seinen Revolver und feuerte ihn in die Luft, ich glaube,
das einzige Mal, dass sein Schall im Kaukasus gehört wurde, obgleich
Burgener während der ganzen Reise darauf bestand, ihn selbst auf unsern
Gletscherexpeditionen zu tragen, zur Verteidigung gegen das »schlechte
Volk«, wie er die Eingeborenen nannte, mit welchen zusammenzustossen
sein beständiger sorgenvoller Traum war. Unsere Leute hatten die Signale
gehört. Sie beeilten sich, und bald trafen wir auf der Moräne zusammen.
Es war 2 Uhr nachmittags.
\^on Herrn Dolbischew, der in vorsorglicher Güte alles schickte, was
er eben schicken konnte, brachten die Träger auch einige Zeilen. Ich kann
nicht umhin, sie wörtlich wiederzugeben, sie sind bezeichnend für das Leben,
das da oben im fernen Lande geführt wird: »je vous envoie les trois
porteurs! Gott gebe, dass Sie alle drei wohlbehalten erscheinen! Dans
les deux sacs vous trouverez le saucisson pour la soupe, Textrait de viande
de Liebig, du sei, une lanterne, une bougie, le reste de notre pain, la
casserolle et du bois. Si vous arrivez de bonne heure, vous ne me trouverez
plus — je m'en \ais a la chasse. Gardez moi une tasse de the et un
morceau de sucre. Le the sans sucre est bien, bien mauvais! I Dolbischew.«
Die Sonne schien jetzt wieder warm. Behaglich ruhten wir. Eine
köstliche Suppe wurde gekocht. Nach einer Stunde waren wir wieder
unterwegs. Aber noch hatten wir das Ende des Gletschers nicht erreicht,
als uns ein Gewitterregen zwang, Schutz unter einer überhängenden I'els-
balm der Tahvand zu suchen.
Um 6 Uhr waren wir wieder im Zejalager. Herr Dolbischew begrüsste
uns auf das freudigste. Er hatte am Tage der Ersteigung von der Höhe
der l'elshänge, im Rücken des Lagerplatzes, einen Teil unseres Anstieges
beobachten können; wir waren ihm durch das Pernrohr wie Miegen
erschienen, welche an einer weiss getünchten Mauer krabbeln; später ent-
schwanden wir durch eine Wendung nach rechts seinen Blicken.
Am folgenden läge hingen schwere Wolken an den Bergwänden.
Um 8 Uhr war das Lager abgebrochen. Burgener und ich eilten voraus.
Bei der Brücke angelangt, zogen wir es vor, einem Pfade an der rechten
Talseite zu folgen, den wir schon im Hinwege bemerkt hatten, um den
KücKWKi; NACH Si. Nu ulai.
steilen Anstieg zur Terrasse, auf welcher das Dorf Zei liet;t, zu vermeiden.
Es währte jedoch nicht lange, bis der Pfad immer unkenntlicher wurde.
Walddickicht umfing uns, durch welches wir uns wanden. Dann kreuzten
tiefe Erosionsschluchten, Wasserrisse den Weg, in welche wir absteigen und
jenseits an steilen Geröllhalden emporklettern mussten. Erhitzt und erschöpft
trafen wir um i l'hr mit den andern zusammen. Um 2 Uhr rückte die
Karawane in St. Nicolai ein.
Die Ersteicjunor des xAdai-Choch war vollbracht.')
*) Es wurde später schwierig, die Lage des von uns erstiegenen Gipfels mit dem
unmittelbar am Mamissonpass liegenden Gipfel, dem Adai-Choch der älteren Auffassung Freshfields,
der ich mich gleichfalls angeschlossen hatte, in Einklang zu bringen. Die neuen Aufnahmen des
russischen Generalstabes (die unpublizierten Messtischblätter im Massstabe von 1 : 42 000) haben
Klarheit in der Topographie dieser Gipfel geschaffen. Sellas ausgezeichnete telephotographische
Aufnahme vom Tepligipfel und das Routencroquis meines Anstieges und Abstieges, zusammen-
gehalten mit der neuen Mappierung, haben die Annahme, dass einer der Gipfel, welche das
Quellgebiet des Tschantschachi-Baches an der westlichen Abdachung des Mamissonpasscs umstehen,
erstiegen worden wäre, endgültig beseitigt und erwiesen, dass der erstiegene Gipfel identisch mit
dem Kulminationspunkte der Adai- Choch- Gruppe ist.
Das Dorf Kamunta.
IV. KAPITEL.
Aus dem Ardontal zum Uruch.
Who hp:iv<cl tlic nuumtiÜD, wliich siiblinily Stands
j\\\i\ casts ils sliailow inlci .listant laiuls?
Nach der Ersteigung- des höchsten Gipfels der Adai-Choch-Gruppe
sollte uns die Fortsetzung der Reise über eine Reihe von Hochpässen gegen
Westen in die oberen Täler des Uruch, Tscherek und Bakssan führen. \"on
St. Nicolai gingen wir wieder talabwärts zum Vereinigungspunkte des Ardon
welchem der letztere entströmt. Eine Steinschlucht führt nach wenigen
Kilometern zum Bergwerke von Ssadon, das in einer Höhe von 1 308 m
liegt. Das Haupterz der Gruben ist silberhaltiger Galenit. Wir verbrachten
den Nachmittag in Ssadon, wo das Fest eines Kirchenpatrons gefeiert wurde,
untl hatten Gelegenheit, ein Stück ossetischen Volkslebens zu beobachten.
Die ( )ssen sind ein arischer Stamm, ihre Sprache ist eine iranische
und mit keiner andern kaukasischen Sprache verwandt. Ueber den Ur-
sprung des Volkes gibt es die verschiedensten Hypothesen, je nachdem
man den griechischen, römischen, arabischen Quellen oder der georgischen
Chronik des Wachuscht folgt. l^ie neueren Forschungen über Sprache,
anthropologische und ethnographische Verhältnisse der Ossen unterstützen
jedenfalls die Ansicht, dass sie dem Volksstanime der Alanen angehörten.
Das Volk der Osskn.
Heute erscheinen die Üssen der L^rossen kaukasischen V'olkerfamiHe, ins-
besondere denjenigen Völkern, die, ihnen benachbart, die Herj^'t^rebiete des
zentralen Kaukasus bewohnen, eng angegliedert zu sein, mit denen sie in
Charakter, Sitten und Gebräuchen, auch im Aeussern die gleichen Züge
aufweisen. Allerdings sind auch mir bei den Ossen vielfach blondes Haar,
insbesondere blonde, lange Vollbarte und blaue Augen aufgefallen, und
zwar mehr bei dem Teile des Volkes, welcher dem christlichen Glauben
Ossetisrhe IlLumaher.
anhängt, als bei demjenigen — etwa ein Viertel — , welcher mohammedanisch
ist. Ob aber dies und die Sitte des Abnehmens der Kopfbedeckung beim
Grüssen, sowie eine gewisse Aehnlichkeit in den Formen ihrer Hauseinrich-
tungsgegenstände und der landwirtschaftlichen Geräte, in einigen Gebräuchen,
insbesondere bei Hochzeiten, und endlich die bei ihnen entwickelte Kunst
des Bierbrauens und ihre entschiedene Vorliebe für dieses Getränk, genügende
Merkmale für die Annahme einer nahen V'erwandtschaft mit europäischen
Völkern, besonders mit germanischen, sind, mag dahingestellt bleiben, wenn
nicht eben die Vorliebe der Ossen für Bier (Lud in ihrer Sprache) für eine
Verwandtschaft mit den Deutschen ausschlaggebend sein soll.
Von Ssadon nach Kamunta.
Die Ossen teilen sich, auch (hirch von einander abweichende Mnnd-
art('n ihrer Sprache imterschieden, in melirere Stämme, von welchen die am
Oberlaufe des Urach sesshaften als Digorier bezeichnet werden. Wie bei
nahezu allen kaukasischen Bergvölkern, ist auch das Christentum der Ossen
stark mit heidnischen (jebräuchen vermischt. Das (Jssenvolk zählt nahe an
190000 Seelen. Ihre Wohnsitze liegen westlich der grusinischen Heerstrasse,
in den Flusstälern des Genal-don, Gysal-don, Fiag-don, des Ardon und des
Uruch, sowie in den Ouellgebieten des Terek und längs seines Laufes bis vor
Wladikawkas, aber auch jenseits des Hauptkammes im Süden, in den oberen
Talgebieten der Liachwaflüsse, des Ksanki und einiger östlicher Ouellflüsse
des Rion, wo sie weit hinein in die von georgischen Völkerschaften be-
wohnten Berglandschaften reichen.
Als wir am Morgen des 28. Juli Ssadon verliessen, war die Land-
schaft von Kamunta, jenseits der Wasserscheide zwischen Ardon und Uruch,
das Ziel, dem ich zustrebte. Wir konnten erst um 8 Uhr aufbrechen, da
die Lastpferde nicht früher zur Stelle waren und das bestellte Brot nicht
ÜnEK DKx Kaminta-Sattet,.
zum Vorschein kam. Da dieses auch bis zu unserm Aufbruche nicht fertig
war, musste der Kosak zurückbleiben, um es uns nachzubringen.
Der Weg führt thu-ch ein enges, steiniges Tälchen an der Grenze
der Gneisgranite und der schwarzen Tonschiefer Die Wände des sich
in streng westlicher Richtung emporziehenden Tales bilden im Süden die
Gneisgranite der Hauptkette, während die nördliche Umrandung jener Ton-
schieferzone angehört, welche wir bei Nusal im Ardontale antrafen. Das
Wetter war trüb und erhöhte den Pjndruck der Oede, welche die farblose
Landschaft hervorruft.
Bei Ssgid (1562 m), wo mehrere Steinhütten mit Türmen auf der
vorspringenden Talwand stehen, stürzt der Bach aus einer engen Schlucht
in Fällen herab, und das Tal wendet sich gegen Norden. Der Rückblick
von der Höhe traf die Schneeberge im Südosten des Ardontales.
Aus der Enge tritt man in ein grünes Wiesenhochtal, das eine reiche
Alpenflora birgt. Gentianen, Campanula, Geranium, Centaurien, Vaccinium,
Senecio standen mit zahllosen andern Alpenpflanzen zum Teil noch in
voller Blüte. Eine durch ihre teils graue, teils rödich-gelbe Färbung ciolomit-
ähnliche, gezackte Mauer steigt zur Rechten über demselben auf. Es ist
dies jene Kette von Jurakalken, welche im Norden des Hauptkammes parallel
mit diesem zieht und den Ardon bei Aul Bis erreicht. Zwischen derselben,
kaum 3 bis 4 Kilometer von ihrem höchsten Gi[>fel, dem Kion - Choch
(3423 m), und einem nördlichen Ausläufer des Adai- Choch - Massivs,
liegt im Scheiderücken zwischen den Flusssystemen des Ardon und des
Uruch die zum Teil mit grünenden Matten bedeckte .Sattelhöhe, welche uns
als Uebergang diente. Um Mittag sind wir auf der Höhe angelangt (2439 m).
Ich nannte den Pass Kamunta-Sattel.*) Die Granite der Hauptkette sind
hier vom Jurakalke durch ein breites Band von Schiefern (Sandsteine und
Tonschiefer) getrennt. An der Basis der mit nahezu horizontalen Schichten
aufstrebenden Kalkmaucrn liegen mächtige Schuttkegel, welche ihr Material
von in denselben hoch hinaufziehenden Runsen erhalten. Diese Schutthalden
verdecken die den Sattel bildenden Sandsteine und Tonschiefer. Der Aus-
blick i.st beschränkt ; die im Süden liegenden Berge der Adai-Choch-Gruppe
sind leider von Wolken und Nebel bedeckt.
Auf der Höhe eines weit in das Tal streichenden Bergrückens zieht
der Pfad, wenig sinkend, in das sich weitende Talgelände und gewährt einen
freien Ueberblick über die Gegend. Zu unserer Rechten begleitet unsern
*) Jetzt auch mit Ssadonpass bezeichnet.
Dechy: Kaukasus.
— 49 —
I^AIAKT KArKASISCIlEK DOKKKR.
Weg die |urakalkkettc, wahrend zu unserer Linken, im Südwesten, die
kristallinische Adai-Choch-Cirupije sich auftürmt. Wir wanderten über einen
aus grossen, ebenflächigen Platten feinkörnigen Sandsteins bestehenden
Rücken, der uns zu den auf seinem hügelförmigen Endpunkte amphitheatralisch
aufsteigenden Hütten des Dorfes Kamunta (187g m) brachte. Der Ort ist
durch die in seiner l'mgebung aufgedeckten Nekropolen und die denselben
entstammenden, prähistorischen und byzantinischen Funde berühmt geworden.
Die aus kaum behauencn Steinen und Blöcken zusammengefügten
Häuser des Dorfes lehnen meist mit der Rückseite am Berghang. Die
Dächer sind flach, mit Erde bedeckt und grasbewachsen Rohe Ruten-
geflechte, welchen der Rauch der Feuerstellen im Innern der Hütten ent-
steigt, sind ihnen aufgesetzt. Die Häuser folgen einander etagenförmig
und erscheinen wie in den Berg hineingebaut. Es ist dies der Typus der
Bauart der meisten Dörfer in den Nordtälern des Kaukasus, der im
wesentlichen auch für den östlichen Kaukasus vorbildlich ist. Einige
Häuser haben längs ihrer Vorderseite laufende Holzbalkone, nur wenige
stehen ganz frei. Der Anblick eines solchen Dorfes ist ein fremdartiger und
erinnert an die Wohnstätten der Eingeborenen in den Bergen des Libanons.
Auch der Charakter der Landschaft legt solche Erinnerungen nahe. Grüne
Wiesen, ohne jeden Baum und Strauch, nur selten durch ärmliche Kulturen
unterbrochen, dehnen sich im wellioen Hügelgelände der Umeebunor aus.
In der Tiefe haben sich die Bäche steinige Rinnsale eingeschnitten. Die
Tallandschaft zeigt w^enig Aehnlichkeit mit den Hochtälern der Alpen, ins-
besondere unter dem trüben Wetter des heutigen Tages, das die gletscher-
erfüllten .Schluchten in der im Süden von Kamunta liegenden Bergkette
mit neidischen Wolken unsern Blicken entzog.
Wir kamen am Nachmittag in Kamunta an und wurden vom
Starschina') empfangen, der uns die Gemeindestube des Dorfes als Nacht-
quartier einräumte. W^ir erstanden ein Schaf, und bis zum Abend kam auch
unser Kosak, der in Ssadon zurückgeblieben war und das dort gebackene
Brot brachte.
29. Juli Wir sind früh wach. Die im Süden sich erhebende Schnee-
kette liegt am Morgen ziemlich klar vor uns. Dem östlichen, gletscher-
erfüllten Hochtale entströmt der Dargon-Kom ; dem gegen Westen folgenden,
in dessen Höhe, durch einen gewundenen Felskamm getrennt, die beiden,
einem gemeinsamen Pirneebiet entstammenden Ssonouta-Gletscher sich aus-
■'') Starschina, ein russisches Wort, bedeutet Alter, es wird mit demselben der Dorfälteste,
das Oberhaupt des Dorfes, bezeichnet.
L'liER KINKN HKKCKÜCKKN IX DAS SKA-1 TIKi iM-TaL.
breiten, der Ssoiiguta-Bach.*) Das P'irngebiet der Sson^-uta-Ciletscher zieht
hinauf zu den Nordabstürzen des Ssonguta-Choch, und in der Ecke, an
diesen sich lehnend, erkennt Burgener die mit eisdurchfurcliten Wänden sich
erhebende Pyramide des Adai-Choch.
Trotzdem die drei Lastpferde und Leute für 5 Llhr morgens
bestellt waren, kostete es einen Kampf, lils wir um g'/a Uhr vor-
mittags aufbrechen konnten. Wir begannen die Erfahrung zu machen,
welche im weiteren V'erlaufe der Reise noch öfter traurige Bestätigung
erhalten sollte, dass es eines der am schwierigsten zu losenden Probleme
ist, im Kaukasus von bewohnten Orten mit Pferden einen frühen Aufbruch
zu erzwingen. Unsere Karawane bestand aus drei Lastpferden, einem
Pferdetreiber in der Person des Gemeindeschreibers von Ssadon, einem
Träger, dem Kosaken und uns vieren, im ganzen sieben Mann.
Es war nicht leicht gewesen, den Eingeborenen die Richtung klar
zu machen, in welcher wir die Reise fortsetzen wollten. Um in das Uruch-
tal, unser Ziel, zu gelangen, führt von Kamunta der Weg dem nach
Nordwesten ziehenden Talbache entlang, welcher als Aigamugidon in den
Uruch fällt. Dieser Weg hätte uns jedoch vom Hochgebirge entfernt, in dessen
Nähe wir die gegen Norden ziehenden Ausläufer jener Gratzüge überschreiten
wollten, welche die Talschluchten einschliessen, die dort gletschererfüllt in
die Hohe ziehen. Die Eingeborenen konnten es nun absolut nicht begreifen,
warum ich, statt des bequemen und bekannten Weges in das Uruchtal, nahezu
pfadlos durch das schwer begehbare Hochgebirge ziehen wollte. Es währte
lange, bis es mir gelang, insbesondere bei der Unzulänglichkeit der zur Ver-
fügung stehenden Karte, die Richtung der einzuschlagenden Route festzustellen.
Zuerst stiegen wir zu einer tiefer liegenden Hüttengruppe ab, über-
schritten den Ssongutabach und mussten dann unter den sengenden Strahlen
einer kaukasischen Sonne einen langen und steilen Anstieg in Angriff
nehmen. Nach zwei Stunden kamen wir auf die Höhe (ca. 2100 m A. D.)
des nach Norden ziehenden Grates, welcher die Talschluchten des Ssonguta-
und des Skattikom-don trennt. Wir erblickten nur wenig unter uns ein vom
Bache durchströmtes Wiesenhochtal und im Hintergrunde desselben eine in
sanften Linien sich aufbauende Gletschergruppe, in dessen Mitte der Skattikom-
Choch (4513 m) thront — ein hübsches abgeschlossenes Bild. Der Skattikom-
Gletscher zeigt eine wenig zerklüftete Eläche, und mächtige Pelsgrate teilen
das Firnreservoir in zwei Hälften. Eine halbe Stunde später rasteten wir auf
*"') Ich folge hier der von den Eingeborenen erkundeten Nomenklatur, die nicht nur den
Bach Ssonguta-Bach nennen, sondern auch die eisigen Höhen im Hintergrunde Ssonguta-Choch.
Sc'ii\viKkT(;K Üi;ERsciiRi;i'rL\(; der kaukasischen Berguäciie.
weichem Rasen, am Ufer der eisigen Wasser des Skattikom- Baches, nach
dem heissen Anstieg doppelt willkommen.
Als wir aufbrachen, musste zuerst der Skattikom - Bach übersetzt
werden. Da keine Brücke vorhanden war, konnte man über die das Bach-
bett erfüllenden, stürmisch dahinschiessenden Fluten nur zu Pferde an das
andere l'fer gelangen. Die kaukasischen Bergwasser sind in ihren oberen
Teilen, im unwirtlichen Hochgebirge, nicht überbrückt, schwellen während
des Tages oft mächtig an und
sind dann für l*"ussgänger gar
nicht und auch zu Pferde oft
schwer zu überschreiten. Da wir,
Reisende und Pührer, zu PTiss
marschierten, so wurde das Pferd
des Kosaken, nachdem Träger
und Pferdetreiber sich auf die
beladenen Pferde geschwungen
hatten, vom jenseitigen Ufer
immer wieder über den Bach
getrieben, um jedesmal ein Mit-
glied unserer Gesellschaft zu
holen. Zuerst ritt ich über den
Bach, dann folgten Merr Dolbi-
schew, die beiden Schweizer, und
endlich kam, wie es hiess, »die
Photographie geritten« , der Ruck-
sack mit den photographischen
Apparaten, welchen der Kosak trug. Der photographische Apparat wurde
in solchen Fällen immer den Bergbewohnern, meist dem Kosaken, anvertraut,
welche ausgezeichnete Reiter und gewöhnt sind, die Pferde durch die
stürmischen Wasser zu führen.
Jenseits des Baches begann ein langer und steiler Anstieg, durch ein
im Anfange begrüntes Hochtal und später längs steiniger Bergrücken. Die
letzten Grashänge sind verschwunden. Zwei Stunden lang wandern wir durch
eine geröllbedeckte Einöde, über wild zerklüftetes Steingehänge, bis in immer
steilerem Ansteigen die Höhe des Ueberganges erreicht ist. Nach dem
jenseits liegenden Dorfe nannte ich ihn Gularpass. Es liegt .Schnee auf der
Passhöhe, und ein kalter Wind bläst da oben. Das Thermometer zeigte
lo" C., die Höhenmessung ergab 2929 m (A. D.) Düstere Wolken waren
Fiinhöhen im Skatti kom - Tale.
Vom Gui.ar-Pass zu den HCttkx von Gui.ak.
von allen Seiten auti^estiegen luul verschlossen jeden weiteren lilick. Nur
eine \'iertelstuncle verweilten wir, um die Instrumente abzulesen, untl stiegen
dann über die noch mit Schnee bedeckten Hänge abwärts.
Die Landschaft nimmt rasch einen freundlichen Charakter an. Die
Hänge bekleiden sich mit Matten, auf welchen eine reiche Alpenflora prangt.
Die reizende Gentiana caucasica, Alchemilla, Saxifragen und Campanulen er-
freuen das Auge.*) Ueber die P'elsabsätze der linken Talwand stürzt ein Bach,
in mehrere Kaskaden geteilt. jenseits sind jetzt an den Bergen Gletscher
sichtbar, die, scheinbar am Horizont schwebend, als lange Strome in die
Tiefe ziehen, dahin, wo in der Ferne das silberne Band des Uruch glitzert.
Die Höhen sind von dichten Nebelwolken umlagert. Tiefer unten treten
bewaldete Vorberge in die P^lucht des Tales, und aus allen Schluchten blinken
Gletscher. Nach steilem Abstiege erblickt man die vom Bache durchzogene
Talsohle. Noch über derselben, bei den am Berghange übereinander
liegenden Hütten des Aul Cnilar, in einer Höhe von 1950 m (A. D.) schlagen
wir das Zelt auf.
Die Szenerien, durch welche wir am nächsten Tage wanderten,
wirken durch die
Grösse und den
Reichtum ihrer
Formen, die
Mächtio-keit ihrer
*) Alchemilla vulgaris
L., Campanula tiiden-
tata Schreb., Gentiana
caucasica MB. und
septemfida Fall., Saxi-
fraga muscoides Vulf.
Karagomtal bei Dsiiiago
Von Dsixaco, im Karagomtale, nach Stvr-Dig(ir.
Eisbedeckung. Schon von Gular hatte sich ein schöner AnbHck des Bartui-
Gletschers geboten, dessen Eisstrom zwischen steilen Eelsbastionen, che
über waldbestandenen Talhängen aufragen, sich in die Tiefe windet. Bei
dem Digorierdorfe Dsinago (1434 m) erreicht man das wildschäumende Wasser
des Karagom-Baches, das durch eine breite Wiesenfläche stürmt. Bald ge-
winnt man den ersten Blick in das Eirnreservoir des grossen Karagom-
gletschers, der sich erweitert, wenn die Hohe eines bewaldeten Riegels
erreicht ist, den man übersteigen muss, um aus dem Karagomtälchen nach
dem Uruch-Tale zu gelangen. Ein mächtiger Eisstrom dringt, die ganze
obere Talflucht erfüllend, hinab, an seinem Fusse von grünen Waldhängen
umschlossen und in der Höhe von einer herrlichen Gipfelreihe gekrönt, die
in blendend weissen Firn gehüllt ist. Gerne hätte ich den Karagom-
Gletscher besucht, aber bei dem unbeständigen Wetter dieses Sommers
musste ich westwärts eilen, um in das Hochtal von Besingi und in das
Gebiet des Elbruss zu gelangen.
Im Uruchtale wandten wir uns talaufwärts, um Styr-Digor, die grösste
und letzte Ortschaft des Tales, zu erreichen. Man wandert in einem
breiten, mit Kulturen bedeckten Tale, das von dem der Hauptkette
angehörenden Bergmassiv des Lalioda geschlossen wird. Das Tal ist
von der Vereinigung des Karagombaches mit dem Uruch eine Strecke tal-
aufwärts in schwarze Tonschiefer geschnitten, welche die westliche Fort-
setzung der Zone von Ssadon und Kamunta bilden, während die Talsohle
stark mit diluvialem Gesteinschutt aufgeschüttet ist, in welchem Granite und
Gneisgranite vorwalten. An der orographisch linken Talseite ist Terrassen-
bildung ein auffallender Zug im Relief des Tales. In der Talsohle erkannte
ich in einer Hügelwelle eine alte Endmoräne, welche mit den Talterrassen
korrespondiert.
Es herrschte eine drückende Hitze, und nach einem ermüdenden Marsche
von etwa drei Stunden kamen wir am \'ormittag des 30. Juli nach der an der
rechten Tallehne aufsteigenden Hüttengruppe von Styr-Digor (1528 m). Das
Dorf ist der Hauptort der Stammgenossen der Ossen, der Digorier, und
besteht aus etwa 50 Höfen. Ein Teil der Einwohner sind Christen, der
andere, der angesehenere und wohlhabendere, Mohammedaner.
Hier in der letzten Ortschaft des L^ruchtales sollten andere Pferde für den
Uebergang nach Baikar (ösd. Tscherek-Tal) beschaffet werden, und an die Stelle
unseres Kosaken, eines Ossen, ein mohammedanischer Digorier treten, der
zugleich der Sprache der Bergbewohner in den Talgebieten von Baikar, der
mohammedanischen Tartaren, seiner Glaubensgenossen, mächtig war. All
— 54 —
ElX KAUKASISCHKS DiNER.
dies war nicht leicht durchzuführen, wenit^stens nicht in kurzer Zeit; ich
aber wölke unbedingt am Xachmittaoe noch einige Stunden talaufwärts
ziehen und im obersten Quelltale des Uruch das Lager aufschlagen.
Der Starschina von Styr-Digor hatte uns empfangen und gab sofort
Auftrag, Pferde und Leute herbeizuholen. Der statt des ossischen Kosaken
als unser Begleiter ausersehene Mann war ein mohammedanischer Digorier,
Namens Chagasch Karagubajew,
der früher in der Suite des Kai-
sers, dem aus Söhnen der ver-
schiedenen kaukasischen Berg-
stämme gebildeten Konvoi, in
Petersburg gedient hatte. Kara-
gubajew lebte, wie es schien, in
guten Verhältnissen und bezog
eine kleine Pension von der Re-
gierung. Er lud uns und den
Starschina zum Pissen, und trotz
meiner Befürchtung, dass das-
selbe zu lange währen könnte,
war es unmöglich, abzulehnen,
um so mehr als wir in der 'Pat
zu Mittag essen mussten und seit
dem \'erlassen Ssadons keine zu
reichlichenMahle geno.ssen hatten.
Sowohl hier, als auch in den
von mohammedanischen Tataren
bewohnten Dörfern, welche wir
später berührten, wurde bald
nach der Ankunft der bis in
die entlegensten Regionen ge-
drungene russische Teekessel,
Samowar, vorgesetzt, und oft dazu ein in Butter bereitetes Gebäck.
Nach längerer Zeit, meist nach einer für ausgehungerte Wanderer viel zu
langen Pause, wurde das Essen aufgetragen. Dieses wird auf niedrigen,
runden, dreifüssigen Tischen serviert. Eine mit Kissen belegte Bank oder
kleine Schemel bilden die Sitzplätze für die Gäste. Das erste Gericht be-
stand meistens aus gekochtem Schaffleisch, dazu eine Tasse mit einer aus
Sahne gerührten Tunke. Man isst mit den Fingrern und taucht in rührendem
Der Digorier Karagubaje\
Bi'XÄsTiGExnE Nel'(;ierdf, der kaukasischen Bercbewohner.
Koniiminisimis die Meischstücke in die oemeinsame Saucenschale. Allerdings
bringt vor und nach dem Essen ein Diener eine Waschschüssel aus Messing
und einen Krug Wasser, Seife und Handtuch zum Waschen der Hände
herbei, womit er die Runde bei den am Mahle Teilnehmenden macht und
das Wasser über die Hände der sich Waschenden giesst. Das erste
Tischchen wird weggetragen und ein anderes an dessen Stelle gesetzt, auf
welchem Schaschlik, am Spiess gebratenes Schaffleisch, vorgelegt wird, dem
dann in Holzschüsseln Fleischbrühe folgt. Als Getränk dient bei den
Mohammedanern eine Mischung von saurer Milch mit Wasser; Wein ist in den
Bergen des zentralen Kaukasus bei den Mohammedanern nicht zu bekommen,
übrigens auch nicht bei den christlichen Bergbewohnern. Dagegen ist bei
diesen ein schlechter Fuselbranntwein, insbesondere bei den Swanen an der
Südseite, erhältHch, und die Ossen — zuweilen auch andere Bergbewohner —
brauen für ihre Festgelage ein süssliches, dunkles, bierähnliches Getränk.
Der Hausherr, den eigentlich der Gast zu Tische bitten soll, nimmt am
Essen teilt. W^enn wir von einem Gerichte nicht mehr nahmen, wurde
das.selbe Tischchen meinen Führern vorgesetzt und nach ihnen dem
Kosaken, den Pferdetreibern, den Dienern des Hauses und endlich nach
diesen allen Leuten, die sich eben in der Stube befanden oder vor
der Tür dem .Schmause zusahen. Der Fremde ist nämlich in diesen
Tälern ein Gegenstand der ausserordentlichen Neugierde der Ein-
geborenen, die in unausstehlicher, oft ungestümer Weise herandrängen und
Zeugen jeder seiner Handlungen sein wollen. Selbst die Dorfältesten und
die Vornehmeren unter den Bergbewohnern, bei denen man zu Gaste ist
und die schon etwas von der Welt ausserhalb der kaukasischen Berge
gesehen haben, scheinen diese oft in höchstem Grade belästigende Neu-
gierde mehr oder weniger natürlich zu finden und pflegen sich der-
selben nicht entgegenzusetzen. Dafür fanden wir auch in allen (^rten,
wo wir nächtieten, in.sbesondere, wenn wir als Gäste bei den sogenannten
bürsten, den Feudalfamilien jedes Dorfes weilten, einen Tross von Dienern,
die sich ganz einfach aus den voll Neugierde herbeigeeilten Dorfbewohnern
rekrutierten und die dann allerlei Dienstleistungen zumeist unaufgefordert
verrichteten.
Auch das Festmahl in Styr-Digor — denn ein solches war es — ,
verlief in der soeben beschriebenen Weise. Es begann spät, lange nachdem
der Tee gereicht wurde, und dauerte lange. Ich vergass unterdessen nicht,
den Dorfältesten nach dem Verbleib der Pferde und Leute zu befragen,
worauf sich derselbe jedesmal entfernte — während des Essens nur in den
— 56 —
Si'Ä'iKR AUKiiRucii V()\ Stvr-1)k;ok.
Zwischenpausen und auf kürzere Zeit — und dann mit den \erschiedenstcu
Antworten uml Ausiliichten zurückkehrte. So viel konnte ich denselben
entnehmen, dass es im üorfe selbst keine Pferde gebe, dass er aber Leute
auf die höheren Weideplätze geschickt habe — die Zahl der Boten und die
Entfernung der Weideplätze wechselte inmier — und dass sie, in gleichfalls
verschieden angegebenen Zeiträumen, unbedingt eintreflen würden. Unter
solchen Umständen erschien es mir als das beste, mit dem Pferdetreiber
von Kamunta ein neues Uebereinkommen zu treffen, nach welchem er mit
den Pferden bis nach dem Aul Kunnym im Tscherektale kommen sollte.
So war es 4',- Uhr geworden, als wir aus .Styr-Digor auszogen. An
der Spitze unserer Karawane ritt jetzt Karagubajew — hoch zu Ross und
von seinem Diener begleitet, für einen Kaukasier, insbesondere lür einen
Mohammedaner und noch dazu für einen Mann von Rang, etwas Selbstverständ-
liches — , dann kamen die drei Lastpferde mit dem Pferdetreiber und Träger
aus Kamunta, und zum Schlüsse folgten wir vier bescheidenen Wanderer zu
Fuss. Bald nach unserm Aufbruche gab es einen kleinen Aufenthalt. Ein
Mann kam Karagubajew nachgerannt, wechselte einige Worte mit ihm, und
ich erfuhr, dass diese die Mitteilung einer Preissteigerung für die Miete des
von Karagubajew gerittenen Pferdes enthielten. Die Pferde unseres Mentors,
so wurde zu meiner Aufklärung- hinzuoefüo't, seien auf dem Felde bei der
— 57 —
GlETSCIIKR-ZIRKUS ( )I!ERHALB S'r\R-DlG( >R.
Arbeit beschäftigt und er gezwungen gewesen, ein Pferd für sich zu mieten,
eine Ausgabe, die, ebenso wie der Lohn für i^lrn I )iener, als selbstverständHch
mir zur Last fallen müsse. Tch konnte nicht umhin, dies um so mehr recht und
billig zu finden, als ich unmittelbar vorher bei dem Manne zu Gaste ge-
wesen war.
Bei einer unter hohen Bäumen und zwischen grünenden Feldern
gelegenen Hüttengrupjje hat sich der schneeige Berghintergrund, der eine
Zeitlang durch eine vorliegende Terrainwelle verdeckt war, wieder eröffnet.
Ihm entragen die glänzend weissen, schönen Firnspitzen des Ziteli (4277 m)
Gletscher-Zirkus oberhalb Styr- Digor.
und der Laboda (4320 m), von Gletschern umflutet, in die ein bewaldeter,
in ebenmässiger konischer Form sich erhebender Hügel empordringt. Etwa
nach einer Stunde tritt auch die linke, früher weit vorspringende Talwand
zurück, und wir stehen vor einem neuen, ebenso schönen, als eigenartigen
Gletscherbilde. Ein Bergrund erhebt sich unmittelbar aus einer kleinen,
ebenen, begrünten Talfläche, zu beiden Seiten kulissenförmig von bis hoch
hinauf bewaldeten Hängen eineerahmt. Den kaum vom Fels durchbrochenen
Das oiiERK l rl'cii-Tai,.
Eiswall krönen sclion (,reformte Firngipfel (Taimasivcek 3822 ni). Von den
schneebedeckten Wänden gleiten zwei Gletscher herab. Diese Eismassen
haben früher nur einen Gletscher gebildet, welcher über die steilen Felsen
an ihrer Basis niederzog. Die F"elsen haben sofort in die Augen springende
abgerundete Formen. Die Eismassen zur rechten Seite brechen jetzt hoch
oben über den Felswänden ab, von einer hohen Seitenmoräne begrenzt. Der
zur Linken vom Beschauer liegende Gletscher reicht tiefer herab und hat eine
gut ausgebildete, langgestreckte, zerklüftete Zunge, welche trümmerbedeckt
an den Schutthalden endigt. Ueber die ausgehöhlten Felswände rieseln,
flüssigem Silber gleich, die Gletscherwasser nieder, schlängeln sich durch
den grünen, buschbedeckten Zirkusboden und eilen dann, mit dem links-
seitigen Gletscherbache vereint, dem Uruch zu. An einen Felsblock gelehnt,
stand ich lange, den Zeichenstift in der Hand, wie gebannt von dem einzig
schönen Bilde.
Schon vor Styr-Digor hat das Uruchtal eine westliche Richtung ein-
geschlagen und verläuft in seinem oberen Teile, von dem Charwess ge-
nannten Ouellflusse durchströmt, als Längental parallel zu der im Süden
desselben sich erhebenden wasserscheidenden Hauptkette. Der Pfad steigt
scharf an, das Tal verengt sich, und der Bach tost durch tiefe Klüfte, über
welchen Wasserstaub lagert. Stellenweis ist das Gestein — Gnei.sgranite —
auch dort, wo der Bach jetzt nicht mehr fliesst, durch die Erosion früherer
VVasserläufe ausgehöhlt. Die uns gegenüber liegende Talwand ist mit dichtem
Birken- und Fichtenwakl bestanden, und bis zur Kammhöhe steigen die
kerzengeraden Stämme der Fichten. Vom Gehänge, an welchem wir wandern,
stürzen zahlreiche Bäche, und kleine Wasserfälle flattern über die Felsen. Es
wird dunkel, und noch inuner findet sich im engen, von Steilwänden ein-
geschlossenen Tale kein zum Nachtlager eeeieneter, genügend ebener Platz.
Endlich kommen wir zu Heuschlägen, und auf einer Wiese wird um 7 '/^ Uhr
abends das Latrer aufeeschlaoen.
Ssugan- Kette vom Plateau unterhalb des Schtul i vce k-Passes.
V. KAPITEL.
Aus dem Uruchtal nach Baikar.
.... Wo vk-lLCC'cjiiifi'lt, wiliUcikliiltet
Der Kaukasus zum Himmel steigt:
Das Ilaupt erstarrt uml schiiecgebleicht —
Büilenstcilt: Mirza-Seliaffy.
Trotz früher Tagesreveille währt es im Kaiikasu.s doch lange, bis ab-
gekocht, der Tee getrunken, die Zelte abgebrochen, alles eingepackt, auf die
Sättel der Tragtiere geladen und festgeschnürt wird und die Karawane
endlich marschbereit ist. So war es auch an diesem Morgen. Mit Burgener
bin ich vorausgeeilt, doch schon nach 20 Minuten kreuzt ein vom rechten
Talgehänge in mächtigem Sturze herabkommender, wasserreicher Bach den
Weg. Es ist unmöglich, ihn zu b'uss zu übersetzen, und wir müssen das
Pferd unseres Digoriers abwarten, um der Reihe nach durch das schäumende
Bergwasser zu reiten.
Man wandert der Tallehne entlang, übersteigt einen Felsriegel imd
tritt in ein langgestrecktes, liaumloses Hochtal. Die Formation des Tal-
bodens und der Gehänge weist auf ein entleertes Seebecken. Der Fluss
hat die sich folgenden Talstufen durchsägt und die Seebecken entleert. Die
Talgletscher haben jedenfalls auch an der morphologischen Ausgestaltung
60
Ssugan 4490 m
Doppach
Westl. Q. 4447 m Oestl. G. 4396 m
Von einer Ka/a/ahöhe (ca. 3000 Aeter) unterhalb des Schul
N;icli.isclibit,i-Cli. 4393 m
iJVCEK-PaSSES gegen die DIGORISCHE KETTE I/A NORDEN.
DiK TiaiKAssKXSTri'KN IM Ciiakwkss-Tai.k.
mito-ewirkt und die Schuttal)lat;erungen, die ich am Rande der Terrassen-
stufen bemerken konnte, enthalten fluvio-Ljlaziales Materiak Im Süden er-
öHnet sich eine prächtioe Gletscherlandschaft, wo dem Mossota-Gletscher
der Hauptqnellbach des Uruch, der Charwess, entströmt.
Wir wenden uns hier auf kaum kenntlichem Pfade einem nörd-
lich weit ins Tal vorspringenden, langgestreckten Bergrücken (Gewon)
zu und beginnen an seinen steilen Abhängen emporzuklimmen. Nur mit
grösster Schwierigkeit können die Lastpferde folgen. Ich marschierte an
der Spitze der Karawane und war etwas vorausgeeilt, als ich durch einen
wüsten Lärm plötzlich aufgeschreckt wurde. Entsetzen erfasste mich, als ich
zurückblickte. Eines der Pferde war gestürzt und ein -Stück weit über den
Abhang herabgekollert. Die ganze Last hatte sich vom Sattel losgelöst, und
nach allen Seiten hin waren die einzelnen Gegenstände geschleudert worden.
Das Pferd war bald auf den Beinen und schien ausser einigen Hautabschürfungen
keinen Schaden genommen zu haben. Doch das Gepäck." — Langsam wurde
alles aufgelesen. Zum Glück waren diesem Tiere weniger zerbrechliche Gegen-
stände aufgeladen. Ausser verschiedenen belanglosen Kontusionen kam nur
ein Bruch vor. Derselbe betraf die einzige Flasche Sherryweines, die ich
mit hatte — zu Medizinalzwecken und zur Hälfte für die Ersteigung des
Elbruss bestimmt — , trotzdem die Flasche sorgfältig in einer starken Blech-
büchse und mit entsprechender Umhüllung fest verpackt war. Ich kam bei
dem Umfalle verhältnismässig leichten Kaufs davon, Hess aber nunmehr das
Gepäck keinen Augenblick mehr aus den Augen. Bald gelangten wir zu
einem Schneefelde, das überschritten werden sollte. Hier musste das Gepäck
abgeladen werden und wurde von uns allen die kurze Strecke auf die Höhe
des Bergrückens getragen. Aber auch für die unbeladenen Pferde war es
unmöglich, das Schneefeld zu passieren, und es musste für sie ein Plad mit
unsern Pickeln ausgeschaufelt werden.
Um 1 Uhr nachmittags, eine und eine halbe Stunde nach Verlassen
des Talbodens, sind wir auf der Höhe des Bergrückens angelangt. Ein
wellenförmiges, allseitig von Bergen umfangenes Hochplateau breitet sich vor
uns aus. Im Westen, nicht viel höher und in anscheinend geringer Entfernung,
sieht man in der Bergumwallung den Einschnitt des Schtulivcek-Passes,
den wir zu überschreiten gedachten, um in das Tscherek-Tal, nach I3alkar
zu gelangen. Im Norden überblickt man die Front der mit dem Haupt-
kamm parallel laufenden Kette, welche zwischen dem Uruch im Osten und
dem Tscherek im We.sten sich erhebt und im Ssugan-Tau eine Höhe von
4490 m erreicht. Die Kette bildet mit ihren steilen, schneedurchlurchten
— 61 —
RrMuu.icK \iiM l'i.A'rEAi INI i;riiai.i; iii:s Sciitl'LIvcek-Passks.
W'äiulcii, tlic in ihren l-allun^iMi alibrechcndc Gletscher trafen, den Grat-
sclincicli-n uiul den S|)itzen, die bald als Ciranithörner, bald als auf felsiyen
Pfeilern ruhende Eiskupijen aufragen, einen fesselnden Anblick. Im Süden
erhebt sich der Hauptkamni des Kaukasus, vom Labodaoipfel beherrscht,
der den eisigen Hintergrund von Styr-Digor aufbaut. Von hier bietet der
Berg einen ganz verschiedenen Anblick. Es ist ein langgestrecktes Massiv,
dessen T^irstlinie mehrere feingeschnittene Firnsjjitzen krönen und an dessen
prächtiger Fassade felsdurchbrochene steile I'irnhange niederziehen. Die
llaui)tkette ist hier weniger hoch, ihr Aufbau ist weniger wild als die
Laboda. Vom Plateau unterhalb des Schtulivcek.
Architektur der nördlich vorgelagerten Ssugankette, eine Eigentümlichkeit
in der Tektonik des Kaukasus, der wir auch weiter im Westen begegnen
werden. Zur Linken der Laboda, gegen Osten, Biegt der Blick in die Ferne,
wo Bergreihen über Bergreihen am Horizont dahinziehen. Adel-Choch
— wie er Adai-Choch immer genannt — ruft Burgener aus und weist
triumphierend auf eine Pyramide, die dort, alles überragend, sich stolz in die
Lüfte schwingt.
Nach kurzer Rast sollte aufgebrochen werden tmd ich forderte die
Leute — die im schönen Sonnenschein ein Nachmittagsschläfchen hielten —
auf, die Pferde zu beladen. Aber die Pferdetreiber bestanden darauf, heute
nicht mehr weiter zu gehen. Sie behaupteten, der Schnee, der noch über-
schritten werden müsse, sei zu so später Stunde für die Plerde zu sehr er-
62
Nacii'ii.ackk am l'i.ATKAr. Fiu'CAi.K Kost.
weicht. Alles Zureden war umsonst; auch der Dit^orier stimmte den von
den Pferdetreil)crn geäusserten Bedenken bei, und so blieb nichts anderes
übrig, als das Lager aufzuschlagen.
\'orerst photographierte ich, dann wurde botanisiert untl der Rest
des Nachmittags zur Instandsetzung unserer Ausrüstung benutzt, die denn
doch durch den Sturz des Pferdes etwas Schaden gelitten hatte, und zum
Schlüsse gab es noch grosse Wäsche, wozu ein gerade neben unserm
Lager vorbeifliessendes Bächlein einlud. Gegen Abend wurde das Essen
gekocht. Dasselbe war ziemlich frugal. Auf dem Plateau, wo wir lagerten, stand
eine halb zerfallene Steinhütte, die gewöhnlich Schafhirten zum Unterstand
diente Aber sie war unbewohnt, die kargen Weideplätze rings herum sind
noch nicht bezogen, und all das, was die Schafhirten uns hätten bieten sollen
und was uns in Aussicht gestellt wurde, konnte natürlich nicht zum Vorschein
kommen. Die wenigen Konserven, die wir mithatten, mussten wir für Hoch-
touren sparen, so blieb die Erbswurstsuppe das Hauptgericht. Am unan-
genehmsten aber empfanden wir den Mangel an gutem Brot; der Rest des mit-
gebrachten, noch aus Ssadon stammenden, russischen Brotes war schimmlig und
nahezu ungeniessbar geworden. Seit Ssadon kamen wir durch keinen Ort, wo
geniessbares Brot erhältlich gewesen wäre, noch hielten wir uns genügend
lange auf, um Ersatz dafür schaffen zu können. Die Digorier sind arm,
sehr arm ; ihr Brot, wie das der meisten kaukasischen Bergbewohner, wird
aus einem Gemenge von Mais, Gerste oder Hafer ohne Hefe und einem
Stoffe, der schwarze Erde zu sein scheint, hergestellt.
Die schon früher wahrnehmbare Unzufriedenheit meiner Begleiter
über den fraglichen Komfort auf kaukasischen Bergreisen kam jetzt zum
Ausbruch. Ich hielt es für nötig, solche Proteste nicht nur für den Augen-
blick, sondern auch für die Zukunft niederzuhalten. Soweit als möglich
war ich bestrebt, für unser leibliches Wohlergehen zu sorgen und die nötigen
Vorkehrungen, wo und wann sich die Gelegenheit dazu bot, zu treffen.
Aber wenn dies das eine oder das andere Mal nicht gelang, dann sollten
die Widerwärtigkeiten einer Reise in diesen wilden Berglandschaften, die,
wie wir vor Antritt derselben wussten, zu gewärtigen waren, auch ohne
unnützes Murren ertragen werden. Der Armeebefehl verfehlte seine Wirkung
nicht. Im weiteren Verlaufe der Reise wurden über solche Kleinigkeiten
kaum mehr Worte verloren. Allerdings ging es uns später, nachdem wir
Baikar erreicht hatten, unter den mohammedanischen Bergtataren, ja selbst
in Swanetien besser, und eine Reihe von fetten Tagen half bei meinen
Schweizern immer wieder über einige magere hinwetr- An diesem Abend
DiK Aussicht vom Schtüi,ivcek-Pass.
aber suchte alles in etwas oedrückter Stimmung-, — nian wusste ja nicht, ob
es nicht noch ärger kommen würde, — das kalte Lager auf.
hl strahlender Reine brach der i. August heran. Um 6 Uhr morgens
waren wir marschbereit. Massig steigend, wanderten wir längs des Ge-
hänges über Schutt und .Schnee. Ich und Burgener waren vorausgeeilt,
und zweieinhalb Stuncien später, um halb neun Uhr, hatten wir den 3348 m
hohen SchtuHvcek-Pas.s'') erreicht.
Wie mit einem Zauberschlage hat sich vor uns im Westen die Aus-
sicht auf eine neue Welt grosser Berge erschlossen. Der Anblick wirkte
mit packender Gewalt. Ich wusste, dass es die höchsten Granitgipfel des
kaukasischen Hochgebirges sind, nur dem einzigen Elbruss sich beugend,
welche da in die W^olken ragten. Im herrlichen Bogen der Berge, welche
der kaukasische Hauptkamm und die von demselben gegen Norden aus-
strahlende Kette bildet, steht dort die Riesenpyramide der Schchara, 5184 m
hoch, der dritthöchste Berg des Kaukasus. Sie erinnert an die Dent Blanche
der Alpen und ihr müssen wir den Preis im Aussichtsbilde zuerkennen.
Ueber die eisbepanzerte, herrliche Fassade des Berges ziehen die Riesen-
schneiden, alles blendendes Firneis, zur Spitze empor. Die Kammlinie sinkt
zu einer tiefen Einschartung (Dychssu-Pa.ss)**) und erhebt sich wieder zu einem
vereisten Absatz, von dem sich die abstürzenden Felsklippen aufschwingen,
aufweichen das Firnhorn des Dych-Tau***') fusst, mit 51 98 m der zweithöchste
Berg des Kaukasus. Weiter gegen Norden steigt über den, abbrechende
Pelsstafteln und zerrissene Eisfelder tragenden, lireitseiten des mächtigen
Gebirges eine herrliche Gipfelgestalt auf, an der die scharfen P'irnschneiden
sich in einer eisigen Spitze treffen. Es i.st der Koschtan-Tau, 5145 m hoch,
der vierthöchste Gipfel des Kaukasus. Links von Schchara macht sich die dem
Hauptkamme angehörende Kette, die im Ailama-Tau 4525 m erreicht,
durch die Schönheit ihrer Formen und ihre mächtige Ei.sbedeckung geltend.
Von Süd und Nord ziehen die sich senkenden Bergrücken kulissenförmig
in die Tiefe, wo F^urchen zwischen denselben die von den Ouellbächen
des Tscherek durchströmten Talschluchten andeuten. Das graue Gestein
ihrer Abhänge wird von dunkelgrünen Rasenflächen unterbrochen, und die
weiter zurückliegenden Gratzüge umschliessen, von hier gesehen, gerade
*) Eigentlich ist die Bezeichnung tautologisch, denn »vcek« bedeutet im Ossetischen Pass;
CS wäre daher richtiger, Schtuli-Pass zu sagen. In der kaukasischen Nomenklatur sind jedoch ähn-
liche tautologische Bezeichnungen schwer zu vermeiden. Die Ossen pflegen übrigens das Wörtchen
auch Gipfelnamen anzuhängen.
**) Ueber dem Dychssu-l'ass ist in der Ferne eine Schncekuppe sichtbar, die Elbruss sein dürfte.
■■•'**) Tau bedeutet im Tatarischen Berg.
— 64 —
Die Granitriesen des Kaukasus v/»\
nych-Tall 5198 ni
Kiisclitan-Taii 5145
^ SCHTULIVCEK-PaSS (3M8 /AETER).
DiK Granttriesex des Kaukasus.
unterhalb Schcliara, das lüsbassin des Fytnargin-Gletschers. Der Blick haftet
an den Gletschern und Mmfeldern, die sich an den Bergwänden ausbreiten,
und ermisst der Bewunderung voll, die Grösse und Höhe der Gipfel.
I3en \\"orten, mit welchen ich einige Züge der Aussicht vom Schtuli\-cek
zu schildern versuchte, mag das BiUl zu Hilfe konunen. Die Namen, welche
für die Hauptpunkte festgestellt wurden, sind Hilfsmittel, um unter diesen
Bergen zu individualisieren. Als ich sie zum erstenmal sah, waren nur
zwei derselben bekannt — Koschtan-Tau und Dych-Tau — , und es war
zweifelhaft, welchen Gipfeln diese Namen gebührten. l'Veshfield und ich.
Fytnargin - Gletscher.
die einzigen, welche vom Schtulivcek diese Bergwelt erblickt hatten, hielten
damals Schchara für Koschtan-Tau, Dych-Tau, der weniger zur Geltung kommt,
war uns ein Pic sans nom und Koschtan-Tau nannten wir Dych-Tau. Der
mächtige Eindruck jedoch, den der Anblick der Granitriesen des Kaukasus
auf mich machte, wurde durch topographische Zweifel und Unklarheiten
nicht beeinträchtigt. Im Erhebungszentrum des Kaukasus, welchem diese
Berge angehörten, müssen die Kräfte, welche das kaukasische Gebirgssysteni
aufrichteten, ihre grösste Macht entwickelt haben: eine urgewaltige Architektur
hat hier die Talfurchen am tiefsten eingeschnitten, das formenreiche Ge-
hänge bietet Raum für die au.sgedehnten Firnreservoire, welchen die grössten
Gletscher des Kaukasus entströmen; die Granitpfeiler, die eisbepanzerten
Fassaden dieser Berge erheben sich in entsetzlicher Steile, und ihre Gipfel
erreichen nach dem einen Elbruss die grössten Höhen des Kaukasus.
Deehy; Kaukasus, 5
— 65 —
Sc'IITULU- VN\) FVTNAkC.IN-Gl.ETSCHKR.
Der Abstieg- vom Pass nach Westen führt steil über die von Geröll
bedeckten Hänge und durch tiefe Gräben, l'm Mittag wird an einer eisen-
haltigen Quelle Rast gemacht. Weit herum ist die Erde rötlich gefärbt.
Der Eisensäuerling schmeckt vortrefllich.
Tiefer unten kommt man an die Mündung eines südlichen Gletscher-
tales. Vor dem mit Schutt bedeckten Ende des Schtulu-Gletschers Hegt,
von demselben abgetrennt, eine grosse, schmutzige Eismasse, nahezu ganz
unter Schuttgeröll begraben, die der Gletscher bei seinem letzten Rückzuge
wahrscheinlich zurückgelassen hat. Vom Nährgebiet des Gletschers ab-
Dychssu - Schlucht.
geschnitten, scheint sich die Eismasse durch Schneefälle, vielleicht auch durch
Lawinen, weiter zu erhalten und bildet so eine Art regenerierten Gletschers.
Nur zu Pferde können wir die jetzt hoch angeschwollenen, tosenden
Wasser des Gletscherbaches überschreiten.
Um eine .scharfe Felsecke biegend, blicken wir durch ein lang-
gedehntes, grünendes Becken, das Bett eines verschwundenen Sees.
Im Süden bricht über nackten, glatt geschliffenen Felsen der P'yt-
nargin - Gletscher ab, in der Höhe ein Meer eisiger Seracs. An den
-Seiten und unterhalb der Felsen liegen Schutthänge, über welche die Gletscher-
wasser rieseln. Alles zeugt von früherer Grö.sse. Die gewaltige Ausdeh-
nung des I-'y-tnargin-Gletschers lässt sich von hier, aus dem Tale, kaum er-
messen. Er besitzt ein weit verzweigtes Plrngebiet, mit welchem er eine
Fläche von nahezu 25 qm bedeckt und, weit gegen Westen ausbiegend,
Karaii. iNii DvciissL-Sriii.rciiT.
erreicht seine Länge nahezu 12 km. Ringsherum oftnen sich Talschhichten
— Buro-ener sagt: »So viel Täler als Finger an der Hand!« — Gletscher
funkeln im Hintergrunde derselben und Firnspitzen ragen in den tiefblauen
Abendhimmel. Auf dem weiten, von Bächen durchzogenen, fast ebenen
Talboden weiden zahlreiche Herden, und die reizvolle, belebte Szenerie
dieser Berglandschaft wirkt in dem sonst so stillen, ernsten Kaukasus
doppelt anziehend.
Dort, wo der .Schtulu-Bach, nachdem er sein unterhalb des Schtulivcek-
Passes beginnendes Längental durchströmt hat, sich nördlich wendend, den
Dych-Ssu*) aufnimmt, um dann als Tscherek seinen Lauf fortzusetzen, liegt
der Karaul genannte Platz. ''*) Die Balkarier, die weiter draussen im Tscherek-
Tale ihre Wohnsitze haben, hatten von jeher hier einen Wachtposten, um
ihre Herden gegen die Raubzüge der jenseits der Hauptkette ansässigen
Swanen zu schützen.
Raubt' und trieb die Herden hinweg, der gehörnten Rinder
Und weissvvoliigen Schaf, und erschlug die begleitenden Hirten.«
Ilias xviu.
Eine halb zerfallene Steinhütte, die nur einen niedrigen, kleinen Raum
enthält, jetzt aber niemanden beherbergt, steht hier, und nahe derselben
wird das Lager aufgeschlagen. Die Höhe von Karaul beträgt 1594 m.
Wir sind in Balkarien.
Unser Zelt stand auf grüner, von Felstrümmern bedeckten Wiese,
nahe der Brücke über den Dych-Ssu, der seine grauen, schäumenden
Gletscherwasser aus einer von steilen Felswänden umschlossenen Schlucht
rollt. Rechts sind es nackte, graue Granitmauern, unten von Schutthalden
umlagert, die senkrecht aufragen, links bekleiden die Steilwände stellenweise
dunkelgrüne Birkensprösslinge und Azalea-Sträucher. Unten liegt düsteres
Dunkel über der Schlucht, indes oben, wo die Wände auseinandertreten,
ein Hintergrund von schneebedeckten P'elsgipfeln erscheint.
Trotz des unsicheren Wetters war ich mit Burgener und Ruppen
schon am frühen Morgen aufgebrochen, um durch die Dychssu-Schlucht auf-
zusteigen und einen orientierenden Blick über die Gletscher und die Lage
der Gipfel dieser Bergwelt zu gewinnen. Unglück verfolgte mich in diesen
Tagen. Es begann damit, dass wir einen Pfad an der orographisch linken
Seite der Schlucht verfolgten, der jedoch bald aufliörte. Ich war gegen
*) Ssu im Tatarischen gleich Wasser, Bach.
** ) Karaul bedeutet einen Wachtposten (im Russischen Kapay.nKa = Schilderhaus, Kapayjit^
Wache, Schildwachej.
5*
— 67 —
Wkc dl Kl 11 Uli'. i)\cii.ssr-SciiiA'ciiT.
die ForLsct/.uiig- des Wey;cs in dieser Richtunt^- und lür die Rückkehr an
die entgegengesetzte Seite der Schlucht. lUirgener dagegen woIUe von
einer Umkehr nichts wissen und glaubte auch auf dieser Seite sich einen
Weg durch die Enge bahnen zu können. IJald kamen wir zu steil ab-
fallenden Felsflühen und waren in ernste Schwierigkeiten verwickelt. Wir
mussten das Seil nehmen, über glatte Felsen in tiefe, ausgewaschene
Wasserrinn.sale hinab und jenseits wieder emporklettern. Es schien Burgener
im Anfang eine Freude zu machen, Klettereien in tler Tiefe — wie ich es
nannte — auszuführen. Dann ging es wieder durch ein nahezu undurch-
dringliches Dickicht von Gesträuchen und Niederwald, der die steil ab-
fallenden Hänge bedeckte. Es war in der Schlucht drückend heiss und
dieses Herumklettern höchst erschöpfend, während jetzt an der entgegen-
gesetzten Seite längs des Baches der Pfad sichtbar wurde. Dreieinhalb
Stunden mühten wir uns so an diesen Steilwänden, bis wir bei einer
Wendung derselben uns überzeugten, dass unser Schicksal besiegelt sei. Auf
eine grosse Läng.sausdehnung hin stürzen die Hänge nahezu senkrecht in
die erosse Tiefe, an den weniger oeneioten Absätzen mit undurchdringlichem
Rhododendrongebüsch besetzt. Noch kletterte Burgener einige Schritte
weiter und kehrte dann mit dem Bescheide zurück: es geht nicht«. —
Es hätte vielleicht stundenlangen, mühsamen und gefährlichen Kletterns be-
durft, um an diesen Abstürzen einen Abstieg in die Tiefe zu erzwingen. —
Durch das Geäste der niedrigen Bäume, die sich bis zu unserm Stand-
punkte vorgewagt hatten, blinkte es silbern vom eiserfüllten Hintergrunde
des Dychssu -Tales — ein Land der Verheissung, das wir nicht erreichen
sollten! Es gelang uns, noch etwas höher zu klettern, und auf einem etwas
begrünten Absätze der riesigen Felswand ruhend, konnten wir unsere
staunenden Blicke frei über die eisige Bergwelt streifen lassen.
In langem gewundenen Strome dringt der Dychssugletscher aus
seiner Firnregion mit den schwarzen Bändern von Mittelmoränen herab, und
über demselben baut sich die mächtige Schchara auf. Vom dunkeln l'c\s-
gerüste des Berges fiiessen die zerschrundeten Eismassen zahlreicher Hänge-
gletscher; hoch über den Wolken, die sich dräuend um die breite Berg-
gestalt legen, ragt die silberreine, scharf geschnittene b'irnspitze in den
Himmel, ein Anblick, den man nie vergi.sst.
Der Dychssu-Gletscher, der bei ca. 2too m mit einer von Gesteins-
trümmern bedeckten Zunge endigt, gehört zu den grössten kaukasischen
Gletschern. Mit einer Länge von 12 km steht er an fünfter Stelle unter
ihnen und übertrifft den Morteratsch- und den Zmutt-Glctscher in den Alpen.
Der Dvciissu-Gletsciier.
Die Grösse der vom lilctscher und seinem l'"im^ebiete Ijedeckten Mäche,
die mit 56 qkm berechnet wird, weist dem Dychssugletscher che vierte
Stelle unter den kaukasischen Gletschern an, und damit übertrifft er die
grossen Eisströme des Mer-de glace, des Morteratschgletschers, des Fiescher-
Dychssu-Gletscher und Schchara.
gletschers, des Unteraargletschers und die Pasterze in den Alpen. Eine
Reihe von Gletscherzuflüssen sinkt in das Bassin des D^chssugletschers,
von welchen der zerschrundete Ailama-Gletscher, der vom Süden, vom Haupt-
kamme aus dem weiten l'irnreservoir zwischen Ailama-Tau und Fjtnargin-
Tau (41 84 m) kommt, und der aus dem Norden mit einem wilden Eisfall
niederziehende Baschcha-auss Gletscher die o-rössten sind. In der Südwest-
ScIIWIEKKiKEITEX MIT KAUKASISCHEN PFERDETREIBERN.
liehen Ecke, unter dem langgestreckten Eiskamm des Niiamquan (4281 m),
dehnen sich weite Firnreservoire aus, die gleichfalls den grossen Gletscher-
strom nähren. Der Aufbau des Gebirges in seinen höheren Teilen, in
welchen hier der Hauptkamm mit dem weit nach Norden ausgreifenden
granitischen Zuge tief eingesenkte Kessel bildet, ist der Ansammlung grosser
Firnmassen und der Bildung ausgedehnter Gletscher ausserordentlich günstig.
Es währte leider nicht lange, bis die von allen .Seiten aufsteigenden
Wolken das ganze Gletschertal erfüllt und verdunkelt hatten, aus deren
Getriebe immer wieder einzelne Teile der herrlichen Schchara aufleuchteten.
Noch bevor wir den Abstieg beendet hatten, traf uns der Regen.
Bei unserm Zelte angelangt, befahl ich den sofortigen Aufbruch. Aber
ich hatte die Rechnung ohne meine Ossen gemacht. — Zuerst hiess es, dass
die Pferde sich verlaufen hätten und dass sie nach dem anstrengenden
Marsche des vorhergehenden Tages eines Rasttages bedürften. Dies wurde
aber nur nebenhin gesagt, und es schien mir, dass die Leute noch anderes
im Schilde führten. In der Tat trat plötzlich der Pferdetreiber aus Kamunta
mit der Forderung hervor, ich solle ihm den Mietspreis für die Pferde bis
zur Stunde bezahlen. Ich erwiderte, dass ich auf der Strasse nicht zu be-
zahlen pflege, und dass dies am Schlüsse der bedungenen und geleisteten
Arbeit zu geschehen habe. Bald kamen noch andere Forderungen. Eines
der Pferde sei ge.stürzt, hiess es, der Sattel gebrochen und das Riemzeug
beschädigt worden. Dies müsse ich bezahlen, und zugleich wurde ein
lächerlich hoher Preis hierfür gefordert. Ich sagte diese Bezahlung zu, da
ich die Befürchtung nicht erwecken wollte, dass ich den durch den Sturz
des Pferdes erlittenen Schaclen überhaupt nicht gutmachen wolle. Ein Blick
auf Karagubajew, den zu unserm Schutze ausgesandten edeln Digorier, ge-
nügte, um mich zu überzeugen, dass ich von dieser Seite nichts zu erwarten
hätte. Herr Dolbischew flüsterte mir zu, ich möge mich vor den Leuten
in acht nehmen, da die Gefahr, das Kindschal*) in die Brust gestossen zu
bekommen, eine eminente sei. Meine zwei -Schweizer blieben treu an meiner
Seite und hielten, wie sie mir später sagten, den Augenblick nahe, in
welchem sie gezwungen sein würden, von ihren Eispickeln auch anderweitigen
Gebrauch machen zu müssen, als wofür sie bestimmt waren. Mit der An-
nahme der betreffs des Sattels und Riemzeugs gestellten Porderung waren
wir aber nicht am PLnde, denn sofort trat der Kamuntamann mit einer
andern Forderung hervor. Wir hätten, sagte er, im Charwesstale auf
*) Kindschal wird das Dolchmesser genannt, das die Kaulcasier in verschiedenen Grössen,
bei den Reicheren mit Griff und Scheide in l;oätbarer Silberarbeit, nahezu immer im Gürtel tragen.
— 70 —
Das Tsciikrkk-Tal.
einer Wiese unser Lager aufoeschlag'en und ein Stück derselben zertreten.
Hierfür nun forderte er einen Schadenersatz, dessen Betrag das Erträgnis
eines Joches Ackerfeld gedeckt hätte. Die VoHmacht zur Einkassierung des
Betrages für den angeblichen Schaden hatten die Leute sich selbst aus-
gestellt, denn wir waren auf unserm Wege keinem sterblichen Wesen
begegnet.
Nun brach ich mit Entrüstung alle Verhandlungen al^ und erklärte,
einen meiner Schweizer beim Gepäck zurückzulassen, selbst aber mit dem
andern nach Kunnym, dem ersten Dorfe in Baikar, zu gehen, wo ein Miliz-
Kosak und Hamsat l^russbiew mich erwarten sollten, nötigenfalls aber selbst
bis nach Naltschik, einem kleinem russischen Städtchen am F"usse der Vor-
berge und Sitz des Bezirkschefs, zu reiten, um Hilfe und Beistand zu suchen.
\^iel Zeit war während dieses erregten Wortwechsels verloren gegangen, und
unterdes hatten meine Schweizer das Zelt abgebrochen und alles gepackt.
Ich traf die Vorbereitungen zur Ausführung meines Planes, ersuchte Herrn
Dolbischew, mit Ruppen beim Gepäck zu bleiben, und gab ihnen Ver-
haltungsmassregeln. Jetzt erst begann Karagubajew eine Vermittlerrolle zu
spielen. Ich musste fest dabei bleiben, dass ich für die Pferde erst am
Ende der Reise, in Kunnym, den bedungenen Lohn ausbezahle, war aber
bereit, eine Konzession zu machen, die darin bestand, dass ich Karagubajew
das Geld für Sattel und Riemzeug übergab, welches den Leuten aber
gleichfalls erst am tlnde der Reise zu behändigen war. Nun erst wurden
die Pferde beladen, und um 5 ^/-i LHir abends, zu spät, um noch bis zur
ersten Ortschaft im Tscherektale zu gelangen, zogen wir talabwärts.
In der Tiefe des schluchtartig eingeengten Tales rauscht das wilde
Wasser des Tscherek, über welchem am linken Talgehänge der W^eg dahin-
zieht. Die Wände bekleiden sich mit dichtem Buschwerk und aufstrebendem
Walde. Die schneedurchfurchten Felsberge, welche von Karaul über der
Dychssuschlucht im Süden sichtbar sind, erscheinen im Rückblicke; an die-
selben hat sich jetzt die Firnkuppe des Fytnargin-Tau gelehnt. Nach etwa
zwei Stunden finden wir eine kleine grüne Matte, einen prächtigen Lager-
platz, geschützt durch die von beiden Seiten etwas vorstehende Talwand,
und in der Nähe klares Wasser.
Sonntag, 3. August. Wir sind spät erwacht. Ich höre lautes Schreien.
Aus dem Zelte tretend, bemerke ich eine grosse Bewegung unter den Leuten.
Es heisst, die Pferde wären in der Nacht gestohlen worden. Ich mache dem
Lärmen ein Ende, indem ich Karagubajew befehle, die Leute doch auf die
Suche nach den Pferden zu senden, statt dass sie hier nutzlos streiten. Nach
Legende von PFERnEDiEHSTÄiiLEN im Kaukasus.
Tscherek-Tal
anderthalb Stunden waren tue Pferde zur Stelle, und um 8 Uhr zogen wir
weiter. Ich konnte nie erfahren, ob wirklich eine begründete Besorgnis
vorlag, da.ss die Pferde gestohlen seien, oder ob die Szene nur eine Ver-
zögerung des Aufbruches bezweckte. Solch blinder Lärm über gestohlene
Pferde gehört zu den sich öfter wiederholenden Episoden auf einer Reise
im kaukasischen Hochgebirge, und die ständige Angst und Sorge der
Eingeborenen vor Pferdediebstählen spielt ebenso oft eine grosse Rolle vor
und während der Reise. Li Wirklichkeit aber kam meiner Begleitmannschaft
auf meinen wiederholten Reisen auch nicht der elendeste Klepper abhanden.
Die Landschaft trägt den Charakter eines Hochtales in den Alpen,
vielleicht ernster, einsamer. Klippige, bestrauchte Uferhänge fallen steil zum
tief unten schäumenden Talbache. Aus schluchtigen Seitentälern stürzen mit
wildem Getöse über ein Chaos von P^elsblöcken die Bäche, und darüber
werden schneebedeckte Gipfel, oft nur ihre abfallenden Grate, sichtbar. Im
Rückblick steht noch immer die schön geformte Berggruppe bei Karaul,
luid noch aus der Ferne markiert die .Steilwand zur Rechten die Oeffnung
der Dychssuschlucht. I Joch bald wird die Szenerie einförmig, und der Weg-
zieht stundenlang durch ein enges, von Grashängen eingeschlossenes Tal,
Der Aul Kuxxvm in Halkar.
bis sich dasselbe zu einer ausgedehnten, mit Kulturen bedeckten l'"läche
weitet. Eine drückende Hitze herrschte, als wir um Mittag, vom beinahe
fünfstündigen Marsche erschöpft, die ersten Hütten der Dörfergruppe in
Balkarien erreichten. Hier wartete unser der tatarische Milizko.sak, der den
Digorier ablösen sollte. Hamsat Urussbiew war, wie uns mitgeteilt wurde,
zu unserer Begegnung hierher gekommen, aber Tags vorher wieder nach
Besingi zurückgekehrt, wo er uns erwartete. Wir wurden vom Starschina
empfangen und eingeladen, in seinem Hause abzusteigen. Wir mussten
aber noch eine Stunde im Tale wandern und an den Hängen am linken
Ufer des Tscherek ansteigen, bis wir die Hüttengruppe von Kunnym und
das Haus unseres Gastfreundes erreichten.
Die Lage des von einem hohen Turm flankierten Dorfes, hoch über
der Talsohle (115S m) ist hübsch. Man überblickt das Tal, in welchem
zerstreut noch mehrere Hüttengruppen sichtbar sind. Die Bergwände sind
am Fusse schwach bewaldet; im Norden tragen sie eine dolomitähnliche Zacken-
krone, nähern sich mit scharf geschnittenen rötlichen Felsausläufern und
schliessen das Talbecken. Bei unserm Einzüge in das Dorf eilten Männer,
Weiber und Kinder auf die flachen Dächer der Häuser, um von dort dem
Ereignisse zuzuschauen. Das uns zur Wohnung angewiesene Haus ist, wie
diejenigen, welche wir noch in den nächsten Wochen sehen .sollten, aus
Stein erbaut, mit der Rückseite an die aufsteigende Bergwand gelehnt, so
dass man von derselben eben auf das flache, mit Erde beschüttete Dach
gelangen kann. Längs der W)rderseite des Hauses läuft ein offener, über-
dachter Vorraum, ein Atrium, von Holzpfeilern gestützt. Eine niedrige Tür
führt in das Innere, das, ohne Fenster, ziemlich dunkel ist und einen offenen
Feuerherd enthält. Der Boden ist aus Lehm gestamjjft. Die Luft ist in
diesen fensterlosen, kaum ventilierten Räumen meist dumpf und feucht. In
denselben befindet sich hie und da ein niedriges, bettartiges Gestell oder
eine lange Sitzbank.
Bei unserer Ankunft wurde uns Tee vorgesetzt, mit kleinen, in Butter
gebackenen Kuchen, und dann kam zum erstenmal der Eiram der tatarischen
Bergbewohner des Kaukasus. Es ist dies saure Milch, mit Pilzen in Gärung
gebracht, mehr oder weniger sauer, dicker oder dünner, ein ebenso erfrischendes,
wie auch nährendes Getränk. Mir und meinen Schweizern mundete der
Eiram immer und in allen Formen sehr gut und bekam uns auch vor-
trefflich. Andere sind gegenteiliger Meinung und haben hierin abweichende
Erfahrungen gemacht. Im kaukasischen Hochgebirge, wo alkoholische Getränke
nicht zu haben sind, wo in den Kosch — den Sennhütten des Kaukasus —
Nachtlager in Kuwvm.
nur in den allersekensten Fallen Butter oder süsse Milch zu bekommen ist,
spielt der lüram eine grosse Rolle, und für diejenigen, welche sich damit
nicht befreunden können, gestaltet sich die ohnehin schon knapp bemessene
kaukasische Diät zu einer noch strengeren.
Gegen Abend wurde in der schon gelegentlich des Symposions bei
Karagubajew geschilderten Weise ein aus gekochtem Schaffleisch und Suppe
bestehendes Essen aufgetragen, und in der gleichen Reihenfolge der Konviven,
im vollsten Sinne des Wortes, coram publico, verzehrt, in Gegenwart zahl-
reicher Zuschauer, die sich in das Zimmer drängten, bei der Türe stauten
und oft wechselten, um, wie es schien, das ganze Dorf des seltenen und
erhebenden Genusses dieses Anblickes teilhaftig werden zu lassen. Dann
wurden auf dem lehmigen Fussboden Ochsenhäute au.sgebreitet, Unterbetten,
Kissen und Decken in grosser Menge von einer Unzahl von Dienstbeflissenen
herbeigeschleppt, die sich augenscheinlich aus der Zuschauerschaft rekrutierten.
Es war eine ziemlich zahlreiche, etwas gemischte Gesellschaft, die da wirr,
in rührendem Kommunismus nebeneinander auf der Erde ruhen sollte: Der
kais. russ. Staatsrat und Archäologe, Herr Dolbischew, meine Schweizer, der
Digorier Chagasch Karagubajew, früher im Konvoi in St. Petersburg, der Pferde-
treiber, zugleich Dorfnotar aus Kamunta, und ich. Für so viel schien Raum und
Bettzeug vorhanden zu sein. Aber auch der Träger und der neu angelangte Kosak
wussten sich noch ein jeder in einer Ecke ein Plätzchen zu erspähen. Nur
die bittere Armut dürfte den Menschen mit so \erschiedenen und sonder-
baren Schlafgenossen zusammenführen, wie dies auf Reisen in fern der
europäischen Kultur gelegenen Ländern und inmitten wilder Völkerschaften
vorkommen kann. \m Schlafraume wurde nicht nur meine Reiseausrüstung
aufgestapelt, sondern auch die Sättel und das Riemzeug der Pferde unter-
gebracht, und der gewiss abwechslungsreiche Anblick dieses Nachtlagers
wurde noch erhöht durch die schöne kaukasische Rüstung Karagubajews,
Säbel, Kindschal und Patronentaschen, welche an der Wand über seiner
Lagerstätte hingen, und durch die Instrumente und photographischen
Apparate, welche ich in meiner Nähe placierte. Ich hatte zwar vorgezogen,
meine Zeltmatratze und mein kleines Reisekissen zu benutzen und das
für mich bestimmte Bettzeug den Gefährten zu überlassen, aber ich glaube
trotzdem, dass man es nach der vorhergehenden Schilderung des Schlaf-
zimmers und bei der Nähe meiner .Schlafgenossen dennoch erklärlich finden
wird, wenn selbst das vorsorglich mitgenommene und hier zur Anwen-
dung gebrachte Pulver, trotz ausgezeichneter Qualität, ohne jede Wir-
kung blieb.
Bkk(;ta'1'ark.n i.m Norden des zkntkalen Kaikasus.
Bis tief heralj hingen am nächsten Tage die Wolken an den Berg-
wänden. Am Vormittage wurden unser Hausherr und seine Brüder, echte
Balkartypen, photographiert. Natürlich war wieder die ganze Einwohner-
schaft des Dorfes versammelt, ja ich glaube, dass auch die Bewohner der
umliegenden Dörfer auf die Nachricht unseres Eintreffens herbei-
geeilt waren.
Das Volk, welches das Tscherektal, sowie die gegen Westen fol-
genden Täler des Urwan (eines westlichen Zweiges des Tscherek), des
Balkaren.
Tschegem und des Bakssan bewohnt, ist ein tatarischer .Stamm mohamme-
danischen Glaubens, gehört also der uraltaischen Familie an. Wie bei
vielen der kaukasischen Bergvölker, ist ihre Herkunft ungewiss. Sie
werden oft als Bergkabardaer bezeichnet, obgleich sie mit den Bewohnern der
Karbada, des Landstriches in den kaukasischen Vorbergen, welche im Westen,
Norden und Osten die Flussläufe der Malka und des Tscherek begrenzen, in
früheren Jahrhunderten in keiner Blutsverwandtschaft standen und sich erst
später als Nachbarn diesem Zweige des Tscherkessenvolkes in ihren Ge-
bräuchen, ihrem Glauben und endlich politisch angegliedert haben dürften.
Ihre Sprache, die vieles von ihrer Ursprünglichkeit verloren haben soll,
Die Schluchten des Tsciierek.
ist nahe mit dcrjrniof'n dc;r Noo-aii-r und 'rnichmenen verwandt. Diese
lataren werden auch nach den Tälern oder den Hauptorten derselben,
in welchen sie ihre Wohnsitze haben, benannt: Balkaren (auch Mal-
karen) im Tscherektale, Besingier (auch Chulamer) im Urwantale,
Tschegcmer im Tale des Tschegem und die am Bakssan Wohnenden, nach
dem Hauptorte des Tales, LIrussbier.
Ihre Gesamtzahl beträgt 13000,
von welchen etwa 5000 Balkaren
sein sollen. W'ir werden in den
nächsten W^ochen und auf späteren
Reisen noch oft Gelegenheit haben,
Bergtataren zu beobachten.
Am Nachmittag machte ich
einen Ausflug in die im Norden
sich ötfnende Schlucht des Tsciie-
rek, in welche der Bergstrom aus
der Talweitung, in welcher die
Dorfgrupjjen von Baikar liegen, tritt.
Die kristallinischen Schiefer des
1 lauptgebirges stossen hier auf die
Formationen des Jura, deren Kette
der Tscherek durchbricht. Schon
vom l)reiten Talbeken des Tscherek
lallen die scharfen Grate, die
Zacken, welche die Höhen der
Jurakalkkette krönen, auf, uml die
rödich-gelbe Farbe lässt schon von
ferne das Gestein erkennen, aus
welchem sie besteht. Beim lün-
gang in die Durchbruchsschlucht
sieht man zur Linken hoch oben Ueberreste alter Befestigungen, mit
welchen, an gunstigen Orten angelegt, die Balkaren den Eintritt in
ihr Tal leicht sperren konnten. In der schluchtartigen Enge starren
die Wände steil und nackt, in Absätzen brüchigen Gesteins, auf
welchen sich nur selten niedriges Gestrüpp zu halten vermag, in die Höhe.
Der Tscherek schäumt und tobt in dem noch immer Widerstand bietenden
Kluftgestein, und mächtige Felstrümmer ragen hoch in seinem Bette auf. An
einieen Stellen hat der Bach 1 lohluneen am Fusse der Schluchtwände aus-
%_
^^^7^
Tscherek - Schi Li cht.
— 76 —
W'aI.DKKK'IIK VoKGEI'JKGS LANDSCIiAFI'.
^»■ewascheii uml unter weit vorspringenden Felskarniesen scliiesst das Wasser
dahin, lüne [irimitive, aus einigen Baumstämmen angelegte, schwankende
Hrücke führt hoch über den brausenden Bach an das rechte Ufer, wo kaum
Raum für den schmalen Steg ist. Am Ende des Defile bietet sich von einem
vorspringenilen Hügel, zu dem sich der Pfad emporgewunden hat, ein Blick
durch die wilde Engschlucht und zugleich die Aussicht gegen Norden, auf
eine offene, waldreiche, freundliche Landschaft, mit ihrem Kontraste ein
effektvoller Abschluss der Schluchtszenerien.
Kaukasische Waffen.
Aus der Eisregion des Midschirgi-Gletschcrs.
(Hochgebirge von Besinjji.
VI. KAPITEL.
Von Baikar in das Hochgebirge von Besingi.
The iJal.ifcs of Ntitui e, whose vast walls
Have pinnacleil in clouds their suowy scalps
And throwed Eternity in icy halls
Of colli sublimity. where forms and falls
The avalancho — thc thimdeibolt of snow!
Byron.
Aus dem obersten Tscherek-Tale sollte unsere Marschroute weiter
gegen Westen, nach dem Urwan-Tale, einem Zweige des Tscherek, lühren.
Schon am frühen Morgen des 5. August waren die Pferde und Träger be-
reit lind wir konnten schon um 7 Uhr von Kunnyni aufbrechen. Ich nahm
rührenden Abschied von unserm Gastfreunde und übergab ihm einen kleinen
RevoKer zum Andenken.
Das Wetter war trübe und blieb den ganzen Tag umwölkt. lün
langwieriger Anstieg von mehreren Stunden — mit den allerdings längeren
Kasten hatten wir nahezu sieben Stunden gebraucht — brachte uns auf die
Hohe des die Täler von Baikar und Besingi scheidenden Bergzuges. Der
Weg schneidet die I-'onuationen der jurakalke und der Tonschiefer. Der
— 78
llKCKl-SSlM; IM All. Tl IIKNKI. (HK.siNcr).
Uebergang ist ungefähr 3100 m (A. D.) hoch. Unter der Passhühe befinden
sich ausgedelinte Bergweiden, auf welchen Herden von zahh'eichem Horn-
vieh und Pferden sich herumtummelten. Mächtige I luncle hieken Wacht
und stürzten sich heulend auf uns, so dass, trotz der Rufe und des Herbei-
eilens der Hirten, wir uns mit Eispickehi kaum der wütenden Tiere erwehren
konnten. Wir wurden mit köstlichem Eiram gelabt. Der Abstieg wurde
rascher — in drei Stunden — ausgeführt, trotzdem wir eine Zeitlang im
Nebel die Richtung verloren hatten, bis wir wieder einen etwas ausgetretenen
Pfad erreichten, der in grosser Steile in das Besingi-Tal hinabführt, dessen
Dörfergruppen wir tief unter uns im baumlosen Hochtal erblickten.
Ueber den Besingizweig des Tscherek, auch Urwan genannt, führt
eine Brücke zu dem jenseits liegenden Aul Tubenel (1457 m).
Schon früher hatten wir drei Reiter bemerkt, die dahersprengten,
bei der Brücke von den Pferden stiegen und, wie es schien, uns erwarteten.
Eine Hünengestalt trat vor und begrüsste uns ; es war der Purst und
Starschina von Besingi. Nach ihm reichte uns sein Begleiter die Hand, ein
Verwandter des P'ürsten, der die Uniform eines kaukasischen Milizofhziers
trug, das Kleid der Bergbewohner mit den Achselklappen des russischen
Militärs versehen. Der dritte Mann, der Diener des P"ürsten, hielt die
Pferde. Vor dem Hause des Besingifürsten wartete unser Hamsat Urussbiew,
ein jüngerer Bruder des Fürsten Ismael, des Chefs der Familie, die in dem
zum Elbruss hinziehenden Bakssantale, im Dorfe Urussbieh, ansässig ist.
Fürst Hamsat, der mich während der Reise unter seinen Stammesgenossen
begleiten sollte, war ein Mann von hoher Gestalt, mit ausdrucksvollen Zügen,
blauen Augen, weissem Bart und Kopfhaar, welches, wie es scheint, vor
der Zeit erbleichte. In vollendeter Form fand die V^orstellung statt. Mehr
oder weniger trugen alle diese Bauernfürsten, mit welchen ich unter den
Bergtataren zusammentraf, ein vornehmes Benehmen zur Schau, dabei fast
immer ungezwungen, wie angeboren. Jedenfalls hat hierauf die Nachbar-
schaft und der enge Verkehr mit den Karbadaern eingewirkt, dem vornehm-
sten und gebildetsten Zweige der Tscherkessen. Während der folgenden
Wochen war Hamsat nach besten Kräften bestrebt, für unser leibliches
Wohlergehen und für die Erreichung meiner Reiseziele zu sorgen. Er
suchte immer die Gastfreundschaft der Tataren, seiner .Stammesbrüder, als
eine nationale Sitte derselben, mir eindringlich vor Augen zu führen. Für
meine Schweizer begann jetzt ein wahres Schlaraffenleben, fette Tage nach
mageren Wochen, die wir verlebt hatten. Die Hütte, welche der Fürst und
Starschina von Besingi für seine Gäste bereit hält, ist allerdings ein elender
TAI.LANDSCHAFI- (iliKRIIALI! TUBENEL.
liundestall. l'instcr und feucht, dürfte sie bei keinem, den je sein Geschick
chu-ch Hesingi geführt hat, angenehme Erinnerungen zurückgelassen haben.
Ein enges, schmales Bettgestell stand in dem Räume ; eine hölzerne Bank,
auf welche man kleine, buntfarbige Kissen legte, wurde herbeigebracht.
Bald dampfte der Samowar, und das anregende Nass wurde mit in Butter
gebackenem Kuchen gereicht. Und dann kam das ganze Menü eines Schafes
mit obligatem Schaschlik. Der Eiram floss in Strcimen.
Am folgenden Tage nahm ich von Herrn Dolbischew, der von hier
nach \\ ladikawkas zurückkehrte, Abschied. Ich war ihm vielen Dank
schuldig, nicht nur für seine Dienste, die er mir als Dolmetscher geleistet hatte,
nicht nur für seine angenehme Gesellschaft, sondern auch für die Bereit-
willigkeit, mit der er die Mühen und P2ntbehrungen während der nahezu
dreiwöchigen Reise, die im Gebirge zu Fuss zurückgelegt wurde, ertrug.
Ich hoffe, dass ihn die Erinnerung an die herrlichen Gletscherlandschaften,
die wir durchzogen. Mühen und Entbehrungen später vergessen Hess.
Gegen Mittag verliessen auch wir Tubenel. Der gletschererfüllte
Hintergrund des Tales war unser Ziel. An den Fuss jener Bergriesen wollte
ich gelangen, die wir im Panorama des Schtulivcek bewundert hatten,
und versuchen, einen derselben zu erklimmen. Unsere Kavalkade — wir
waren auf die Bitte Hamsats alle zu Pierde — bestand ausser mir und
den Schweizern aus Hamsat, seinem Diener, einem Tataren aus Tschegem,
der, wie es schien, seiner Person während der Reise in diesen Tälern als
Ehrenkavalier attachiert war, und dem Kosaken. Zwei Lastpferde mit einem
Treiber beförderten die Lagerausrüstung.
Der Aul Tubenel liegt an der Grenze des kristallinischen Schiefers
und der oberen Juraformation. Die mehrere Stunden lange Talflucht, welche
sich bis an den Fuss des Gletschers hinzieht, ist eine baumlose, steinige
Einöde. Die Talwäncle bestehen aus bräunlich gefärbtem Glimmerschiefer,
dem später Gneise und Gneisgranite folgen. Zum mächtigsten Erhebungs-
zentrum des Kaukasus führend, befremden die landschaftlich reizlose Kon-
figuration, die unbedeutenden Formen. Nur wenn der mächtige Eisstrom,
der oben die ganze Talbreite erfüllt, sichtbar wird, überrascht der in grosser
Steile und Wildheit über demselben sich erhebende Eiswall, ein Teilstück
des kaukasischen Hauptkammes. Aber an diesem umwölkten Nachmittage
fehlten im öden, farbenarmen Hochtale auch diesem Anblicke Licht und Leben.
Nahe beim Gletscher schlugen wir das Lager auf. Das Wetter
besserte sich gegen Abend. Ein Schaf wurde geschlachtet, und lustiges
Leben herrschte im Lao-er. Das lukullische Mal hatte auch die .Schweizer in
Laüerlkijen im Besingi-Tal.
gute Laune versetzt. Sie sangen Lieder aus den Alpen. Ilanisat rezitierte
in melancholisch klingender Melodie turko-tatarische Balladen, deren Refrain
die Eingeborenen mitsangen und in welchen auch wir später einfielen. Die
Fröhlichkeit erreichte jedoch den Höhepunkt, als Burgener seine Mund-
harmonika hervorsuchte und ein buntes Potpourri zum bestem gab. Ich
glaube, es war der Garibaldimarsch, der auch schon damals nicht mehr zu
den musikalischen Novitäten der Leierkastenmänner gehörte, mit dem er
seinen grössten Erfolg bei den
Tataren erzielte.
7. Augu.st. ■ — In strahlender
Reine war der Morgen hereinge-
brochen. Trotz unseres Taten-
durstes war es nötig, vorerst
sich in dem uns fremden Gebiete
zu orientieren und den Tag zur
Rekognoszierung zu verwenden.
Der ganze Talgrund ist, je mehr
man sich dem Gletscher nähert,
von Moränenschutt, Blöcken und
Geröll bedeckt, und Anhäufun-
gen derselben sind deudich als
alte Endmoränen zu erkennen.
Auch die Endzunge des Glet-
schers ist von Schutt und Ge-
röll bedeckt, das ihm ein schmutzi-
ges Aussehen verleiht. Alles deu-
tet auf einen stetigen Rückgang
des Gletschers hin, und derselbe
ist so bedeutend, dass auch die Bergbewohner dies bestätigen und
die älteren Leute sein früheres, tieferes Herabreichen erwähnen. Die
Zunge des Besingi-Gletschers endet bei 1993 m; er ist also nach dem
Karagomgletscher der an der Nordseite des Kaukasus am tiefsten herab-
reichende Gletscher. Aus einem weiten Gletschertor strömt der ungestüme
Bach, dessen Wasser so mächtig anschwellen, dass er fast nie zu Fuss, oft
auch nicht zu Pferde übersetzt werden kann. Die Endmoräne besteht aus
kristallinischen Gesteinen, in welchem Gneisgranite vorherrschen. Seiten-
moränen begleiten das in geringem Falle niederziehende Eisfeld, das im
unteren Teile der Mitte zu sich aufwölbt und nur von wenigen Spalten
Dechy; Kaukasus. 6
— 81 —
Urwan-Tal oberhalb Tubenel.
Der I5ksi\gi-Gletsci ikr.
diirchzüs^en ist. Der Besingigletschcr ist der yrösste Gletscher des Kaukasus;
er bedeckt mit seinem iMrngebiet eine Mäciie von nahezu 64 qkni; seine
Länge beträgt ungefähr 18 km, seine Breite durchschnitdich etwa i km. In
den Alpen übertritTt nur der eine Aletschgletscher durch die Vereinigung
eines weit ausgedehnten Mrngebietes mit einer lang gestreckten, schwach ge-
neigten Abflussrinne an Grösse den Besingigletscher; alle andern Alpen-
gletscher finden in den kaukasischen Gletschern würdige Rivalen, sowohl
was die von Mrn und Eis bedeckte Fläche, als auch die Länge der Eis-
ströme betrifft. Mit dem Besingigletscher kann sich unter den Alpen-
gletschern — abgesehen vom Aletschgletscher — vielleicht (die Resultate
der Messungen schwanken) nur der Gornergletscher messen. Diese Tat-
sachen waren jedoch damals unbekannt, und es bedurfte fortgesetzter
Forschungen, des Eindringens in die eisigen Hochregionen des Kaukasus,
des Begehens der grossen Gletscherströme und ihrer Firnbecken, um die
Wahrheit derselben zu erweisen.
Wir wanderten zuerst längs der Moränenrücken des linken Gletscher-
ufers und betraten dann das Eis. Auf den Seitenmoränen und auf dem
trümmerbedeckten Gletscher wurcien zwischen den vorherrschenden Gneis-
graniten, Syenite, Ouarz mit eingeschlossenem Glimmerschiefer, Pegmatite
und Diorite gesammelt. Je weiter wir auf dem Gletscher vordrangen, desto
mehr entwickelten sich die Grössenverhältnisse seiner Umrandung und die
eisige Mauer, die in einem ununterbrochenen Steilabsturze vor mir sich
erhob, übertraf an Grösse und Wildheit die gleichen Bildungen der Alpen.
Die Firstlinie dieses Bergwalles schneidet silberweiss in das blaue b'irmament
und bildet zur Rechten das sattelförmige Haupt des Katuin-Tau (496S m)
und nach einer sanften Einsenkung zur Linken die beiden Gipfel der
Dschanga (5051 m). Hinter den zum Gletscher ziehenden felsigen Seiten-
wänden liegen im Westen und Osten die Zuflü.sse des Besingigletschers,
und der mächtige Eiswall der Hauptkette findet dort seine Fortsetzung.
Am Gletscher machten wir Halt und versuchten, uns mit Hilfe
Hamsats und der Leute aus Besingi in der uns umgebenden Bergwelt zu
orientieren. Der eisbedeckte Hauptkamm, von welchem der Besingigletscher
niederzieht, wurde uns mit Tetnuld bezeichnet.*) Die Bergkette, die in
einem ösdich gewandten Bogen nach Norden zieht, wurde Kaschten genannt.
Die Bezeichnung wurde als Kollektivname für einen ganzen Bergzug, für
*) Der 4853 m hohe Gipfel des Tetnuld liegt aber tatsächlich in einem sich vom Haupt-
kamme gegen Süden abzweigenden Bergzuge. Der früher im .\nblickc des Hauptkammes von
Norden für den Tetnuld gehaltene Gipfel ist die 4880 m hohe Gestola, nördlich vom Katuin-Tau.
Topographie dks eiskif.x IIixtkkoki xdks.
ein Berggebiet, nicht t'iir einen bestinnnten Berg oder Gipfel, angewandt.
Nach den damals 7Air Verfügung stehenden kartographischen Angaben
mussten Koschtan-Tau und DNch-Tavi in dem Bergzuge liegen, der vom
Hauptkamme oberhalb des Besingigletschers sich loslöst und gegen Norden
streicht. Es waren die Berge, welche wir vom Schtulivcek-Pass erblickt
hatten, die aber sowohl Freshfield als ich auf unsern ersten Reisen unrichtig
identifiziert hatten. Die Topographie des eisigen Hintergrundes des Besingi-
tales, seiner Gletscher und der einzelnen Gipfel lag damals noch im Un-
klaren. Es ist eine eigentümliche Erscheinung im kaukasischen Hochgebirge,
dass die meisten seiner höchsten Gipfel sich hinter vorstehende Ouerjoche
verbergen oder — vom Hauptkamme losgelöst — in von hohen Bergen
umgebenen versteckten Ecken des Gebirges aufragen. Wir suchten damals
Koschtan-Tau, der als der höchste gemessene Gipfel nach Elbruss galt,*)
und beschlossen daher, uns den Bergen in der östlichen Begrenzung des
Besingigletschers zuzuwenden.
Wir überquerten den Gletscher, um an sein linkes Ufer zu gelangen.
Als wir uns demselben näherten, öffneten sich die Bergwände an dieser
Talseite, und wir blickten in ein weit und hoch in dieselben einschneidendes
Tal, aus dem ein mächtiger Gletscherstrom herabdringt, der sich an seinem
Ende fächerförmig ausbreitet, bn Halbkreise baut sich über demselben
steilklippiges, von Eis starrendes Gebirge auf. Das Felsgemäuer der hohen
Seitenwände wirft graue Schatten auf die im engen Tale liegenden Eis-
massen, welche in der Höhe, dort wo die Sonnenstrahlen darauf fallen,
um so weisser, blendender aufleuchten. In dieses unbekannte, unbenannte
Gletschertal wollte ich dringen, dort glaubte ich Koschtan-Tau suchen
zu müssen.
Zwischen dem Besingigletscher und dem Beginne dieses Seitentales
dehnen sich grüne Halden aus, welche eine reizende Alpenflora schmückt.
Ein Schafhirte hat sich hier mit .Steinblöcken, Stangen und Filzdecken einen
Unterstand gebaut — ein kaukasischer Kosch. Die Herde kletterte auf
den begrünten Felsflühen der Umgebung herum.
Die Eingeborenen nannten den Ort Midschirgi. Hier blieben unsere
Tataren zurück, da sie behaupteten, es sei unmöglich, über den Gletscher,
den ich nach den an seinem Fusse befindlichen Weidegründen Midschirgi-
Gletscher nannte, höher hinauf zu gelangen. Jedenfalls schien ihnen die
Rast beim Kosch ano-enehmer, als ein für sie zweckloser Marsch über Geröll
*) Diese Stelle blieb ihm schliesslich unter dem Namen Dych-Tau gewahrt, nachdem Jahre
hindurch Schchara ihm den Rang streitig zu machen gesucht hatte.
I)i:k MiDsciiiRi;! Gi.K'rstiiKR.
iiml l'.is, uiul ihi ich sie nicht Ijcnötiyte, Hess ich sie auch gewahren. Mine
Strecke hing, bis auf den Gletscher, gab uns noch Ilamsat das Geleite.
Im Tale, zwischen Besingi und Midschirgi ist das Terrain zuerst
begrünt, dann mehrt sich das Geröll und es erscheinen die stark entwickelten
Moränen des Midschirgigletschers. Die Form der Gletscherzunge macht den
Eindruck, als wäre der Gletscher wieder im Vorwärtsschreiten begriffen; sie
liegt in 2240 m Höhe. Ohne Zweifel vereinigten sich einst beide Eisströme,
die des Midschirgi- und des Besingi-Ciletschers.
Midschirgi-Gletscher.
Wir wanderten an der linken geröllbedeckten Talseite. Dann steigt
man an steilen Hängen, dem Laufe des Gletschers folgend, empor, bis man
auf eine hohe Seitenmoräne gelangt. Die Moräne wird schmalkantig, scharfe
Schneiden bildend, ihre aus .Sand und Geröll zusammengebackenen Hänge
fallen zu beiden Seiten sehr steil ab. Auch in den Alpen haben Seiten-
moränen — insbesondere diejenigen der Daui)hinegletscher — oft diese Be-
schaffenheit, aber dort haben entweder schon früher Jäger und Hirten, oder
in den letzten Dezennien Touristen und ihre Führer einen Pfad durch öftere
Begehung getreten, oft geebnet, wenn nicht längs derselben zu einer Alpen-
Moränen i.m Kaukasus.
klubhütte eine Weganlage erstellt wurde. Nicht so im Kaukasus; hier ent-
faltet sich die Natur noch in ihrer ganzen Ursprünglichkeit, unberührt von
Eingriffen des Menschen. Lange kletterten wir über den scharfen Rücken
und die Blöcke tler
Moräne. Je höher wir
steigen, desto höher
wächst die wilde Um-
gebung ; die Fels-
wände zur Rechten,
die mit zackigen Gra-
ten sich erheben, tre-
ten zurück, und der
Blick dringt in die
Firnregion des Mid-
schirgigletschers, über
welcher jetzt eisige
Höhen in ungeahnter
Herrlichkeit erschienen
sind.
Im Westen sinken
zwischen scharfkanti-
gen, gebrochenen Fels-
bollwerken Gletscher-
zuflüsse herab ; im
Süden liegt das sich
weit hinaufziehende
Firnbecken des Mid-
schirgigletschers, und
darüber ragt der aus
eisbepanzerten Klip-
pen, mit Feldern ab-
stürzenden, zerschrun-
deten Firneises sich
aufbauende Wall, von der zackengekrönten Eiswand des UUuauss- baschi
(4679 m) bis zu den felsdurchbrochenen Firnwänden des vielgipfligen Midschirgi-
Tau (4926 m) und der mächtigen Firnkuppe des Dych-Tau (5198 m). Der
Granit des Kaukasus hat hier Bergformen von ausserordendicher Steilheit, von
unsäglicher Wildheit geschaffen. Im Banne dieser hehren Naturschöpfung blieb
Eiswall mit Dych-Tau vom M idschirg i-Glctscher.
85
üiE Firnregion des Midschirgi-Gletsciiers.
ich, überwältigt, einige Augenblicke in Bewunderung versunken. Dann aber
wurde rasch der photographische Apparat aufgestellt, denn schon zogen in
verräterischer Ruhe, langsam vom Süden über eine Einsenkung der eisigen
Kämme, kleine, weisse Wolken.
Weiter wanderten wir über Hänge alten Lawinenschnees, dann wieder
auf dem mit Schnee bedeckten, massig ansteigenden Eise des Gletschers,
die rechte Felsecke umgehend, immer höher hinauf, in die von keines
Menschen F"uss betretene Firnregion des Midschirgi. Mit uns zogen die
Wolken, die sich immer mehr verdichteten, und von allen Seiten stiegen
Nebel auf. Wir waren in einer kleinen Firnbucht und, in einer steilen
Rinne Stufen schlagend, gelangten wir auf die Höhe eines Felsabsatzes.
Es war 2 Uhr nachmittags, als wir unsern höchsten Punkt im Firnkessel
des Midschirgigletschers, zu dem wir emporgedrungen waren, erreicht hatten.
Zur Linken blickte man jetzt weit in das gegen Osten emporziehende Firn-
becken, in welches die Grate des Dych-Tau niederziehen. Die wogenden
Nebel erhöhten die Wildheit der Szenerie, welche die grossartigsten Er-
scheinungen des firn- und eistragenden Hochgebirges bietet. Der Riesen-
wall, der dort im Firnbassin des Midschirgi steht, übertrifft durch die Höhe,
zu welcher er sich aufschwingt, durch die Steilheit seiner Fassaden, durch
die Zerrissenheit, das Abstürzende seiner Eisbedeckung und die Riesengrate,
welche bald als scharfe Firnschneiden, bald als gebrochene Felskanten zu
den Gipfeln emporziehen, alles, was die Gebirgswelt der Alpen in ihrer
schneebedeckten Hochregion entrollt.
Wie .soll es möglich sein, mit Worten solche Pracht, solche Grösse
zu schildern? Liegt nicht die Gefahr nahe, in den Mitteln der Darstellung,
die dem Schilderer der Natur zur Verfügung .stehen, unter dem starken
Eindruck des Erschauten, zu den Superlativen der Sprache die Zuflucht zu
nehmen, im Glauben, damit den Massstab zu erreichen, mit dem Grosses
zu zeichnen wäre? Wie soll es dem Reisenden im fremden, in eisumgürteter
Weltabgeschiedenheit starrenden Lande möglich sein, seiner Schilderung
die überzeugende Kraft zu leihen? Und ist es nicht möglich, dass das Auge
des Reisenden .sich trübt' Durch die Neuheit der sich ihm als ersten
erschliessenden Welt angeregt, blickt er trunkenen Sinnes auf dieselbe, die
Erinnerung an das Altbekannte schwindet vielleicht vor dem überwältigenden
Eindruck, mit dem der neue, unerwartete Anblick ihn gefangen nimmt, die
Vergleiche, welche die Worte anstreben, fälschen sich unbewusst, und die
Hand, welche den Stift führt, zittert und folgt vielleicht zu willig dem
Enthusiasmus des Forschers. Wie oft ist dies in der Geschichte der Ent-
Photograi'iiischk Dakstkli.ung der Hociiregiox.
deckungsreisen der Fall gewesen 1 Allein das Bild, welches sich dort in i\i;n
Firnregionen des Midschirgigletschers mir entrollte, es zeichnete sich mit
gleichen Linien, in gleichen Abstufungen wie auf tler Netzhaut meines
Auges, in der Linse des photographischen Apparates. Mit überzeugender
Kraft bestätigten die
von meiner ersten
kaukasischen Reise
heimgebrachten
photographischen
Aufnahmen, die ers-
ten aus den eisbe-
deckten Hochregio-
nen des zentralen
Kaukasus, die Schil-
derungen seiner ers-
ten Pioniere. Und
dass diese photo-
graphischen Bilder,
mehr als alle Worte
und Schilderungen,
die bis dahin fast
ungehört verhallten,
das Interesse für die
kaum geahnteGrösse
und Pracht der kau-
kasischen Hochge-
birgslandschaft an-
gefacht haben, und
dass sie Dokumente
der Wahrheit und
des Beweises für
Behauptungen wur-
den, die gegen die
damals herrschende Auffassung über eine Reihe von Erscheinungen der
physischen Natur des Kaukasus von P'reshheld und mir geäussert wurden,
ist und bleibt mein schönster Erfolg.
Der orographische Aufbau des Gebirges, die mächtigen Ansamm-
lungen von Schnee und Firn, die gewaltige Ausdehnung der Gletscher, wie
M i d s c h i r g i - T a u vom M i d s c h i r g i - G 1 e t s c h e r.
87 —
Topographische Rätsel.
sie der Hintergrund des Dychssu -Tales mit seinen Gletscliern, der Eisstrom
des Besingi mit seiner Umgebung untl die Firnregion des Midschirgigletschers
mir vor Augen führten, widerlegten in entscliiedener Weise die irrigen
Angaben der geographisclien Lehrbücher, der Mitteikmgen und Karten, von
der für die l'Lntwickhmg von Gletschern ungünstigen Struktur des Kaukasus,
vom Mangel weiter Firnbecken, von der geringen Ausdehnung seiner
Gletscher im Vergleiche zu den Alpengletschern, und dass nur im Massiv
des Elbruss und am Kasbek die relativ grössten Ansammlungen von Firn
und Gletscher zu finden sind.
So begeistert ich aber auch von dem sich mir bietenden Anblicke
in der Firnregion des Midschirgi war, F"els und Schnee in ihren gross-
artigsten Bildungen, sie blieben für mich namenlos. Im Notizbuche, das
ich auf dieser ersten Reise führte, finde ich die Bemerkung: »Koschtan-Tau*)
muss rechts von meinem Standpunkte liegen, ganz rechts, ein hoher Wall —
prächtige Fishänge und Felsen.« So ist es auch, aber nichts bestätigte
damals diese Vermutung. Wir kehrten aus der Firnregion des Midschirgi-
gletschers in unserm Wissen und um eine herrliche Erinnerung reicher
zurück, aber die Lage des damals mit der Bezeichnung Koschtan-Tau für
den höchsten Gipfel der Besingi-Gruppe gehaltenen Berges konnten wir mit
Sicherheit nicht angeben. Es war uns klar geworden, dass wir uns an der
linken, westlichen Seite der Talwände über dem Besingigletscher zu
bedeutender Höhe erheben müssten, um einen Ueberblick über den sich
vom Hauptkamme loslösenden und gegen Norden streichenden Zug zu
gewinnen, in dem Koschtan-Tau und Dych-Tau sich erheben, und dies sollte
die Aufgabe des morgigen Tages sein.
Am späten Nachmittag waren wir wieder beim Kosch am Ausgange
des Midschirgitales. Ein Lamm war unterdessen geschlachtet worden, imd
Hamsat wartete unser in fürsorglicher W'eise mit Schaschlik und mit
erfrischendem Getränk, mit wasserverdünntem Eiram. F)ie Schafe der
Bergtataren gehören einer im Kaukasus verbreiteten Rasse von F"ettschwänzen
an. Das Fleisch der Tiere und auch die Fettschwänze sind sehr zart und
haben nicht den eigentümlichen Geruch, den Hammelfleisch so oft besitzt.
Die Eingeborenen wollten keine Bezahlung annehmen, und ich konnte nur mit
Mühe den jungen Sohn des Schäfers zur Annahme eines Geldstückes bewegen,
da ich diesmal Geschenke, die für solche Gelegenheiten bestimmt waren.
*■) Der damals als Koschtan-Tau, in den letzten Jahren aber als Dych-Tau in die kaukasische
Literatur eingeführte Gipfel.
nii-niK-Basrhi 4fi7
Midschirgi-Taii 4926
Bergrund aa\ Aidsq
Dych - Tau - Qrat (?)
urgi-Gletscher.
Unwettkr im Lagi:r.
nicht mit hatte. Die Leute in diesen Tälern bezeugten Hamsat viel Achtung
und, wie es schien, auch Liebe, und die Bewirtung galt immer in erster
Reihe ihm und seinen Gästen.
Das Wetter hatte sich unterdessen immer mehr verschlimmert;
finstere, schwere Regenwolken hatten das Firmament um/.ogen, und dichte
Nebel lagen auf den Bergen. Das Barometer war tief gefallen.
Welch abenteuerlichen Anblick gewährte an diesem Abend unser
Lager ! In der tief schwarzen Nacht erleuchtete das Aufflackern des lodernden
Feuers die Umrisse der trostlos öden, wilden Umgebung. Die Bergbewohner
lagen zusammengekauert, in ihre Burkas gehüllt, um das Wachtfeuer. Wir
suchten uns gleichfalls vor Kälte und Nässe zu schützen, denn bald nach
unserer Ankunft begann ein schwacher Nebelregen zu fallen; dabei wurde
es empfindlich kalt. Wolljacken, Lagerkappen, Kautschukmäntel wurden
hervorgesucht und angelegt. Unser Anblick hätte gewiss nicht weniger
fremdartig gewirkt, wenn man uns gesehen hätte, als der, den die Berg-
bewohner boten. Doch trotz des schlechten Wetters herrschte festliche,
fröhliche Stimmung im Lager, denn wieder war ein Schaf geschlachtet
worden, immer ein Fest für die Bergbewohner und vielleicht auch für meine
Schweizer. An langen Spiessen zischten die Fleischstücke über dem offenen
Feuer, und des Bratens und Kochens war kein Ende:
»Als sie das Fleisch nun gebraten und von den Spiessen gezogen,
Teilten sie's allen umher und feierten das prächtige Gastmahl.«
Odyssee III.
Und wieder erklangen die monotonen Lieder der Tataren, das Rezitativ, in
welchem Hamssat die Taten irgend eines Turkhelden erzählte, und Burgener
spielte seinen Garibaldi - Marsch, wie immer, die Glanznummer des Pro-
grammes. Nur ich konnte an der allgemeinen Fröhlichkeit nicht teilnehmen,
denn das Wetter wurde immer trostloser, aus dem leichten Sprühregen
wurde ein heftiger Regenguss, den der Sturm grollend durch das Hochtal
peitschte, und der uns in das Zelt trieb.
8. August. Trüb und mit Regenschauern brach der Morgen an.
Ich wartete lange, aber als jede Hoffnung auf Besserung schwand und alle
Anzeichen für andauernd schlechtes Wetter sprachen, gab ich schweren
Herzens Befehl, nach Besingi zurückzukehren. Ich hatte mich entschlossen,
noch am gleichen Tage die Reise westwärts tortzusetzen. Es war der
8. August und noch ein grosser Teil des Reiseprogramms lag unerfüllt \or
mir : das Gebiet des Elbruss musste besucht werden, die Ersteigung seines
höchsten Gipfels bildete ein Hauptobjekt der Reise, der Hauptkamm sollte
RÜCKKKllR NACH BKSINGI.
auf einem Gletscherpasse südwärts üljerschritten und das Hochtal Swanetiens
bereist werden. Trotzdem wir seit BeL,nnn der Reise im Gebirge immer
\orwärts kamen und kaum einen Tag untätig waren, hatten doch die grossen
Entfernungen viel Zeit in Anspruch genommen. Unter diesen Umständen
und in Anbetracht des vorgeschrittenen Sommers wollte ich das wahrschein-
lich einiee Tagre andauerntle schlechte Wetter dazu benutzen, um so rasch
Der Fürst \un Liesinyi und seine Getreuen.
als möglich nach Urussbieh zu gelangen und dann mit den ersten schönen
Tagen Elbruss in Angriff zu nehmen.
In Besingi, wo wir vor Mittag eintrafen, wurden sofort alle Anord-
nungen behufs Weiterreise getroften, bei welchen uns Hamsat nach Kräften
unterstützte. Im dumpf feuchten Gastquartiere wurde wieder ein grosses
Schafdiner serviert. Peter aber lag krank und bekam eine Do.sis von
lo Gramm Chinin. Es schien, dass ihm die Diät der ersten Wochen auf
der Reise besser bekommen war, als die Schafgelage der letzten Tage.
Wir nahmen Abschied von unserm Gastgeber, dem Fürsten von
Besingi. Der schweigsame Riese drückte mir die Hand und sprach dazu
einige mir unverständliche Worte, jede seiner Bewegungen voller Würde.
— 90 —
Der Fürst von Hesix(;i.
Geschenke, die ich ihm zurückliess — ein Messer, eine Geldbörse, einen
Kompass — um die Richtung Mekkas zu bestimmen — , Taschenspiegel
für die Frauen, die so schön ihres Amtes in Küche und im Eiramkeller
gewaltet hatten — schienen ihm Freude zu bereiten, und das sonst so traurig-
melancholische Antlitz erhellte sich für einige Augenblicke.
Es war trotz allen Drängens doch 3 Uhr geworden, bis wir auf-
brechen konnten. Die ganze Bevölkerung Tubeneis war auf den Dächern
versammelt, schaute unserm Exodus zu und begrüsste Hamsat Urussbiew.
Ein Trupp Reiter auf flinkrn, kleinen Rossen gab uns eine Strecke weit
das Geleit.
Kaukasische Trinkge fasse.
Mittleres Bakssan-Tal.
VII. KAPITEL.
Von Besingi nach Tschegem und zu den Quellen
des Bakssan.
— Comest tliou
To See Strange forcsts aml new snows
Aiul troail ujiliftea lan.i:-
EmtTSon.
Der Weg, welcher von Besingi über den die Täler des
Urwan und des Tschegem scheidenden Bergrücken führt , zieht
fast an der Grenze der Glimmerschiefer und juras.sischer Gesteine,
immer ansteigend, in die Hühe. Der Ueberblick, den man über
das Gebiet von Besingi gewinnt, wird immer freier. Man sieht,
wie das nunmehr schon tief zu unsern Füssen liegende Tal unterhalb
Aul Tubenel schluchtiee En^ren bildet und der Bach in einer
92
All, 'rs(iii:(;i;M r\u Dil', Sem. i cht des ]JsrHii.Ki-Ssu.
schiesst plötzlich v\n hoher l'ii-nyiplc'l aus den Wolken; es muss Koschtan-Tau
gewesen sein. Doch nur für Augenblicke; denn immer tiefer senk<Mi sich
die Wolken, immer schwärzer wird der Himmel. Ileulentl streicht der Wind
über die weiten Hochflächen, welche wir nach scharfem Anstiege erreichten,
und ijeitscht den strömenden Regen. Die breite; uml begraste Sattelhöhe
liegt im Tonschiefer, 2473 m hoch.
In grosser Steile zieht jenseits der Pfad in die Tiefe. Dort wird
später, nachdem der Regen aufgehört hat und Wolken und Nebel sich lichten,
die Flucht des Tales und unter hohen, nackten Felswänden die liütten-
gruppe des Aul Tsche-
gem sichtbar, • — an die-
sem stürmischen Abend
ein düsterer Anblick.
In finsterer Nacht
— es ist halb neun
Uhr — kommen wir in
Tschegem an. Gastlicher
Empfang wartet unser
beim Fürsten von Tsche-
gem. Bald erwärmt der
vom Samowar ge-
schänkte Tee die von
Kälte und Nässe er-
starrten Glieder. In
dem uns eingeräumten
Zimmer wird für mich in
einem grossen, breiten
Bettgestelle das Lager
bereitet. Die Betten
tragen zwar unzweifel-
hafte Spuren öfteren
Gebrauchs, aber es wäre
eine zu grosse Krän-
kung für unsern Gast-
geber gewesen, sie nicht
zu benutzen. Mit meiner
Plaiddecke gelang es,
zwischen mir und dem Aul Tschegem.
93
FkKMi)AK'n(;K Laxdsciiakt um Tsciiegem.
Bettzeug eine Isolierschicht herzustellen; mit welchem Erfolge, sollte die
Zukunft lehren.
9. August. Gegen morgen hatte der die ganze Nacht anhaltende,
strömende Regen zwar aufgehört, aber graue Nebel und drohende Wolken
hingen über den Bergen. Erst gegen Mittag besserte sich das Wetter, und
die Sonne durchbrach auf kurze Zeit die NebeUvolken, zu spät jedoch, um
noch heute die Reise fortzusetzen. Um einen Ueberblick über die Talland-
schaft zu gewinnen, überschritt ich die Brücke über den Tschegem-Bach und
stieg an den jenseitigen Bergwänden empor. Das Talgehänge um Tschegem
ist waldlos ; die im Südwesten liegenden Lehnen begrünt. Die kahlen Berg-
wände im We.sten, uns gegenüber, bestehen aus lebhaft, bald rötlich, bald
gelblich gefärbtem Kalkgestein, welches pittoreske Formen geschaffen hat,
und mächtige Steilmauern, von Schichtbändern durchzogen, erheben sich
fast senkrecht in die Höhe. Dort, wo sie sich spalten, schliessen sie eine
enge, finstere Schlucht ein, welcher die Wasser des Dschilkisu entströmen,
die dem nahen Tschegembache zueilen. Am Ausgange der Schlucht, unter
den hohen Felswänden derselben, gruppieren sich im ansteigenden Tal-
grunde die Steinhütten des Aul Tschegem. Im südlichen Talschlusse wird
durch Wolkenrisse schneebedecktes Gebirge sichtbar. Es ist ein eigenartiges
Bild, das diese Tallandschaft bietet, und das Fremdartige desselben wird
durch die kaukasische Architektur dieser Steinhütten, durch einige alte, halb-
zerfallene, viereckige Wachttürme und durch das Minaret einer aus Holz er-
bauten Moschee erhöht. Gewiss, schön im alpinen Sinne könnte ich die
Lage Tschegems nicht nennen. Man möge sich kein kaukasisches Zermatt
oder Grindelwald oder Heiligenblut vorstellen. Den höchstgelegenen Dörfern
in den nördlichen Ouertälern des zentralen Kaukasus fehlt zumeist der offene
Blick auf ihren schneeigen Hintergrund, von dem sie noch in zu grosser
Entfernung liegen ; sie sind vegetationsärmer, viel rauher als die
trotz ihres eisigen Talschlusses liebliche Züge aufweisenden Punkte
der Alpentäler am Fusse ihrer Hochgipfel. Nur das Hochgebirge
des Dauphine kann vielleicht in seinen oberen Tallandschaften mit
diesen kaukasischen Tälern ähnliche Züge aufweisen. Aber höchst inter-
essant ist doch der Anblick, den Tschegem in seiner rauhen, ernsten
Grösse bietet.
Beim Fürsten von Tschegem war es damals gut sein. Als ich von meinem
Ausfluge zurückkehrte, wurde ein grosses Diner aufgetragen und dazu ein im
Dorfe gebrautes, dunkles, bierähnliches Getränk gereicht. Es schmeckte,
wie das uns in Dio-orien vorgesetzte, süsslich, und es gehört viel
Heim Fürsten von Tschegkm.
Einbildungskraft dazu, dasseH)c als Hier zu bezeichnen. Abentls wurtle
Tee serviert, und hier sahen wir auch zum erstenmale die junge;!!,
hübschen Damen des Hauses in ihrer Nationaltracht. Sie besteht
aus einem an der Brust mit silbernen Borten verschnürten Kleide
mit grossen silbernen Knöpfen, faltenreichem Rock und weiten,
über die Hände herabreichenden Aermeln. Die beiden Damen
trugen prächtige Gürtel, von welchen der eine mit filigranartig
gearbeiteten Verzierungen, der andere mit roten Steinen besetzt war.
Das interessanteste war die Kopfbedeckung, hohe, runde, steife
Mützen, welche gleichfalls breite Silberbänder und Knüpfe zeigten.
Sowohl in Tschegem als auch später in Urussbieh fielen
die entschieden hübsch zu
nennenden, scharf geschnitte-
nen Gesichtszüge, der reine
rosige Teint der zu den fürst-
lichen Familien gehörenden
Frauen auf, im Gegensatze
zu den andern Tatarinnen,
die wir aul unserer Reise,
zumeist mit schwerer Arbeit
beschäftigt, zu sehen Gelegen-
heit hatten. — Während die
Männer in den Dörfern den
ganzen Tag unter endlosen,
nie versagenden Gesprächen
mit Nichtstun verbringen,
sieht man die Frauen nicht
nur im Hause, sondern
auch am Felde nahezu
alle Arbeit — auch die
schwerste — verrichten.
Es sind zumeist schreck-
liche Gestalten, die früh
altern , und es muss wunder
nehmen, dass sie Mütter
eines kräftigen Geschlechts,
wie die Berg-Tataren, sein
können. Prinzessinnen in Tschegem.
Das MlTTKI.CKllIRGK ZWISCIIKX TSCIIECEM UND HaKSSAN.
Am lo. Auoiist wurde die letzte Etappe der Route in x\ngrifT
genommen, welche, aus dem Ardontale die aufeinander folgende Reihe der
Ouertäler kreuzend, nach dem am Fusse des Elbruss entspringenden
l^akssantale führte. Leider mussten wir am Morgen, der leidHch schön war,
bis um lo Uhr warten, bis die bestellten Pferde eintrafen. Selbst bei der
durch die Begleitung Hamsat Urussbiews uns im grössten Masse zuteil
gewordenen gastfreundlichen Aufnahme, und trotz dessen Fürsorge, war es
ganz unmöglich, den Bergbewohnern die Notwendigkeit eines frühen
Aufbruches oder überhaupt den Begriff des Wertes der Zeit beizu-
bringen.
Wir zogen stromabwärts durch ein Defile des Tschegem, weniger
grossartig und wild als die Schlucht des Tscherek, aber schöner in den
r'ormationen der Fel-swände und farbenreicher im Gestein. Eine Brücke
führt an die rechte Talseite und talauswärts, wir bleiben jedoch noch eine
Weile am linken Talgehänge und wenden uns dann nordwestlich in eine
kahle, öde Steinschlucht. Der ganze Weg, welchen wir durch viele Stunden
verfolgten, geleitet durch ein orographisch merkwürdiges Terrain. Dasselbe
trägt den Charakter des Mittelgebirges. Auf steinige Schluchten, durch
welche Bergwässer strömen, folgen wellige, begraste Hochflächen, dann
wieder Scheiderücken, welche zu übersteigen sind. Bald werden die For-
mationen des Jurakalks durchquert, bald tritt man wieder in die Schiefer-
zone. Man trifft auf höchst pittoreske Felspartien. Zwischen senkrechten
Felswänden öffnet sich torähnlich ein Durchgang. Dann kommt man wieder
auf eine begraste Hochfläche, auf welcher zahlreiche Herden weiden. Sonst
ist es still und einsam auf diesen Höhen.
Im Gestendi-Tal, unter einer Felsbalm, lagen zwei verlassene Hütten,
wo wir am Nachmittag unser Lager aufschlugen. Der Regen, welcher mit
wenigen Unterbrechungen tagsüber fiel, hatte aufgehört. \'om forellenreichen
Bache hat Fürst Hamsat schöne Beute heimgebracht. Auch ein Schaf wird
geschlachtet, und es gibt im Lager viel Arbeit mit Kochen und Essen.
1 1 . August. Um 8 Uhr sind wir marschbereit. Ein Querriegel
trennt uns noch vom Bakssan. Von der Höhe blickt man in sein weites,
ödes Hochtal. Keine Hütte, kein Baum, nur wenig Grün im Talgrunde und
am Fusse der Talwände ist sichtbar. Am linken Ufer des in scharfer
Biegung niederziehenden .Stromes erheben sich steil ansteigende Terrassen.
Die Landschaft, verschieden von den Talbildern der Alpen, erinnert, wenn
sie auch bedeutend kleineren Massstabes ist, mehr an die Täler des nord-
westlichen Himalaja. Ein grosser Adler zog ruhig seine Kreise im einsamen
Das Hakssantai,.
Bergtale uikI Hess sich auf einem I'^lshlock nieder. Ein wohloezielter Schiiss
Burgeners holte ihn herunter.
Der folgende Talabschnitt ist von aufstrebendem Walde bedeckt, in
Seitenschluchten erscheinen Firngipfel, und auch im Vorblicke wird schnee-
bedecktes Gebirge sichtbar. Das Tal weitet sich und nimmt wieder den
Charakter grosser Einförmigkeit und wilder Oede an. Durch die Regengüsse
der letzten Wochen war der Bakssan mächtig angeschwollen, überstieg seine
Ufer, überflutete die ganze Breite der Talsohle und hatte arge Verwüstungen
angerichtet. In mehrere Arme geteilt, schiesst das wilde Wasser über den
mit Steintrümmern und gebrochenen Baumstämmen bedeckten Talgrund.
An manchen Stellen ragen die Spitzen hohen Gestrüpps aus dem Wasser.
Weit hinauf blickt man durch das stufenförmig ansteigende Tal. Nebel,
die dem ausgegossenen Wasser entsteigen, haben sich ringförmig in der
Mitte desselben gelagert. Oben aber erglänzen, in weichen Earbenschmelz
der feuchten Atmosphäre getaucht, im Abendlichte rötlich schimmernd, die
Schneelager des den Talschluss bildenden Dongusorun- Gebirges.
Aus der Talsohle verdrängt, windet sich der Pfad an den Wänden
bergauf, bergab. An der linken Talseite erblickt man das Dorf Urussbieh,
die bedeutendste und letzte Ortschaft im Bakssantale; kaum dass die Hütten
vom Grau des Felsgehänges zu unterscheiden sind, an welches sie sich
lehnen. Der Aul Urussbieh liegt in einer Höhe von 1500 m in einer Ein-
buchtung der Tahvände, welche \on den aus Norden und Nordwesten
kommenden Bächen des Kyrtyk-Ssu und S\'ltran-Ssu umschlossen wird. Im
breiten Talgrunde, über die teils mit Geröll, teils mit Gras und niedrigen
Sträuchern bedeckten Flächen, schiessen die stürmischen Gewässer des
Bakssan dahin. Sorgsam gepflegte Kulturen und Heuschläge werden von
aus Steinblöcken aufgeschichteten Mauern umgrenzt. Spärlicher Wald bedeckt
in dieser Talstufe den Fuss der Talwände, über welchen sich die aus hoch-
kristallinischen Gesteinen, Gneisen und Gneisgraniten erbauten Kammzüg-e
erheben. Im Südosten, Urussbieh gegenüber, öftnet sich zwischen einer in
der Höhe gezackten und schneebedeckten Felskette das Seitental des
Adyr-Ssu, in dessen Hintergrund der mächtige Firngipfel des Adyrssu-Basch
(4370 m) sichtbar ist. Der aus dem schluchtig in die Bergwand sich
einschneidenden Tale hervorbrechende Adyrssu fliesst dem Bakssan zu.
Talaufwärts schliesst die Landschaft die als Wahrzeichen Urussljiehs sich
geltend machende, breite, firnbedeckte Masse des Dongusorun (446S ni).
Eine gute Brücke führt über den reissenden Bak.ssan zum Aul. Auf
einem kleinen, freien Platze erwarteten uns die Mitglieder der iürstlichen
Dechy; Kaukasus. J
— 97 —
KXJAS ISMAEL UKUSS1;1I;\V IMi SKINK I''a.MILIE.
I'^amilic von Urussbieh. Es war ein wariiirr Willkomm^russ, den mir damals
ihr Chef, Ismael Urussbiew, bot. Wir wurtlen in das für Gäste bestimmte
Haus geleitet, ein Holzbau nach russischer Art, mit gedieltem Boden,
Fenstern und Türen, welches sich im Gehöfte des Fürsten, gegenüber
seinem eigenen, landesüblichen Steinhause befindet. Bald kam auch der
russische Samowar, der überall in diese Hochtäler gedrungen ist, und dann
ein reichliches Nachtessen. Von der zahlreichen Familie meines Gastgebers
waren damals in Urussbieh nur sein Sohn Naurus, ein i 8 jähriger junger Mann,
seine Brüder
Hamsat, unser
Reisegefährte,
Mohammed, ein
Mann von Rie-
sengestalt und
grosser Körper-
kraft, und df
Bakssan-Tal bei Urussbieh, mit Dongusorun im Hintergrunde.
jüngste, der Starschina von Urussbieh, anwesend. Die weiblichen Mit-
glieder hatte ich damals, nach mohammedanischer Sitte, keine Gelegen-
heit zu erblicken, obgleich ich später die jüngeren Damen nicht nur
sehen, sondern auch photographiercn konnte. Ich glaube übrigens,
dass eben das letztere eine Handhabe zur l'mgehung der Gebote
gab. Aber schon bei meinem ersten Aufenthalte in Urussbieh hatte ich
Gefühle grössten Dankes für die F"rauen des Hauses gehegt, weil ich doch
ihnen zu verdanken hatte, dass in unsern Menüs einige Abwechslung
eintrat und wir nicht nur gekochtes oder am Spie.ss gebratenes Schaffleisch,
mit oder ohne .Schafbrühe, welches wochenlang ausser den Konserven unsere
einzige Nahrung bildete, vorgesetzt erhielten. Die Unterkunft im Holzbau
des Fürsten war ijfleichfalls die beste im Kaukasus. Es gab drei Zimmer,
PpaNZESsiN Urussbiew [ Bergtatarin)
FKiERLiciiER Empfang in Ukussiueii.
und vor dem mittleren, kleinsten, welches als Speisesaal und Empfangssalon
diente, lag eine offene \'orhalle. Im links anstossenden grössten Zimmer
wurde für uns das Nachtlager, nach der Sitte des Landes, am Boden her-
gerichtet ; grosse Ochsenhäute wurden ausgebreitet und auf dieselben dann
Bettzeug, Decken, Kissen, runde Schlummerrollen gelegt. Das rechts liegende
Zimmer schien der Gastraum für einheimische Gäste zu sein. Im ersten
Zimmer befand sich eine Bank, ein hoher, viereckiger Tisch und zwei bis
drei Stühle. Weiter gab es Teller, Gläser und Essbestecke, alles Dinge,
die man im kaukasischen Hochgebirge als ungekannten Luxus betrachten
muss. Allerdings legte uns trotzdem der Hausherr auch jetzt das P'leisch
mit den Fingern vor, und es schien als Auszeichnung zu gelten, wenn der
Vornehmste unter den Gästen auf diese Weise den mit .Sachverständnis
ausgewählten besten Bissen erhielt. Aber wenn man bedenkt, dass nach
mohammedanischer Sitte, sowohl vor als nach dem Essen, Waschwasser für
die Hände herumgereicht wird, so dürfte dies nicht so schrecklich erscheinen;
dass ich es nicht so fand, ist allerdings natürlich: mein Gefühl war für
solche Kleinigkeiten schon längst abgestumpft. Der freundliche Empfang,
den ich in Begleitung von Hamsat Urussbiew in allen mohammedanischen
Dörfern gefunden hatte, wurde mir nun selbstverständlich in seinem Heimats-
orte in noch erhöhtem Masse zuteil, und wir blieben bis spät in die Xacht
beisammen.*)
Die Hauptquellen des Bakssan-F"lusses entspringen den Gletschern am
P"u.sse des Elbruss; an diese zu gelangen und ciie Ersteigung des höchsten
Gipfels des Kaukasus auszuführen, war ein Hauptziel meiner Reise. Ich
hatte dies sofort bei meiner Ankunft Ismael iTussbiew mitgeteilt und
zugleich die Absicht ausgesprochen, am folgenden Morgen aufzubrechen,
auch gebeten, die nötigen Lastpferde, Träger und l>rot zu besorgen. Ismael
*) Die Herzlichkeit dieses Empfanges wurde noch gesteigert, als Ismael Urussbiew erfuhr,
dass ich Ungar sei. Er erzählte mir, der erste im Kaukasus, von der Tradition einer Stammes-
vervvandtschaft mit den »Madscharen«. Aber auf meinen Wanderungen im Laufe wiederholter
Reisen durch die entlegensten Täler dieses Gebirgslandes, vom Westen bis nach Osten, hatte nur
noch der Kabardinerfürst Ataschukin von einer gleichen Ueberlieferung Kenntnis. Weder in Digorien,
noch im Karatschaizengau, noch im Daghestan war etwas von solchen Ueberlieferungen zu erfahren.
Die Mitteilungen der Fürsten Urussbiew und Ataschukin beruhen jedoch, wie meine Nachforschungen
ergaben, nicht auf Ueberlieferungen, die auf längstvergangene Zeiten zurückreichen, sondern wurden
von aussen hineingetragen. An der im Jahre 1823 unternommenen, politisch -wissenschaftlichen
Expedition des Generals Emmanuel in das Malkatal nahm auch der zufällig auf einer Reise durch
Kaukasien begriffene ungarische Reisende Johann von Besze teil. Besze, der aufgebrochen war, um
die Stammesgenossen der Magyaren in Kaukasien zu suchen und von dieser Stammesverwandtschaft
als einer bestehenden Tatsache fest durchdrungen war, hatte damals Gelegenheit, die vom General
Emmanuel in sein Lager am Malkaflusse geladenen Häuptlinge der in der Umgegend sesshaften
7»
— 99 -
ÜKR J?i:(;kii'I' im'.s \Vi;r'ii:s ukr Zkit fi;iii,t dkn Kaukasii-.kx.
hatte zugesagt, alle nütigen Vorkehrungen zu trellen, und den \\ unsch aus-
gedrückt, micli zu begleiten.
Ein wolkenloser Himmel spannte sich am 12. August über
das Bakssantal, und man konnte an dem geschäftigen Hin- und Her-
cilen der Leute bemerken, dass grosse Vorbereitungen für unsern Auf-
bruch getroffen wurden. Meine Führer und ich waren rasch gerüstet.
Es erübrigte nur noch das für mehrere Tage nötige Brot, und wir warteten
auf die Pferde und Träger, um unsere fertig gepackte Lagerrüstung aufzu-
laden. Allein die Zeit verstrich, ohne dass weder das Brot noch Pferde
und Präger zum Vorschein kamen. Nutzlos blieb wiederholtes Fragen und
Bitten. Endlich wurde uns mitgeteilt, dass es unmöglich gewesen sei, die
V^orbereitungen heute zu beenden, dass aber bis morgen alles, Proviant,
Pferde, Träger, bereit sein werde und wir am allerfrühesten Morgen auf-
brechen würden. Diese Verzögerungen, die jeder vorwärtsstrebende Reisende
nur schwer ertragen wird, sind für den Bergreisenden, der das so seltene
gute Wetter während der karg bemessenen Reisezeit im Hochgebirge aus-
nutzen muss, doppelt peinlich. Allein im Kaukasus wird der Bergreisende
durch die Saumseligkeit der Eingeborenen, durch die Unmöglichkeit, den-
selben Begriffe über den Wert der Zeit beizubringen, oft gezwungen sein,
selbst bei schönstem Wetter untätig bleiben zu müssen. Unter allen Berg-
bewohnern, denen ich auf meinen wiederholten Reisen im Kaukasus begegnet
bin, war Ismael Urussbiew vielleicht der einzige, der Sinn für unsere Reise-
zwecke und Verständnis für unsere Bedürfnisse hatte, und doch schien auch
er, nicht nur diesmal, sondern auch in der Folge, unser Vorwärtsdrängen
nicht recht begreifen zu können. Allerdings war auch Ismael von seinen
Stammesgenossen, von deren Indolenz und Trägheit in der Beistellung von
Pferden und Trägern abhängig, und die Hilfsquellen dieser Hochtäler sind
Bergbewohner zu sehen. Unter diesen waren auch die Vertreter der hervorragenden Fürsten-
geschlechter Urussbiew und Ataschukin, die Grossväter oder Väter der jetzt lebenden Fürsten, und
es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das, was Besze ihnen vom üonaureiche ihrer Stammes-
genossen, der Magyaren, erzählte, noch lange der Gesprächsstoff im Familienkreise gewesen sein
muss. So kommt es, dass nur die Söhne von Fürsten, die im Lager des Generals Emmanuel im
Malkatale mit dem ungarischen Reisenden Besze zusammentrafen, von einer solchen Stammes-
verwandtschaft mit den Magyaren in Europa wissen, sonst aber niemand in Kaukasien. Obwohl
Zwecke und Ziele meiner Reisen im Kaukasus in anderer Richtung lagen, habe ich selbstverständlich
diesem Gegenstande meine volle Aufmerksamkeit geschenkt, und auch meine Reisegefährten auf
späteren Reisen, die Ungarn waren, haben demselben mehr oder weniger Interesse entgegen-
gebracht, es würde jedoch ernster Forschung widersprechen, wollte man das Bestehen von Ueber-
lieferungen unter den Bergvölkern Kaukasiens annehmen, welche eine Stammesverwandtschaft
zwischen den Ahnen der jetzt dort lebenden Bergbewohner und den Vorfahren der heutigen Ungarn
zum Gegenstande haben und denen auch nur die geringste Beweiskraft beizumessen wäre.
— 100 —
Der Kaikasus is'i au\i a\ Wasskrfällkx.
äusserst oerinoe, so dass die VerproviantierunL;- einer Karawane für einen
mehrtägigen Aufenthalt im Hochgebirge oft die grössten Schwierigkeiten
verursachte. l{s war sehr schwer, gegen diese Verzügerungen nn't lü-folg
anzukämpfen, um so schwieriger dort, wo man, wie in Urussbich, in der
gastfreundlichsten Weise aufgenommen war, und es blieb auch mir nichts
anderes übrig, als mich in das Unvermeidliche zu fügen.
Ich benutzte den schönen Tag zu einem Spaziergange am Gehänge
im Nordwesten des Dorfes. Längs
des hellen Kyrtyk-Baches, der
zwischen den Blockhäusern des Aul
abwärts zum Bakssan eilt, stiegen
wir in die Hohe. Vom Norden,
aus engerSchlucht, strömt er Kyrtyk-
Ssu, mit dem sich der aus einem
gegen Westen emporziehenden
Seitentälchen fliessende Ssyltran-
Ssu vereinigt. Bald kommen wir
zu einem Wasserfall, den der
Ssyltran-Bach bildet. Aus einer
Felswand strömt das Wasser, teilt
sich sofort beim Ausflusse an einer
vorliegenden kelsplatte in zwei
Arme, die sich bald wieder ver-
einigen, und stürzt dann in gerader
Linie etwa 25 m hoch in einen
Felskessel. Der Ssyltranbach bil-
det hier keinen bedeutenden ¥a\\,
und unbeachtet, wie er vielleicht
in den Alpen Ijleiben würde, sei er
hier nur erwähnt, weil er einer der wenigen Repräsentanten dieser Erscheinung
im zentralen Kaukasus ist. Der Kaukasus ist auffallend arm an Wasser-
fällen. Selbst kleine Fälle sind höchst selten, kein einziger Bach im Kaukasus
aber bildet einen entweder durch Höhe oder durch Wassermasse bedeutenden
Wasserfall. Ist das Gebirge schon so alt, dass seine Wasser sich die Hinder-
nisse aus dem Wege zu schaffen gewusst haben und nicht mehr gezwungen sind,
über sie hinwegstürzend ihr Ziel zu erreichen.' Im Hintergrunde des Ssyltran-
tälchens liegt in der Höhe von 3214 m, am Fusse der Eisfelder, ein kleiner, meist
zugefrorener See, gleichfalls eine seltene Erscheinung im seearmen Kaukasus.
Wasserfall des .Ssyltran-Ssu.
— 101 —
Dil': Bi'.rc-Tatark.x \()n URrssiUKii.
überall im Kaukasus, belagerte eine neuL,nerige Menge das Haus, und es
Berg-Tataren lUrussbier) in Urussbieh.
bewohner und die Verwandten der bamilie Urussbiew traten näher,
reichten oft auch die Hand.
»Als sie die Fremdlinge sahen, da kamen sie alle bei Haufen,
Reichten grüssend die Hände
Odyssee III.
102 —
Nach dkm oiuckstkn Bakssantat,.
Andere stellten sich in eine Zimmerecke und harrten in ruhiger Andacht,
alles l)eobachtend, lange aus. In Urussbieh war die Neugierde der Leute
nie zudringlicher Art, was jedenfalls auf den Einfluss L'russbiews zurück-
zuführen ist.
13. August. Es wurde 10 Uhr vormittags, bis wir L^russbieh ver-
liessen. Wir bildeten eine imposante Kavalkade von Reitern, denn es
kamen mit uns: Ismael Urussbiew, sein Sohn Naurus, seine Brüder Hamsat,
Mohammed und der jüngste, der Starschina von Urussbieh. Diesmal waren
auch wir zu Pferde, und Alexander Burgeners nicht eben schmächtige Gestalt
schwankte auf einem der kleinsten Pferde. Mehrere Diener des Fürsten
begleiteten ihn, teils zu Pferde, teils zu Euss, und einige der besten Jäger,
denn man plante grosse Jagden in den wildreichen Gründen am Elbruss-
stock. Mehrere Lastpferde hatten ausser unserer Ausrüstung Teppiche,
Decken, Proviant und Kochgeschirr aufgeladen.
Meine Laune stimmte nicht mit dem lärmenden, fröhlichen Aufbruche,
denn nach dem gestrigen schönen Tage hatte das Wetter sich wieder ver-
schlechtert. Schwarze Wolken stiegen, von Süden kommend, auf, und statt
des frischen Luftzuges herrschte eine drückende Schwüle von .schlechter
Vorbedeutung. Nur die schönen Landschaftsbilder im oberen Bakssan-Tale,
welche mit unserm V^orrücken sich rasch aneinander reihten, erfreuten Auge
und .Sinn und verscheuchten die trüben Gedanken.
Vorerst trafen wir, unsern Weg kreuzend, einen das Tal sperrenden
Riegel, eine Anhäufung von riesigen Blöcken, welche durch einen Bergsturz
entstanden ist.*) Von der Höhe dieser Trümmermasse, die schon zum Teil
mit Gestrüpp bewachsen ist, bietet sich ein schöner Blick auf die lange
Elucht des Bakssantales, welche weit, weit hinauszieht.
Aus einem linken Seitentale, dessen Hintergrund der vom Elbruss-
stocke niedersteigende grosse Irik-Gletscher erfüllt, strömt der Irik-Ssu. Eine
Gruppe von aus Holzstämmen erbauten Sennhütten hat sich hier angesiedelt.
Der Bach bricht aus felsiger Palumfassung hervor und treibt, kleine Schnellen
bildend, einige primitive Mühlen. Eine Brücke ist über das W'asser ge-
worfen; auf den mit hohem Grase bestandenen Wiesen weidet Vieh; Kiefern-
wälder bekleiden stellenweise bis hoch hinauf die Talwände, und alles ver-
eint sich, an dieser Stelle ein hübsches Alpenidyll zu schaften
Durch die Seitentäler, welche sich auf das Bakssantal öffnen, dringt
der Blick und wird durch die darüber aufragenden, firnbedeckten Hoch-
gipfel gefesselt. Das schönste Bild bietet sich dort, wo die Wasser des
*) Der Riegel ist von andern auch als eine alte Endmoräne erklärt worden.
DiK Seitkntäi.er df.s oüerkx Bakssantales.
Adyl-Ssu hervorbrechen. Das Grün prächtiger Nadelholzwaltlungen
reicht hoch hinauf bis an das Weiss der Eisströme, die sich in der Höhe
um schön geformte Berggestalten winden. Vor der schluchtigen Talöffnung
des Adylssu dehnt sich eine kleine, mit Wiese und Wald bedeckte Ebene
aus. Auch auf dieser liegen zerstreut einige aus Baumstämmen erbaute
Sennhütten und beleben die Szenerie des ein.samen kaukasischen Hochtales.
Dann verengt sich das Tal und wird immer wilder. Der Weg folgt
liald dem rechten, bald dem linken ITer des Bakssan, über den schwanke
Der Asau-Gletscher,
von den Tersskolhängen gesehen.
Brücken führen. Der Föhrenwald, in dessen Schatten wir vorwärtsstreben,
wird immer dichter, immer mächtiger, bis man wieder in eine mattenreiche
Talstufe gelangt.
.Schluchtig und waldbestanden läuft am rechten Bachufer im Süden
das Seitental des )usengi aus, und weiter, schon nahe dem Ouellgebiete
des Bakssan, mündet das breite Tal des Dongusorun. Grosse Gletscher
gleiten dort von den schneebedeckten Höhen ruhig in die Tiefe. Nun
steigen wir eine kurze Strecke an steilen Grashängen der rechten Talseite
scharf an, zum Teil Spuren eines schmalen Steges verfolgend, meist jedoch
pfadlos, ein Weg, den nur kaukasische Bergpferde überwinden dürften.
104 —
Lacer 1!KIM Kosrii As.\u.
Man biegt um eine Ecke und steht in der Höhe von etwa 2100 ni
am Rande eines kleinen ebenen Talbeckens, welches von dichtem Busch-
werk und Wald bedeckt ist und auf dessen Grunde der Bach, in mehrere;
Arme geteilt, dahinfiiesst. Zur Rechten, im Hintergrunde eines Schlucht-
tälchens, wird unter wogenden Nebeln der zerklüftete Abfall des Tersskol-
gletschers sichtbar, und auch vor uns blinken über den Wipfeln hoher,
prächtiger Kieferstämme die Eismassen, welche sich an dem den Talschluss
bildenden Berggrund ausbreiten. Es ist der Asau-Gletscher, dessen nördliche
Zuflüsse ebenso wie der Tersskol-Gletscher von den grossen Pirnplateaux
des Elbruss-Stockes niederziehen. Der dichte Nadelwald bedeckt nicht nur
die Abhänge der Berge, welche die kleine Talebene umgeben, in welche
wir getreten sind, sondern auch die Talsohle ist zum Teil mit undurch-
dringlich scheinendem Gehölze bestanden, und dieser Anblick, den wir in den
Alpen, wo der Wald längst aus dem Talboden verschwunden ist, nicht kennen,
gibt der Landschaft ein fremdartiges Gepräge von überraschender Wildheit.
An den Schneefeldern des von Wolken umhüllten Dongusorun er-
blassten die letzten Strahlen der Abendsonne, als wir bei den Hütten des
Kosch Asau ankamen. Hoch aufsteigender Rauch hatte uns schon früher
gezeigt, dass es hier Leute gäbe, und als wir uns einer kleinen Waldblösse
näherten, kamen uns die Tataren entgegen und begrüssten die Ankunft
ihrer Herren mit sichdicher breude und mit einer Herzlichkeit, die zugleich
einer gewissen Ehrfurcht nicht ermangelte. Einige Schritte von der
grösseren Blockhütte, unter dem vorspringenden, auf Holzpfeilern ruhenden
Dache einer andern, als Stall dienenden, jetzt aber unbezogenen Hütte,
schlugen wir unser Zelt auf. Ich hätte es entbehren können, zog es jedoch,
insbesondere des Plattenwechsels wegen, vor, es aufzustellen. L'nsere Begleiter
warfen trockenes Reisig und Gras auf den Boden und richteten sich gleich-
falls im Atrium des Rinderstalles neben meinem Zelte ihre Schlafstellen so
becjuem als möglich ein. hi der entgegengesetzten Ecke tummelte sich der
Tross der Diener, Träger und Pferdetreiber. Ein geschäftiges Leben
herrschte. Hamsat hatte jetzt dem Eamilienchef, Ismael, den Oberbefehl,
das W^alten über die Küche, die Rolle des Hausherrn abgetreten. Rasch
war das Schaf ausgeweidet. In einem mächtigen Kessel kochte und brodelte
es. Am lodernden Feuer wurden die Bratspiesse gedreht und:
»Ringsum krochen die Häute, es brüllte das Fleisch an den Spiessen,
Rohes zugleich und gebratenes, und laut wie Rindergebrüll scholl's,
Und sechs Tage schwelgten die unglückseligen Freunde.«
Odyssee XII.
Elbruss vom Norden.
VIII. KAPITEL
Elbruss, der Minghi-Tau der Kaukasier.
Colli ii|iciu ihi' ilc;i.l \'olc;ino
Slecps tiic ixlcani of dring day.
Tciiuvson.
Im obersten Hakssantale, im Lager beim Kosch Asau, waren wir
Elbruss, dem Herrscher des Kaukasus nahegerückt, der jedoch hinter den
vorspringenden Bergwänden der Tersskolschlucht verborgen bleil)t. Am
folgenden Tage wollte ich in die Eirnregion desselben dringen, dort ein
hohes Biwak bezielien und die Ersteigung seines höchsten Ciipfels versuchen.
Des öfteren war ich hinausgetreten in die finstere Nacht, die leider kein
Sternenhimmel erhellte, um nach dem Wetter zu sehen. Die Aussichten
waren ungünstige ; dennoch gab ich die nötigen Befehle, um bei gutem
Wetter am Morgen aufbrechen zu können. Dann suchte ich mein Lager
auf. Ich gestehe, dass ich eine gewisse Aufregung nicht unterdrücken
konnte, denn ich war mir bewusst, dass, obgleich nahe dem Ziele meiner
Wünsche, vor dessen Erreichung noch viele Hindernisse und Schwierig-
keiten zu überwinden sein würden, Hindernisse und Schwierigkeiten, die
nicht allein im Bereiche meines Wollens und Könnens lasfen.
Axin.irK DKs iM.r.KUss vom SCuüstkx.
In der Nacht regnete es und am folgenden Tage herrschte rechtes
Fühnwetter. Regengüsse wechselten mit Sturm, und inzwischen erschien
für einige Stunden klarer Himmel. Ich benutzte die Pause, welche das
Unwetter machte, um an den Talwänden der Tersskolschlucht emporzu-
steigen. Von dort musste man Elbruss erblicken, den ich nicht wieder
gesehen hatte, seitdem er mir, dem Kaukasus entgegenziehend, zuerst in
der Terek-Talebene aus grosser Ferne erschienen war. Jetzt, wo ich dem
Beherrscher des Kaukasus so nahe gerückt war, zog es mich unwider-
Elbruss
von den Hängen der Tersskol-Schlucht.
Stehlich in die Höhe, lun seinen Anblick zu gewinnen. In migestümer Hast
stieg ich aufwärts. Auf einer Bergschulter, unter der breiten Krone einer
mächtigen Tanne standen wir still.
Vor mir lag Elbruss. In einsamer Majestät, massig und blendend
im gleissenden Lichte dieses gewitterhaften Tages, erhob sich der dopjjel-
gipflige, in ewiges Eis gehüllte Vulkan, danz erfüllt sein Bild den Gesichts-
winkel. Weder zu seiner Rechten, noch zu seiner Linken, noch hinter ihm
wagt sich eine andere Berggestalt an ihn heranzudrängen. Seine Konturen
schneiden in das dunkle Firmament, und hinter ihm dehnt sich die leere
Unendlichkeit aus. So muss der Herrscher thronen! Vulkaiu'sche Kräfte
haben diese konischen Gipfel gegen den Himmel getürmt. Schnee und Eis
ToroGKAi'iiisciiKs uxn Gkolooisciiks.
bedecken jetzt die erkaltete Materie, nur selten durclibrochen vom dunkeln
Andesitoestein. Die erloschenen Vulkane ruhen auf einem geneigten Plateau,
welches die Eruptionen der Krater in der Periode ihrer Tätigkeit auf dem
granitischen Fundamente gebildet hatten.
Das Massiv des Klbruss liegt in einem vom wasserscheidenden
Hauptkanime gegen Norden vorspringenden Zuge. \^on den beiden Haupt-
gipfeln erreicht der nordwesdiche die Höhe von 5629 m, und von diesem
durch einen etwa 330 m eingeschnittenen, breiten Sattel getrennt, erhebt
.sich der südöstliche dipfel zu 5593 m. Von den weiten Schnee- und Plrn-
feldern ziehen, nach allen Richtungen ausstrahlend, Gletscherströme in die
Talschluchten, die an dem Gebirgsmassiv ihren Ursprung nehmen. Die
Bäche, welche an der osdichen und südlichen Abdachung niederrauschen,
fliessen in den Bakssan, an der westlichen Seite strömen die Wasser dem
Kuban und im Norden der Malka zu. Im Süden schliesst sich das
krystallinische Urgebirge des Elbruss mit einem aus Gneisen und Graniten
bestehenden Verbindungszug an die kaukasische Hauptkette an.
Die breite, mächtige Masse des Berges, welche die kegelförmigen
Gipfel krönen, zeigt keine den Beschauer im ersten Augenblicke gefangen
nehmende Form, je höher man jedoch an den ihm gegenüberliegenden
Talwänden und auf die schneebedeckten Höhen im weiten Umkreise seines
Gebietes emporsteigt, desto mehr entwickeln sich die Grössenverhältnisse
des Berges, desto höher wachsen seine Gipfel; dann sinken alle andren
Berge in die Tiefe und, alle beherrschend, schwingt sich Elbruss — der
Minghi-Tau der Kaukasier — der Kulminationspunkt des Kaukasus
majestätisch in den Himmel empor.
Der Name Elbruss stammt aus dem Persischen »al-Burs«. Bei den
am Fusse des Elbruss lebenden Völkern, den Bakssantataren und den Berg-
bewohnern des Karatschai, wird der höchste Gipfel des Kaukasus Minghi-
Tau (in der Sprache der Bergbewohner = weisser Berg, also ein kauka-
sischer Mont-Blanc) genannt, eine Bezeichnung, welche nicht in Vergessen-
heit geraten, ja, welche vielleicht durch keine andere verdrängt werden
sollte.*)
Der Elbruss war den Völkern schon von alten Zeiten her bekannt;
er ealt ihnen für heilig und — unersteiglich. Nach der örtlichen Ueber-
*) Auch für den als höchsten gemessenen Berg des Himalaya sollte der Name der Ein-
geborenen, indisch (nepalesisch): Gaurisankar, tibetisch: Tschomokankar, beibehalten werden.
(Siehe: »Dechy, Gebirgsreise im Sikkim- Himalaya-- in Peterm. Geogr. Mitt. Bd. 1880, S. 459,
und Dechy, Mountain Travel in the Sikkim Himalaya«. in Alpine Journal \'ol. Vlll.)
I^KSTKK VKKSLril ZL'R ERSTEIÜUNC Dl'.S El.P.RUSS.
liefcruriL,'' soll zwar die Arche Noahs, bevor sie sich endgültig- am Ararat
festsetzte, am l'^lbriiss hängen geblieben sein, untl dann miisste eigtmdich
die Ehre der ersten Ersteigung der Mannschaft der Arche, beziehungsweise
der Familie Noah zugestanden werden. Da unsere Beweise hierfür jedoch
etwas mangelhafter Natur sind, muss man sich jenen Ersteigungen zuwenden,
die in etwas spateren, unserer Beurteilung näher liegenden Zeiten versucht
beziehungsweise ausgeführt wurden.
Die ersten Nachrichten eines Versuches zur Ersteigung des Elbruss
stammen von einer im Jahre 1829 unternommenen russischen Militär-
expedition. Diese Expedition, welche zugleich einen wissenschafdichen und
politischen Charakter trug, stand unter dem Befehle des Generals Emanuel,
dem ein Stab von Petersburger Gelehrten, der Mineraloge Kupffer, tler
Botaniker Meyer, der Physiker Lenz, der Zoologe Menetries und der
Architekt Bernardazzi zugeteilt waren. Mit kleinen Berggeschützen und
Kosaken marschierte die Exijedition in das am nördlichen Abhänge des
Elbruss liegende Malkatal, wo in der Höhe von etwa 2400 m ein Lager
bezogen wurde. Wir folgen nun der Geschichte der Expedition, wie sie
in der Schrift des Chefs der Gelehrten, Adolf Kupffer, niedergelegt ist.^'^)
Der General blieb selbst im Lager und versprach den Circassiern
(nach der Bezeichnung Ku|)ffers, wahrscheinlich Karatschaier Bergtataren),
welche die Gelehrten begleiten sollten, hohe Geldpreise für die Erreichung
des Gipfels. Am 21. Juli 1S29, morgens, brachen die Reisenden auf und
erreichten um 4 Uhr nachmittags den Rand der Schneelager in einer flöhe,
die mit nahezu 10 000 Fuss angenommen wurde. Hier wurde die Nacht
verbracht und am nächsten Tage um 3 Uhr morgens mit einigen Einge-
borenen und Kosaken der Anstieg fortgesetzt, hn Anfange verlief alles
glatt, als aber die Steilheit der Schneehänge zunahm und die Strahlen der
Sonne kräftiger zu wirken begannen, wurde der P\)rtschritt langsamer.
Lassen wir Herrn Kupffer das Wort: Die Eile, welche uns zum Erreichen
des Gipfels antrieb, bevor der Schnee von der Sonne stark erweicht würde,
überstieg unsere Kräfte, so dass wir zum Schlüsse gezwungen waren, bei-
nahe bei jedem Schritt innezuhalten, um Atem zu schöpfen. Die Dünnheit
der Luft ist in dieser Höhe so gross, dass das Atmen nicht mehr genügt,
um die verbrauchte Kraft zu ersetzen ; das Blut ist in lebhafter Bewegung
und verursacht in den schwächeren Teilen P2ntzündung. Meine Lipi^en
brannten, meine Augen litten unter der blendenden Helle des Schnees.
*) Voyage dans les environs du Mont Elboruz dans le Caucase, entrepris par ordre de
Sa. Majcste, l'Empereur en 1829. Rapport fait ä l'Academie Imp. des Sciences de St. Petersbourg.
DKR (.ill'Ki:!, DI.S JÜ.l'.KLSS WLKÜK NICHT ERREICHT.
Alk: meine Sinne waren verwirrt, mein Kopf wurde schwindliL;-, und zu
Zeiten fühlte ich ein undefinierbares Zusammenbrechen, welches ich nicht
besieoen konnte. Dem (.iipfel zu zei^t der Elbruss eine Serie blossgelegter
Fel.sen, welche, eine Art Treppe bildend, die Ersteigung bedeutend er-
leichtern. Aber die Herren Meyer, Menetries, Bernardazzi und ich fühlten
uns derart durch Müdigkeit überwältigt, dass wir beschlossen, ein oder zwei
Stunden auszuruhen, um Kraft zu gewinnen, unsern Marsch fortzusetzen.
Aber der Schnee wurde spater so erweicht, dass er unser Gewicht nicht
mehr tragen konnte, und je länger wir den Rückweg verzögert hätten, desto
oTÖsser wäre die Gefahr gewesen, in einen der unter ihm verborgenen
Abgründe zu stürzen.. Herr Kupffer hoffte noch, dass Herr Lenz, welcher
vorau.sgegangen war, den Gipfel erreichen und barometrisch vermessen
■^viirde. — Aber , fährt Kupffer fort, »indem Herr Lenz die Felsen erreichte,
fand er sich noch immer vom Gipfel durch einen Schneehang getrennt,
welcher von der .Sonne so sehr durchweicht war, dass sie bei jedem
Schritte bis an die Knie in denselben versanken und Gefahr liefen, ganz
begraben zu werden. Seine Gefährten schienen entschlossen, nicht weiter
vorzugehen, und die Gefahr, allein vorzudringen, war zu gross, um der-
selben zu begegnen, aus.serdem war es i Uhr nachmittags vorüber und es
war nötig, an die Rückkehr zu denken, um nicht vor Erreichen des Lagers
von der Nacht überrascht zu werden. 1 lerr Lenz beschloss daher, zurück-
zukehren, ohne den Gipfel erreicht zu haben.
Keiner der Gelehrten hatte also den Gipfel erreicht, aber Herr
Kupffer erzählt weiter: Während dieses ereignisvollen Tages sass der
General vor seinem Zelte und beobachtete unsern Fortschritt durch ein
ausgezeichnetes Fernrohr, welches ich ihm zur Verfügung gelassen hatte.
Sofort als die Morgennebel verschwanden, sah er uns den Schneekegel
ansteigen und den b\iss der l-'elsen erreichen, wo wir uns in zwei Gruppen
trennten, die eine, welche dem Gipfel zu vorwärts schritt, während die
antlere Halt machte. Aber [)lötzlich bemerkte er einen einzelnen Mann mit
einem grossen Vorsprunge vor den andern, der schon beinahe den Schnee-
abhang zwischen dem Gipfel und der Höhe der b'elsentreppe überschritten
hatte. Man sah den Mann sich dem gewundenen b'elsen nähern, welcher
den eigendichen Gipfel bildet, um denselben herumgehen, einen Augenblick
gegen den dunkelgefärbten b'els sich verlieren und dann hinter dem Nebel
verschwinden, welcher das Tal wieder erfüllte und den Blick nach dem
Elbruss abschnitt. 1 )ies geschah um i i lUir vormittags, und der General
konnte nicht länger zweifeln, dass einer der unsrigen den Gipfel erreicht
ZWI^TKR KRKOI.GUlSKR VKKSUlII 1)1;R(11 RaDDK.
halte; er konnte an der Farbe der Kleider erkennen, dass es ein Circassier
war, aber die Entfernung war zu gross, um die Gesichtszüge zu unter-
scheiden. Kiilar, so hiess der Circassier, der den Gipfel des Elbruss erreicht
hatte, wusste besser von der Kälte des Morgens Nutzen zu ziehen, als wir.
Er überschritt die Grenze des ewigen Schnees lange vor uns, utid als l lerr
Lenz seinen höchsten Punkt erreichte, war Kiilar schon auf dem Rückwege
vom Gipfel. So weit Kupffer. Der General en chef aber Hess sofort
diese Besiegung des Elbruss mit einer dreifachen Decharge der Musketiere
begrüssen und Kiilar erhielt den Preis von 400 Rubel für die allein voll-
brachte Tat.
Dass der Pllbruss in diesem Karatschaizen seinen Jacques Balmat
nicht gefunden hat, steht ausser Zweifel. Bergsteigen war zu jener Zeit in
seiner Kindheit, und ob man bei den damals über Bergbesteigungen herr-
schenden Anschauungen unter dem Ersteigen eines Berges auch das Be-
treten des höchsten Gipfels verstand, bleibt dahingestellt. Nach dem
Berichte Kupffers verhüllten nicht nur Nebel den Ersteiger, sondern es ist
zu bedenken, dass irgend eine Gipfelpartie, welche vom Tale aus gesehen
als höchster Punkt erscheint, nur die Höhe eines Teilstückes sein kann,
ja wahrscheinlich ist, hinter welchem — ungesehen — die höchste Spitze
sich erhebt. Kein Bergkenner wird annehmen, dass, da der Standpunkt
des Generals in einer Höhe von ca. 2400 m war, bei einem Horizontal-
abstand von ungefähr 18 km die weit zurückgeschobenen Gipfelpartien
des 5629 m hohen Elbruss zu sehen waren. Ebenso unwahrscheinlich
muss es klingen, dass der General mit seinem Fernglase einen Menschen
am Gipfel des Elbruss unterscheiden konnte und gar, wie der General es
glaubte, die Form und P'arbe seiner Kleidung zu erkennen vermochte.
Seit meinem Besuche des oberen Malkatales muss ich es als zweifellos
hinstellen, dass man von dort die höchsten Gipfelpunkte des Elbruss in der
Tat nicht sehen kann und man diese angebliche erste Ersteigung des
höchsten Gipfels, wiewohl sie weite Verbreitung sowohl in der russischen,
als auch in der fremden Literatur gefunden hat, billigerweise in das Reich
der Fabel verweisen kann.
Eine lange Reihe von |ahren verging, ohne dass der Versuch zur
Ersteigung der Elbrus.sgipfel erneuert wurde, bis der verdienstvolle Erforscher
der Kaukasusländer, Dr. Gustav Radde, im Jahre 1S65 vom Westen, aus
dem Chursuktale einen kühnen Verstoss wagte. Er war von Karatschaiern
begleitet. ;>\Vir ruhten , berichtet Radde, bei etwa 3500 m eine geraume
Zeit; der Müdigkeit gesellte sich der Schwindel bei zweien meiner Begleiter
Dri-; KKSTE I'J^STKICUXC. DES ELÜRUSS.
und bei mir zu, und eine eigentümliche Schwäche des Körpers befiel uns
alle; sie steigerte sich für Augenblicke bis zum vollständigen Versagen der
Bewegung.« Dennoch drang der Reisende noch eine Strecke weit vor-
wärts. >'Nur in gewissen Zeitintervallen«, fährt Radde in seinem Berichte
fort, konnten wir uns bewegen. .Schwindel und Schwäche der Knie nahmen
zu und eine entsetzliche Müdigkeit bemächtigte sich meiner . . . Die Führer
drängten zur Rückkehr. Gegen 2 Uhr hüllten auch uns die Nebel ein;
eilig ging es nun von der erreichten Höhe von etwa 4000 m zum Kamme
des Gebirges gegen Norden zurück.« So endete dieser zweite, mit viel
Energie unternommene Versuch des berühmten Forschungsreisenden.
Da zog endlich eine kleine Schar moderner Argonauten von dem
fernen Albion aus, jedoch nicht — in den zutreffenden Worten Merzbachers — ,
um gleich den alten Helden des Argo Veranlassung zur Bildung von
Mythen und Sagen zu geben, sondern um solche zu zerstören, um den aus
Mvthe und Fabel gewobenen, geheimnisvollen Schleier zu lüften, mit welchem
für uns die herrliche Hochgebirgswelt des Kaukasus noch umhüllt war
Es waren dies im Jahre 1868 D. W. Freshfield, W. A. Moore und C. C. Tucker
mit dem Führer Frantjois Devouassoud aus Chamounix. Damals wurde der
Gipfel des Elbruss zum ersten Male vom Fusse der .Sterblichen betreten,
aber, durch Nebel getäuscht, erreichten sie den südöstlichen, zweithöchsten
Gipfel. Ihren Nachfolgern F". C. Grove, F. Gardiner und H. Walker mit
dem Walliser Führer Peter Knubel gelang es dann 1874, den nordwestlichen,
höchsten Gipfel des Elbruss zum ersten Male zu ersteigen.*)
Wieder vergingen zehn Jahre, eine lange Zeit, während welcher nie-
mand auch nur den Versuch wagte, dem hohen Ziele zuzustreben, und die
eisigen Höhen des grossen Berges blieben unbetreten, bis ich nach dem
Kaukasus zog, von Wunsche beseelt, meinen Fuss auf das hohe Haupt
des Vulkanriesen zu setzen.
Diesmal schien jedoch der Elbruss allen Angriffen sich energisch zu
widersetzen. Das stürmische Föhnwetter, das mit unserer Ankunft im Kosch
Asau hereingebrochen war, dauerte eine lange Reihe von Tagen. Der
Wind kam immer vom .Süden oder .Südwesten, und wenn einigemal abends
die Sterne am Firmament erschienen, oder der Himmel sich am Morgen
aufklärte, so dauerte diese Besserung nur einige Stunden, und dann regnete
*) Ueber die Ersteigungsgeschichte des Elbruss siehe: Zur Geschichte der Ersteigungen
des Elbruss (Minghi-Tau) von M. von Dechy, in den Mitteilungen des D. und Oesterr. Alpen-
vereins Bd. XI, No. 5, 1885, sowie »V'oyage au Caucase^< par M. de Dechy, im Bulletin de la
Societe hongroise de geographie, Vol. XIII IS.SS.
— 112 —
DiK GU'I'EX UNO B(")SKN GEISTER DES ELLKUSS.
es wieder in Strömen. Wenn die Wolken und Nebel sich hoben, so er-
schienen die iimlie<^enden 1 lohen bis an ihren Fuss mit neuem Schnee
bedeckt, und wenn dann die Gipfel des Elbruss für kurze Zeit sichtbar
wurden, so umflatterten sie dünne Schleier, vom Sturme aufgewirbelter
Schnee, ein Beweis für die Stärke, mit welcher der Orkan dort oben wütete.
Ohne PZrfolg leider, riefen meine
Gefährten, die Tataren, die guten
und bösen Geister an, welche
Nach der Jagd.
Meine Gastfreunde im Standquartier bei Kosch Asau,
von links nach rechts: iler swant-tisclie Diener des Fürsten: Rüstern Chan; Naurus, der Solm des Fürsten;
in iler Mitte Knjas Ismacl; zur Rechten: sein Bruder Hamsat.
den Elbruss bevölkern sollen. Zweimal hatten wir den Angriff vei'sucht,
und zweimal zwang uns der Regen, nach ein oder zwei Stunden Marsch
zurückzukehren. Wir stiegen auf die umliegenden Höhen , gingen
zum Asaugletscher, wo ich Beobachtungen machte, und in den wenigen
klaren Stunden war ich bestrebt , einige photographische Aufnahmen
auszuführen. Oft gingen wir in die Wälder und sammelten heirliche
Schwarzbeeren, deren es dort eine Fülle gab, oder man oblag dem Jagd-
vergnügen. Die Eingeborenen sind leidenschaftliche Jäger, die jedoch mit
ihren alten, langen Zündschlossflinten — die sie sorgsam in langhaarigen
Hlzhüllen tragen — nur wenig ausrichten können.
Dcchy: Kaukasus. 8
— 113 —
Das Stkinwii.d des Kaikasi's.
Der St(jinl)Ock ist das edle Steinwild des Kaukasus. Man unter-
scheidet hauptsächlich zwei Arten, die Capra caucasica Güldenstadt und
Capra pailasii (auch Aegoceros pallasii oder Capra cylindricornis Blyth.).
Die russische (?) Bezeichnung Tur wurde im gewöhnlichen Gebrauche über-
haupt auf alle Arten des kaukasischen Steinwildes übertrafen, und ich hörte
a) Capra caucasica
Güldenstädt,
b) Capra pallasii,
c) Capra aegagrus
pallasii.
sie im ganzen Kaukasus \on den verschiedenen
Bergvölkern anwenden. Das Gehörn der Capra
caucasica ist sichelförmig nach aufwärts und nach
aussen gerichtet, während am Gehörn der Capra
pallasii die Spitzen am Ende wieder nach innen
gebogen sind. Der Verbreitungsbezirk der Capra
caucasica dehnt sich weiter gegen Westen aus,
indes im östlichen Kaukasus Capra pallasii angetroffen
wird. Im zentralen Kaukasus werden beide Steinbock-
arten nebeneinander gefunden. Zum kaukasischen Stein-
wild gehört noch die edle Bezoarziege, Capra aegagrus
pallasii, zumeist im Osten des Kaukasus und in den
Gebirgen Transkaukasiens heimisch. Capeila rupicapra (Keys, et Blas.) ist
die Gemse des Kaukasus; sie ist mit dem Krickelwilde des europäischen
Kontinents identisch, und nicht das geringste Merkmal soll sie weder im
Aeussern, noch in ihrer Lebensweise unterscheiden, wenn auch die kauka-
sische Art meist wenieer kräftie entwickelte Krickeln trägt. Ihr Ver-
Im Staxoouartikr bei Koscii Asau.
breitungsbezirk ist jedoch östlich mit der Gruppe der swanetisch-tatarischen
Alpen begrenzt und ihr Vorkommen seltener als das des Steinbocks, des
Tur, welcher das dem Kaukasus eigene Steinwild ist. Der Tur ist Stand-
wild. Seine Kletterkunst im Erklimmen schroffer b'elsen ist bewunderungs-
würdig. Die Sinnesschärfe übertrifft die jedweden (ietiers des Hochgebirges.
Ein Sinn übertrifft an .Schärfe alle übrigen: der Geruchssinn, die Fähigkeit
Die Gruppe des Doiigusoiun von oberhalb Kosch Asau.
des Windnehmens und Witterns. Der Tscherkessc nennt den Steinbock das
»klügste Tier der Schöpfung«.
In den Bergen des obersten Bakssantales war das Wild jedoch da-
mals selten und zersprengt. Zwei Steinböcke wurden erlegt, und dann gab
es Eeste im Lager. Aber weder die seltenen Triumphe unserer Nimrode,
noch die Poesie der stillen Wälder, noch der herrliche Anblick der eis-
durchfurchten Wände des Dongusorun, welche sich gegenüber unserm
Standquartiere erhoben, konnten die Monotonie unseres Lagerlebens bannen.
Der erzwungene lange Aufenthalt im Kosch Asau hatte nur das eine
Gute, dass wir Zeit hatten, die Folgen des Bettlagers in Tschegem, welche
\'iii<i;i:Ki-,nr\(;i;x zlm Aii'hkLrii.
sich bei mir in fatalster Weise und zu unserer peinlichsten Ueberraschung
zeigten, wieder verschwinden zu machen. Burgener, der in solchen zoolo-
gischen Fragen Fachmann zu sein schien, ging in diskreter Weise, jedes
Aufsehen vermeidend, mit meiner gesamten Wäsche und Kleidern und mit
einem — ich befürchte horribile dictu — Kochkessel zu einer am Waldes-
saum versteckten Stelle des Baches, um eine gründliche Reinigung vorzu-
nehmen, indes ich für mehrere Stunden im geschlossenen Zelte in den
Schlafsack kroch. Auch jene Unannehmlichkeiten, welche das schlechte
Wetter im Lager inuner im Gefolge hat, machten sich geltend, und später
trat fühlbarer Mangel in unsern Lebensmitteln ein. Unsere gastfreundlichen
Begleiter waren zwar aus besten Kräften bestrebt, demselben zu steuern,
aber dies schien nur zum Teile zu gelingen, insbesondere bei jenen Gegen-
ständen wie Mehl, Zucker und Tee, von welchen wahrscheinlich selbst in
Urussbieh nur geringe Vorräte verfügbar waren. Es erschien daher als
eine wirkliche Erlösung, als am 22. August, nach acht langen Tagen,
endlich, ohne dass wir es gehofft hatten, der Morgen in schönster Klarheit
anbrach. Keine Wolke war am Himmel!
Sofort wurden in grosser Eile die Vorbereitungen zum Aufbruche
getrofl'en. \'on unsern Begleitern hatten auch Mohammed und der Sohn
Ismaels beabsichtigt, die Ersteigung des Elbruss mitzumachen, allein im
letzten Augenblicke gaben sie ihr Vorhaben auf, obgleich insbesondere der
grosse Mohammed die ganze Zeit sich hiezu vorbereitet hatte. Der Aenderung
seines Vorsatzes verdanke ich, dass er mir ein kurzes, mit Schaflell ge-
füttertes, sehr warmes, dabei aber überraschend leichtes Jäckchen leihen
konnte, das ich gerne mitnahm. Wenn es auch nicht sehr europäisch
aussah — es war mit einem hellblauen Cachemir, einem Stofte für Damen-
kleider überzoo-en — , sollte es mir doch gute Dienste leisten.
Dagegen Hess es sich Ismael nicht nehmen, uns zu unserni Biwak
zu begleiten. Ismael ist nicht nur ein kühner Jäger, sondern auch ein guter
Berggänger. Mit ihm kam sein Jäger, Molley Tirbolas, und fünf andere
Bakssantataren trueen Zelt, Provisionen und Holz bis zu unserm Biwak.
Eis und Lava am Elbruss.
IX. KAPITEL.
Die Ersteigung des Elbruss (Minghi-Tau).
Der du die Höhe c-iklmnmst,
Einsam über der Mensclieji l.utt,
Macfst du mir auch saL,'eii.
Ob alle deine Hohe wert war
All deines Kam)iles?
Karton von Arnold RccliberL;-.
Durch die Talschlucht des Tersskolbaches führte unser Weg in die
Firnregion des Elbruss. Indem wir die linksseitigen Abhänge der Tal-
schlucht verfolgten, umgingen wir die tiefe Rinne, welche sich der Terss-
kolbach im kristallinischen Gestein des Talgrundes eingeschnitten hat.
Nach einem kurzen Anstiege wird der Talschluss sichtbar, welchen der
Tersskol-Gletscher erfüllt.
Das enge Tal wird wilder; die Fichten verschwinden, Geröll bedeckt
das Gehänge. Noch aber überschreitet man im Talgrunde steinige kurz-
narbige wiesen, bis wir um Mittag in 2625 m Hohe am Fusse des
Glet.schers in felsiger Wildnis stehen. Der Gletscher stürzt sich über den
Rand der Felswände, welche in steilem Aufbau zirkusförmig aufsteigen.
— 117 —
Andlu'k KixEs Tkilstückks der IIaLI'TKKTTE.
Nicht nur die weit unterhalb des Gletscherendes liegenden Moränen und
die linksseitigen Felshänge, welche Spuren früherer Gletschertätigkeit zeigen,
beweisen, dass der Tersskolgletscher einst viel tiefer herabreichte, sondern
auch seine Erscheinung enthüllt auf den ersten Anblick, dass er sich in
einer Periode starken Rückzuges befindet. Die Endmoräne ist reich an
verschiedenen Gesteinen kristallinischer und vulkanischer Formationen;
Gneisgranite, rotliclK; Tuffe, schwarze Trachyte, oft mit grauen Porphyren
durchsprengt, und Riolite wurden auf derselben gesammelt.
Die H a u p t k e 1 1 e vom Rande des F i r n p 1 a t e a u s am E 1 b r u s s.
Das Gehänge erhebt sich in grosser Steilheit, welche wir durch
Kehren zu brechen suchten. Schon hoch oben, von einer plateauförmigen
Stufe der Talwandung blicken wir zurück. In der Tiefe liegt die Talflucht
des Bakssan. Prächtig hat sich die Grup])e des Dongusorun, welche wir
solange vom Asau-Lager bewundert hatten, entwickelt und brachte nunmehr
auch ihre Höhe zur Geltung. Die Scheiderücken zwischen den Seitentälern
des Bakssan sinken, und die Berge, welche den Hauptkamm des Kaukasus
bilden, herrliche Firnpyramiden, wilde, aus Fels gehauene Zinnen, erheben
stolz ihre Stirne in einer einzigen riesigen Linie. Mit einem durch die
Kühnheit seiner Formen überraschenden Relief schwingt sich dort, seine
Umgebung weit überragend, ein doppelgipfliger Felsbau in die Wolken:
118
Am Rande dks Firxi'I.ateaus.
es ist Llscliba, das Matterhorn des Kaukasus. Schon das von hier entrollte
Panorama war von grosser Wirkung. Malerisch ist dasselbe zur Rechten
von den klippigen Mauern eingerahmt, welche die Talwand der Tersskol-
schlucht bilden. Die rauhe Pracht der vereisten Gipfel wird gemildert
durch das Grün der Täler, mit ihren glitzernden Bachbändern, in welche
kulissenformig die Gratzüge eintreten, in der Höhe noch schneebedeckt,
dann mit nacktem Gestein und talwärts im Schmucke grüner Wälder
prangend.
Aber schon hat sich eine kleine Wolke, welcher wir anfangs keine
Bedeutung beilegten, neidisch in die Bresche, welche die beiden Uschba-
gipfel trennt, gelegt, und eine Stunde später, als wir, über P>ls und Schnee
kletternd, auf die Höhe des Tersskolwalles gelangt waren, sind von allen
Seiten schwarze Wolken aufgestiegen. Schnell bin ich noch bemüht, das
Aussichtsbild photographisch festzuhalten, nachdem ich auch von der früher
erreichten Stufe eine Aufnahme gemacht hatte. Die Aussicht hatte sich
erweitert, und die einzelnen Gipfel haben sich über die Kammzüge des
Gebirges höher emporgeschwungen.
Bald darauf gelangen wir zu weiten Flächen voll Geröll und Fels-
trümmern, die vom Firnplateau des Elbruss durch schneebedeckte Hänge
getrennt sind. Auf die granitische Grundlage des zwischen Tersskol und
Asau streichenden Bergrückens haben sich trachytische Lavamassen abge-
lagert, welche in phantastischen P'ormen als Nadeln, Zacken und Türme
demselben entragen und bald eine rödiche, bald eine schwärzliche P'ärbung
annehmen. Halbkreisförmig bilden sie einen Rand, der über eine konkav
geneigte Fläche aufsteigt, die sich als eine Kraterformation darstellt. Schon
sieht man über einen tiefen Einschnitt des vom Elbruss-Stock südlich
ziehenden Firnwalles, der einen Uebergang aus dem Bakssantale nach den
Tallandschaften des Karatschai im W^esten des Elbruss gestattet. Dort
erscheinen, in blauen Duft der Ferne gehüllt, Ketten von Bergen, unbe-
kannt und namenlos.
Auf diesen Geröllflächen hatte ich zuerst beabsichtigt, zu biwakieren.
Da es jedoch erst 3 Uhr nachmittags war, und ich es für vorteilhaft
hielt, so hoch als möglich das Nachtlager aufzuschlagen, gab ich Befehl,
wieder weiterzugehen. Unsere Gesellschaft teilte sich, und jeder suchte sich
seinen W^eg an den wenig geneigten, stellenweise schneebedeckten Trümmer-
halden. Auf der Höhe des P'elsenplateaus war es dann nicht leicht, auf
dem mit Geröll und Riesenblöcken besäten Boden eine zum Lagerplatz
eeeiofnete Fläche zu finden. Nach längerem Suchen beschlossen wir, an
HlWAK IX 3600 M HÜIIE.
einer ziemlicli ei)enen, obzwar schneebedeckten Stelle das Zelt aufzuschlagen.
Sofort machten wir uns an ilie Arbeit ; soweit als möglich wurde der Schnee
und das feuchte Ccröll weggeräumt. Die Eispickel arbeiteten aus-
gezeichnet, und in kurzer Zeit war ein Raum ziemlich gut geebnet und
genügend trockengelegt. Aber kaum hatten wir diese Arbeit beendigt,
als einer unserer Leute ganz nahe einen nach seiner Meinung be.sseren
Platz fand, viel trockener und durch einen überhängenden Felsblock
geschützt. Eine genauere Prüfung zeigte, dass ein künstliches Nivellement
vorlag und auch Steine zusammengehäuft waren, um die Fläche zu ebnen.
Ohne Zweifel hatten wir den alten Lagerplatz bVcshfields vor uns. Sofort
begaben wir uns an diesen Ort und — 1 8 |ahre später — bezogen wir
das »Hotel Freshfield « , wie ich ihn damals nannte, in einer Höhe von
ungefähr 3600 m. (A. D.)
L^nterdes war die Temperatur bedeutend gesunken, der Himmel hatte
sich vollkommen bedeckt und ein feuchtkalter Wind strich über die trost-
lose Oede — es drohte wieder schlechtes Wetter. Rasch war die Abend-
suppe gekocht, und in gedrückter Stimmung krochen wir in das Zelt.
Ismael, sein Jäger und die Träger zogen es vor, niederzusteigen und etwa
eine Stunde tiefer zu lagern, wo sie vor der Kälte und dem Wind besser
geschützt waren.
Ich hatte be.schlossen , um Mitternacht aufzubrechen, und Ismael,
welcher den Wunsch ausgedrückt hatte, mit dem Jäger an der Be-
steigung teilzunehmen, sollte um diese Stunde zu uns stossen. Die Expe-
dition von 1874 war um 1 Uhr morgens von ihrem Lagerplatze abge-
gangen und hatte bei ausgezeichneten .Schneeverhältnissen 9 Stunden 40
Minuten gebraucht, um den Gipfel zu erreichen. Wir jedoch mussten nach
dem schlechten Wetter der letzten W^ochen vorbereitet sein, für den Anstieg
ungünstige .Schneeverhältnisse zu treften. Bergkundige wissen, wie sehr
der neu gefallene Schnee, insbesondere wenn — wie im gegenwärtigen
Falle — Föhnwetter herrscht, die Ersteigungen in der Firnregion erschwert,
deren Dauer verlängert, die Gefahren vermehrt. Und der Weg, welcher
den Elbrussgipfel zum Ziele hat, führt ununterbrochen über weite .Schnee-
felder. Es erschien mir daher von grösster Wichtigkeit, möglichst früh,
noch in der Nacht mit der Laterne aufzubrechen, um bei Tagesbeginn
schon einen Teil des Weges zurückgelegt zu haben, und den Schnee am
frühen Morgen noch nicht von der Sonne erweicht zu finden.
Aber es sollte anders kommen. Mit dem Eintritt der Nacht hatte
sich ein starker Wind erhoben, der zum Orkan anwuchs. Später Hess die
Sl'ÄTKR Al'FURL'ClI.
Heftiokeit des Windes ein wenii^ nach und dann hörte man den mit Hagel
gemischten Regen auf die Felsen schlagen. Als um i Uhr morgens
Burgener aus dem Zelt trat, um nach dem Wetter zu sehen, war alles um
uns von frischem Schnee bedeckt, »Unglückliche, die wir sind ! <: jammerte
Bur<i"ener. Er hatte Recht. — Von Stunde zu Stunde fc^rschten wir nach
dem Wetter. — Keine Besserung. — Nur der Sturm hatte an Kraft
verloren.
Gegen 7 Uhr morgens kam Ismael; er behauptete, dass gegen
Osten, in welcher Richtimg der Ausblick vom Zeltplatz verdeckt war, der
Himmel seit einer Stunde klarer sei und dass das Wetter sich entschieden
bessere. W'ir stürzten aus dem Zelt, und in einigen Minuten hatten wir
eine Felsecke ostwärts umgangen. Ismael hatte Recht. Die Leuchte des
Tages hatte weit vor sich die Wolken getrieben, und dort, wo ihr Schatten
nicht mehr lag, war lichtvolles Leben über die eisgraue Umgebung ge-
kommen. Gewiss, es war kein glänzender Tag für die Ersteigung eines
mehr als 5600 m hohen Bergriesen, aber wäre Ismael mit seiner Botschaft
nur zwei bis drei Stunden früher gekommen, so hätte man den Versuch
immerhin wagen können. Nun war es zu spät. — Plötzlich jedoch .sagte
Burgener: Wir müssen es versuchen.« Er begründete dies sofort damit,
dass nach seiner Meinung das Wetter sich tagsüber nicht verschlimmern
werde, ja eher sich bessern dürfte, und dass unter solchen Umständen,
wenn nur der Sturm nicht wieder an Heftigkeit zunähme, die Möglichkeit
gegeben sei, die Ersteigung auszuführen. Burgener glaubte auch, dass es
möglich sei, die Ersteigung in 7 — 8 Stunden auszuführen, und da der Berg
keine technischen Schwierigkeiten zu bieten schien, den Abslieg rasch genug
zurücklegen zu können, um noch vor Einbruch der Nacht unser Biwak
wieder zu erreichen. Er fügte noch hinzu, dass, wenn auch das Wetter
sich tagsüber nicht verschlechtern dürfte, er überzeugt sei, dass der Föhn
gegen Abend die Oberhand gewinnen werde und dass man dann wieder
eine Reihe von Regentagen zu gewärtigen hätte. Die Ausführungen
Burgeners halten mich nicht vollkommen überzeugt; ich hatte kein Ver-
trauen in seine Wetterprognose, selbst für diesen einen Tag, und hielt
seine Ansicht über die Dauer der Ersteigung für nicht zutreffend, da ich
wusste, dass meine Vorgänger — die einzigen — unter guten Schnee-
und Witterungsverhältnissen nahezu 10 Stunden benötigt hatten, um den
Gipfel zu erreichen. Aber der Gedanke, noch tagelang das Leben fort-
setzen zu müssen, welches wir am Fusse des Berges geführt halten, und
unsern vortrefflichen Gastfreunden noch länger zur Last zu fallen, oder
— 121 —
LÄNGSSI'AI.TKN am lÜRNFKl.l).
aber dem Elbniss entsagen zu müssen, Hess mich rasch entscheiden und
dem Aufbruch beistimmen.
Am 23. August um 7 Uhr 30 Minuten morgens begannen wir die
l'lrsteigung. Nach einer halben Stunde schon befanden wir uns auf der
obersten Kante des Felsgehänges, welches das Firnplateau des Elbruss
ringförmig umgibt. Vor uns lag das weite Eispiedestal, aus welchem der
Elbruss sich erhebt, und in massiger Neigung zogen die Schneehänge
aufwärts, stiegen die Gratlinien auf, welche die Gipfelhöhen bilden. Nur
an wenigen Stellen bricht Fels durch die blendend weisse Firndecke, ver-
schwindend im Gesamtbilde, das der unter Schnee und Eis begrabene
Vulkan bietet.
lün kurzer Schneehang wurde angestiegen und dann das Seil
entrollt, um es mit dem Betreten der Firnfelder anzulegen. Hier entsagte
Ismael Urussbiew seinem Vorhaben, uns zu folgen, bat jedoch, seinen Jäger
mitzunehmen. Ich wusste, dass dieser, obgleich ein ausgezeichneter Gänger,
uns von gar keinem Nutzen sein könne, im Gegenteil, falls unvorher-
gesehene Schwierigkeiten eintreten sollten, eher zum Hindernis werden
dürfte, schon infolge der mit Heu gefüllten Sandalen, mit welchen er
gleich seinen Stammesgenossen beschuht war, gewiss das Unpassendste für
die Begehung der Eisregionen des Gebirges.*) Aber trotz meiner ab-
schlägigen Antwort beharrte Ismael auf seiner Bitte, und ich glaubte zu
bemerken, dass es sich für ihn darum handelte, einen Augenzeugen der
von uns beabsichtigten Ersteigung zu haben. Dies entschied bei mir, und
Molley Tirbolas — so der Name des tatarischen Jägers aus Urussbieh —
wurde als letzter an unser Seil genommen.
Wir kamen im Anfange rasch vorwärts; später jedoch, als bald der
eine, bald der andere von uns in mit dünnen Lagen Neuschnees über-
deckte Spalten einbrach, wurden wir gezwungen, mit grösster Vorsicht vor-
zudringen, um so mehr als die Spalten sich der Länge nach, also in der
Richtung, in welcher wir anstiegen, ausdehnten. Burgener, welcher als
erster marschierte, war im Anfange alarmiert worden und schrie den Nach-
folgenden zu, keine gerade Linie im Marsche einzuhalten. Das Einbrechen
durch eine dieser verräterischen Schneebrücken, welche die oft unergründlich
tiefen Klüfte überdecken, kann den Untergang einer Gesellschaft herbei-
*) Die Bergbewohner des zentralen Kaukasus, aber auch ein grosser Teil derselben im
Osten und Westen tragen diese Fussbekleidung. Es sind dies eine Art von Ledertaschen, in die
der Fuss gesteckt wird und die durch Riemen festgeschnürt werden. Der Fuss wird mit Heu oder
trockenem Grase umhüllt, das während des Marsches, wenn sich hierzu Gelegenheit bietet,
erneuert wird.
122 —
Aussicht vom Firni>i,atf,au.
führen, wenn im Aiig-enblicke des Durchbrechens alle Mitglieder der mit
dem Seil verbundenen Gesellschaft oder die Mehrzahl ilerselben sich in
der Richtung einer Längsspalte befinden. Als wir aus dem Bereiche dieses
Spaltennetzes kamen, begann der Schnee weich zu werden. Bei jedem
Schritte sank man in denselben immer tiefer und tiefer, und der Anstieg
wurde immer ermüdender.
Um lo Uhr machten wir bei einigen Felsblöcken, welche aus der
weiten Schnce-Kbene aufragten, Halt, um etwas zu essen. Es war ruhig
und warm auf der Trachytplatte, auf welcher wir ruhten, wenn auch der
Himmel sich schon wieder mit einem grauen Schleier zu umhüllen begann,
den die Sonnenstrahlen nicht mehr durchdringen konnten. Einen unge-
heuren Raum überflog von hier das Auge. Eine Welt von Bergen, Kette
über Kette des gewaltigen Kaukasus lag vor uns. Erdrückend war die
Mannigfaltigkeit der Formen, zu welchen das Antlitz der Erde , im Werden
aufgepeitscht, sich gestaltet hatte. Ich suchte dasselbe nicht zu entziffern,
ich suchte nicht an der Hand von Karten, dem einzelnen Namen zu geben;
nur die mir schon bekannten Formen der Granitriesen, die ich vom Schtu-
livcekpass zuerst erblickt hatte, das doppelgipflige Gerüst des Uschba, jetzt
schon hoch die ihm vorliegende Hauptkette, welche die Flucht des Bakssan-
tales umsteht, überragend, und der vielgipflige Zug des Dongusorun, waren
leicht erkennbar. Der eigentümliche Zustand der Atmosphäre lieh diesem
Bergpanorama ein chaotisches Gepräge. Sinnend und staunend sah ich
wieder auf eine Ansicht der Natur, die im trüben Lichte dieses Vormittags
so unendlich ernst und geheimnisvoll erschien und die mit ihrer Grösse
einen überwältigenden, unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat.
Vor uns erhoben sich klar die Gipfel des Elbruss, unserm Stand-
punkte näherliegend der östliche, scheinbar höhere, und der westlich von
diesem liegende, durch einen tiefen Einschnitt getrennte, höchste Gipfel.
Wir konnten genau die Richtung feststellen, in welcher wir unserm Ziele,
dem im Nordwesten liegenden, höchsten Gipfel zustreben wollten.
Nach einer halben Stunde setzten wir die Ersteigung fort. Nun
musste der Fortschritt durch eine höchst erschöpfende Arbeit erkämpft
werden, da man im steilen Anstiege bei jedem Schritte tief in den
pulverigen Schnee einbrach. Bergsteiger wissen aus den Alpen, wie sehr
dieses Einsinken in tiefen Schnee ermüdet. Noch ermüdender gestaltete
sich dieses Einsinken, wenn, wie es besonders mit der zunehmenden
Neigung der Firnhalden hier auf grösseren Strecken vorkam, die Oberfläche
des Schnees etwas gefroren war, ohne jedoch genügend widerstandsfähig
— 123 —
Df.k Sattel zwischkn r.EiiiKN Gipfklx kkin al'ikk Kratkr.
zu sein, so dass bei jedem Schritte der Iniss für den Teil einer Sekunde sich
auf der Oberfläche festhielt, aber — vielleicht schon am Beginne der Vor-
wärtsbewegung- — dennoch durch die Kruste brach und in den mehligen,
bodenlosen Schnee einsank. Die Anstrengung, welche erfordert wird, um
die Beine, die oft bis zum Knie versinken, wieder herauszuziehen und den
nächsten Schritt zu machen, ist eine bedeutende und wirkt höchst erschöpfend.
Burgener blieb immer der erste und leistete den Löwenanteil der Arbeit,
indem er eine b'ährte trat. Ich folgte als zweiter; allein, trotzdem ich
genau den F"ussspuren Burgeners folgte, genau in die tiefen Löcher, die
er in den Schnee trat, meinen F"uss setzte — fast immer sank ich noch
ein Stück tiefer in denselben. Schon früher hatten wir die Brillen und ich
auch noch meine Leinwandmaske — um mich gegen Schneebrand zu
schützen — angelegt. Schweigsam arbeiteten wir, und langsam drangen
wir am einförmigen Schneegehänge aufwärts. Oft musste man stille stehen,
um der keuchenden Brust einige Augenblicke Ruhe zu gönnen.
Kaum hatten wir bemerkt, dass das Wetter sich rasch verschlechtert
hatte. Der Himmel hatte eine düstere, drohende bärbung angenommen.
Schwarze Wolken lagerten sich auf die schneeigen Höhen, und dunkle
Nebel senkten sich tiefer und tiefer. Der Wind hatte sich erhoben, strich
durch die Schneewüste und trieb die Wolken in tollem Wirbel um die
Elbru.ssgipfel. Jetzt lag pulveriger Schnee auf eisigen Firnhängen, deren
Steilheit gestiegen war und uns zwang, fast ohne l^nterbrechung Stufen
zu hauen. Die Temperatur war rasch gesunken und das Thermometer fiel
zuerst auf 3» und dann immer tiefer. W'ir begannen unter der Kälte zu
leiden; insbesondere die Hand, welche den Eispickel hielt, erstarrte, trotz
der warmen Handschuhe, und man musste wiederholt die Finger reiben,
um sie nicht erfrieren zu lassen. Wir ertrugen alles ohne Klage und
drangen ra.stlos und unentwegt in der unermesslichen Schneewüste auf-
wärts. So vergingen Stunden. Es mochte etwa 3 Uhr nachmittags
gewesen sein, als der .Sturm, an Kraft zunehmend, uns plötzlich wieder die
Höhen für kurze Zeit enthüllte und zeigte, da.ss wir die Firnhänge unterhalb
der die beiden Gipfel verbindenden Einsattlung (5268 m) überschritten. Klar
erwies es sich, dass die Angaben in der geographischen und geologischen
Literatur, als ob der Sattel ein alter Krater und die beiden Gipfel Reste
der Kraterumrandung seien, irrige sind.
Wir wandten uns jetzt gerade dem westlichen Gipfel zu und strebten,
ansteigend, ohne die Einsattlung zu berühren, von Felsgestein durchsetzten
Schneehalden zu, die vom westlichen Gipfel niederziehen. An diesem
Dkk iiuciisri'; cii'ii-.i. kuki:ich r. l'm aki, wusch, \fi'.
Grate stiegen wir dann empor. Der Anstieg war leicht und weniger er-
müdend, oder doch nicht so entsetzHch einförmig, als das endlose Schnee-
waten. Ueber Firnhänge traversierten wir dann zu einem andern fels-
durchbrochenen Schneegrate. Plötzlich endete dieses Gehänge in einer scharfen
Kante, welche zur andern Seite unvermittelt auf eine abschüssige l'irn-
lläche aljfällt. l'^s war die oberste Kraterwand des Elbruss, welche hier
eingebrochen ist und jetzt statt glühender Lava tausendjährige Schneelasten
trägt. Rechts führte diese Randkante noch zu einer Firnerhebung. Es
war der höchste Gipfelpunkt des FJbrussl
Im Augenblicke, in welchem, auf was immer für einem Gebiete, ein
Ziel durch eigene Tatkraft erreicht worden ist, gehört der erste Eindruck
dem persönlichen Emphnden. Die Sinne für die Aussenwelt treten zurück
und wenden sich dem eigenen Ich zu. Dieses Vorherrschen der die eigene
Person in den Mittelpunkt der Aktion stellenden Gefühls- und Gedanken-
tätigkeit mag nur Sekunden währen, aber sie besteht, und erst nachher
kehren wir zum Gegenstande, welcher die Anregung dazu gegeben hat, zurück.
Als ich meinen Fuss auf den höchsten Gipfel des Elbruss setzte,
machte sich dieses seelische Moment in intensivster Weise geltend. Nur
ein einziges Mal hatten diese Höhen, diese eisigen Regionen Menschen be-
treten ; Jahre waren seitdem verstrichen, und als ich nach dem Kaukasus
zog, war das Erreichen seines höchsten Gipfelpunktes ein Hauptziel meiner
Wünsche. Nun war es gewonnen. Peter entfaltete die kleine trikolore
P'ahne — die Farben meines Vaterlandes — , welche wir mitgebracht hatten,
und stiess sie, an der Stange befestigt, die er aus einem langen Aste
geschnitzt hatte und nicht müde wurde heraufzuschleppen, in den Schnee
des höchsten Elbrussgipfels.
In einer stürmischen Nacht im hohen Norden, jenseits des Polar-
kreises mag sich dem in jenen eisigen Weiten Festgehaltenen ein Bild bieten,
ähnlich dem, welches wir am Elbrussgipfel sahen. Durch eine nebelerfüllte
Luft zeichnete sich alles — Höhen und Tiefen — in unsicheren Umrissen.
Ueberall Eis und Schnee. Soweit das Auge dringen konnte, grauweiss der
einzige Farbenton. Ein phantastischer Strom schien die Atmosphäre zu
durchzittern; es wurde dunkel, als ob die Nacht herabgesunken wäre. Nichts
mehr erfüllte um uns die unendliche Leere; unter uns lag eisige Dämmerung,
und der gewaltige, kalte Sturm toste entfesselt in seinem Reiche.
Das Thermometer war auf — i i " C. gesunken; ein Blick auf die
Uhr zeigte die sechste Abendstunde — eine späte Stunde auf dem Gipfel
eines 5629 m hohen Berges, in unbekannter, stürmischer Eiswelt. Es galt,
— 125 —
Fi.i i'inAKiici.K Ai;s-iiK(;. Orkan. Ei.siiäN(;e.
keine Zeit zu verlieren. Wir schlugen einige (Je.steinstiicke von den höchsten
Felslagen ab — Biotit-Trachyte mit eingesprengtem Labrador und Andesit
— und dann stürmten wir der Tiefe zu.
Während unseres fluchtartigen Abstieges schien die ganze Natur in
Aufruhr zu sein. Der Orkan riss .Schneemassen vom Gehänge mit sich
und trieb sie in tollem Wirbel durch die Lüfte. Es war der Kawkasos
der alten Griechen, die Lagerstätte des Boreas!
Unser einheimischer Begleiter setzte uns jetzt in arge Verlegenheit.
Mit seinen glatten Ledersandalen war es ihm unmöglich, sich auf den
schlüpfrigen .Schneehängen zu halten. Des öfteren waren wir genötigt,
seinetwegen unser Vordringen zu massigen. Endlich gab ich ihm meinen
Eispickel, statt seines ziemlich unnützen .Stockes, damit er sich desselben
als Anker bediene.
Immer noch hofften wir, wenigstens die steilen Firnhänge mit Einbruch
der Nacht zurückgelegt zu haben, als wir etwa um 8 Uhr auf ein Terrain
kamen, wie ich ein ähnlich beschaffenes während meiner in der Hochregion
der Alpen durch viele Jahre unternommenen Bergfahrten nicht getroffen
hatte. Ein grosser Abhang, an dessen gefrorenem Firn wir schon im Aut-
stiege viele Stufen hacken mussten, war durch den Sturm auf seiner Ober-
fläche von jedem .Schneeteilchen wie reingefegt und bot eine glänzende,
glasige Eisfläche, auf welcher es unmöglich war, einen Schritt zu machen,
ohne Stufen zu hacken. Und so mussten wir durch vier volle Stunden in
der Finsternis einer Nacht ohne Mond und ohne Sterne, der Kälte und
dem .Sturme preisgegeben, noch in einer Höhe von über 4000 m, Stufen
hauen. Die Eissplitter kollerten mit einem düstern Geräusch in den
schwarzen Abgrund, oder der wütende Orkan schleuderte sie uns ins An-
gesicht. Nur mit den Füssen tastend, konnte man im Finstern die nächst-
folgende -Stufe erreichen. Ein einziger Fehltritt wäre unbedingt verderben-
bringend gewesen. Und doch mussten wir fortfahren, abwärts zu steigen,
wenn wir nicht an dieser abstürzenden Eiswand elend zu Grunde gehen
wollten. Wir kämpften für unser Leben. Die Erschöpfung nahm zu. Die
Kälte wurde unerträglich; jeder Windstoss durchschauerte den Körper bis
ins Mark. Es war oft, als würden uns plötzlich die Kleider vom Leibe
gerissen. Insbesondere im Rücken empfing man diese plötzliche Empfindung
schneidender Kälte. Hier war es, wo das kleine Pelzjäckchen Mohammeds,
das ich tagsüber um meinen Gürtel geschlungen getragen hatte, mir aus-
gezeichnete Dienste leistete und mich jedenfalls viel weniger unter der Kälte
leiden liess.
Um z\vi;i I'iir nachts im Biwak.
Peter war der erste und schlug Stufen, ich folgte tlicht hinter ihm,
dieselben noch vergrössernd, dann kam Molley unel als letzter Burgener.
Bei mir war vom ersten Augenblicke an, als wir diesen gefährlichen Abstieg
in Angriff nahmen, jede Müdigkeit geschwunden, und mit der grössten
Energie trachtete ich der unheimlichen Situation Herr zu werden. Unaus-
gesetzt ermutigte ich den vor mir absteigenden Peter in seiner Arbeit, rief
ihm Beifall zu, wenn mit machtigen Hieben der Pickel in das spröde Eis
einfiel. Viel Sorge machte mir Molley, dessen Bewegungen ich grosse
Aufmerksamkeit schenkte; sowie er streckenweise abstieg, blieb ich ge-
wöhnlich beobachtend stehen. Burgener, als letzter, dirigierte meist die
Richtung unseres Abstiegs. Nach der Arbeit des langen Tages, die Burgener
allein, ohne Ablösung geleistet hatte, schienen die Kräfte des starken Mannes
erschöpft zu sein. ( )ft kreuzten sich unsere Stimmen in gegenseitigen
Zurufen, oft unhörbar im Wüten des Orkans.
Endlich kam das Ende, und gegen Mitternacht sahen wir unter uns,
in den Dämmernissen, eine Felspartie, die sich vom Schnee abhob. Noch
einige Schritte, und wir waren bei ihr angelangt. Es war die Schnee-Ebene,
in welcher wir am Morgen unsere erste Rast gemacht hatten. Wie durch
ein Wunder hatten wir die Richtung nicht verloren, obgleich alle Spuren
unseres Anstiegs verwischt oder in finsterer Nacht unkenntlich waren, wenn
es auch möglich, ja, wahrscheinlich ist, dass wir uns etwas zu weit links
gehalten hatten und so gezwungen waren, über einen Steilabfall der Eis-
halde niederzusteigen.
Der pulverige Schnee wurde wieder bodenlos. Wind und Kälte
hatten nachgelassen. Zum Schlüsse verloren wir doch noch die Richtung
unseres Biwaks, und jetzt hatten wir es unserm Tataren Molley zu verdanken,
dass er uns auf die richtige Fährte brachte, nachdem er sich bis zu diesem
Augenblicke damit begnügt hatte, uns zu folgen, ohne während der
ganzen, langen Zeit des Abstiegs auch nur ein einziges Wort gesprochen
zu haben.
Eine halbe Stunde sjjäter, um 2 Uhr morgens, befanden wir uns auf
der Kante des Felsrückens, unter welcheni das Zeltbiwak lag. Hier
brachen wir die Pliszapfen los, welche seit Mittag an Haar und Bart hingen.
Um 2 Uhr 30 Minuten nachts kamen wir bei unserm Zelte an. Die Träger
lagen da, zusammengekauert, einer neben dem andern und begrüssten uns
mit frenetischer F"reude. Sie hatten uns für verloren gehalten. Vor allem
bereiteten wir eine heisse Suppe; seit 10 Uhr morgens hatten wir weder
gegessen noch getrunken. Dann krochen wir ins Zelt.
— 127 —
Ur.KK Dlh; iMvS'l KICLNC DES Kl-llKUSS.
Unsere Fahrt auf den ElbriissL^ipfel kann kein ganz richtiges Bild
einer Ersteigung desselben geben oder eigentlich nicht vollkommen mass-
gebend für die Summe von Schwierigkeiten und Mühsalen sein, welche
auf einer solchen überwunden werden müssen. Sie wurde eben unter ganz
ausserordentlichen Umständen durchgeführt, und auch aus der Ersteigungs-
geschichte der Alpen ist es bekannt, wie die augenblicklichen Verhältnisse
eines Berges bestimmend auf die Schwierigkeiten und Gefahren seiner Er-
steigung wirken. Vor allem hatten wir, statt um Mitternacht oder jeden-
falls noch vor Tagesanbruch aufzubrechen, unser Biwak erst gegen 7 Uhr
morgens verlassen, das heisst, wir begingen eine Tat, die selbst in den
Alpen bei gutem Wetter, genauer Kenntnis des Terrains zu den grössten
Seltenheiten gehört, trotzdem es sich um Hochgipfel handelt, die um mehr
als 1000 m niedriger sind. Nahezu vier Wochen lang hatte diesmal an
der Nordseite des zentralen Kaukasus das schlechte Wetter gedauert, der
Schnee war infolgedessen in sehr schlechter Beschaffenheit, und am Tage
der Ersteigung selbst hatten wir ungünstiges Wetter auf einem Berge ge-
troffen, den keiner von uns früher betreten hatte. Das, was wir taten, ist
vielleicht nicht ganz zu rechtfertigen; doch waren es besondere Umstände,
welche uns dazu bewogen, wir wollten dann nicht zurückkehren, als wir
sahen, dass das Unternehmen gefährlich wurde, weil wir X'ertrauen in unsere
Kraft und Erfahrung hatten, bewährt durch eine Reihe von Jahren bei
schwierigen und grossen Expeditionen in den europäischen Hochalpen, und
weil . . celui qui n'a jamais eu ses heures de folie est moins sage qu'il
ne le pense«, sagt irgendwo La Bruyere.
Der lange Stunden währende Marsch im Anstiege über unermessliche
Schneefelder wird am I-dbruss immer eine mühselige Aufgabe bleiben,
welche noch durch schlechte Beschaffenheit des Schnees ausserordendich
erschwert werden kann, aber eigentliche Schwierigkeiten, technische
Schwierigkeiten, entweder im Eis oder im Fels, bietet der Berg nach dem
heutigen Stande der Kunst des Bergsteigens nicht. Dagegen birgt er bei
schlechtem Wetter ernste Gefahren, denn Kälte und Wind werden immer
furchtbare und zu fürchtende Gegner am Elbruss bleiben.
Eine Frage, welche bei der Schilderung der Ersteigung des Elbruss,
eines 5629 m hohen Gipfels, sich aufwirft, ist die über die Wirkung der
verdünnten Luft auf den Reisenden. Ich glaube nicht, dass einer von uns
in einem Zustande gewesen wäre, welchen man derselben hätte zuschreiben
können. Alle hatten wir an Müdigkeit und Erschöpfung zu leiden, als wir
in die höheren Regionen gelangten, aber Gefühle von Uebelbefinden, Brech-
Ein\vikkl;n(_; der verdünnten Luet.
reiz oder wirkliches Erbrechen, Nasen- und Ohrenbkiten oder wie immer
sich die Erscheinungen der sogenannten Bergkrankheit darstellen mögen,
habe ich weder an mir, noch an meinen Begleitern konstatiert. Wie bei
den meisten Ersteigungen, welche lange über Firnterrain führen, musste in
der letzten Strecke oft angehalten werden, um einige Minuten stehend
auszuruhen. Bei mir äusserte sich die Müdigkeit während des letzten
Teiles des Anstieges in einer Schwäche der Kniemu.skeln, und bei Burgener
im Abstiege über die Firnhalden in einer hochgradigen Mattigkeit. Aber
dies scheint unvermeidlich zu sein, wenn man die Ersteigung eines so hohen
Bergfes unter besonders schwierigen Verhältnissen, wie es diesmal der Fall
o-ewesen, unternimmt, so wie auch nie ausser acht (gelassen werden darf,
dass das physische Befinden des Bergreisenden im Kaukasus, wie über-
haupt in ausserhalb der europäischen Zivilisation gelegenen Hochgebirgen,
infolge der Entbehrungen, schlechter Ernährung, fortgesetzt schlechten
Lagers, grösserer Mühen und Sorgen, ein entschieden ungünstigeres ist,
als des in den heimischen Alpen sich trainierenden und wieder behaglich
ausruhenden, Kräfte sammelnden Hochtouristen. Aber keiner von uns hatte
ein besonderes Uebelbehnden gefühlt, welches direkt der verdünnten Luft
hätte zugeschrieben werden können.
Wir ruhten einige Stunden im Zelte und brachen dann das Biwak
ab. Ich und Peter hatten an den P^issen PVostschäden davongetragen, und
Burgener hatte zwei Finger der rechten Hand erfroren. Fürst Ismael be-
handelte die Frostschäden, indem er an Quellen und Bächen gesammelte
Kräuter und Wasserfäden auf dieselben legte. Burgener litt zwei läge
lang grosse Schmerzen, und Peter bekam Blasen an den P"üssen.
Man nahm Abschied von Kosch Asau und zog Urussbiehwärts.
Burgener hatte recht gehabt, das Wetter war nun ganz schlecht geworden, zeit-
weise regnete es. Drei Stunden unterhalb Kosch Asau bezogen wir bei einer
im Sommer bewohnten Hütte, unter schützendem Dach, ein Nachtquartier.
Am 25. August wanderten wir dann in strömendem Regen nach
Urussbieh, und triumphierend hielten wir unsern Einzug im Aul. Die ganze
Bevölkerung war auf den Füssen, besser auf den Dächern. Die Ange-
sehensten im Dorfe begrüssten uns auf dem kleinen freien Platze, wo die
Brücke über den Kyrtykbach führt. Die Ausrufe: Allah il Allah Illaha«,
untermischt mit ?Minghi-Tau und andern, weniger verständlichen Aeusse-
rungen der Beglückwünschung und der Bewunderung seitens der Tataren,
wollten kein Ende nehmen.
Dechy: Kaukasus. 9
Suanetische Träöcr auf dem Mar;
X. KAPITEL.
Aus dem Bakssantale über den Betseho-Pass
nach Swanetien.
Die ganze Majestät des wiiinlersameu Kaukasus
Fiiiilet iu Hochsuanien ihre Spitze . . .
Al.ich.
Mit der durchgeführten Ersteigung des Elbruss war ein Hauptpunkt
des Reiseprogrammes erfüllt. Bei Eeststellung desselben hatte ich weniger
auf die Möglichkeit, viele Ersteigungen auszuführen — die uns jedenfalls
zu lange in einer Gruppe festgehalten hätten — , sondern hauptsächlich
darauf Rücksicht genommen, einen grossen Teil des zentralen kaukasischen
Hochgebirges kennen zu lernen. Aus dem Bakssantale sollte jetzt auf
einem von Reisenden noch nicht begangenen Gletscherpasse der Haupt-
kamm überschritten werden, um in das im Süden desselben liegende
Längenhochtal des Ingur, nach Swanetien, zu gelangen.
In Urussbieh musste ich den für mehrere Tage nötigen Proviant,
insbesondere Brot, beschaffen und Träger für mein Gepäck anwerben.
— 130 —
MANf;Ei. .w Pkovisioxex in Ukussüieii.
Folgendes finde ich in meinem Notizbuche: »26. und 27. Aucrust: das
schlechte Wetter hält an, am 28. tritt rasch Besserung ein, der Himmel
kliirt sich und der 29. August ist ein schöner, wolkenloser Tao- ! Aber
trotz aller Bemühungen und Kämpfe konnte ich den Aufbruch nicht er-
zwingen, nicht nur, dass die Pferde, welche bis zur Mündung des Jussengi-
tales die Lasten tragen sollten, nicht zum Vorschein kamen, es war auch
unmöglich, Brot oder irgendwelche Ergänzung unserer Provisionen zu er-
halten. Ich glaube, es gab im Aul absolut keinen Stoff, aus welchem
Brot gebacken werden konnte, und berittene Boten waren zu dem be-
freundeten Fürsten nach Tschegem gesandt worden, um von dort Mehl zu
bringen. Die glänzende Kavalkade, welche sich vierzehn Tage früher
in das Lager beim Kosch Asau begab, hatte wie ein Heuschrecken-
schwarm alles im Bakssantale
aufgefressen.«
30. August. Um 10 Uhr
vormittags verliessen wir Uruss-
bieh. Ich nahm mit dem Aus-
drucke aufrichtigen Dankgefühls
Abschied von meinem Gast-
freunde, Ismael Urussbiew und
von unserm Reisegefährten der
letzten Wochen, seinem Bruder
Hamsat. Die Verzögerungen in
der Beschaffung der Pferde,
Träger und des Proviantes
liegen in den Verhältnissen, in
der Beschränktheit der zur Ver-
fügung stehenden Mittel, in der
orientalischen Unkenntnis des
Wertes der Zeit. Ismael Uruss-
biew war unter den Bergbewoh-
nern des Kaukasus der einzige,
der nicht nur Verständnis für
die Ziele und Zwecke der Reisen-
den entgegenbrachte, sondern
der selbst ein kühner läger, ein
begeisterter Naturfreund war, sich
für alles, insbesondere Natur- ismael Urussbiew.
In HAS jLSSKMiI-T.\L.
Wissenschaften, lebhaft interessierte und in schöner, gutherziger Weise
edle Gastfreundschaft übte.
Auch diesmal hatte Ismael, so gut er konnte, für uns gesorgt. Das
wichtigste war, die nötigen Tnäger zu beschaffen. Die Bakssantataren sind
zu wohlhabend und gehen nur ungerne — noch dazu mehr oder weniger
schwer bepackt — über die hohen Gletscherpässe. Ismael warb für uns
Swanen als Träger, welche gewöhnlich im Sommer nach dem Norden der
Kette kommen, um dort als Feldarbeiler Geld zu verdienen, und die in
ihrer Armut gerne bereit waren, den sich ihnen als Träger bietenden Ver-
dienst zu gewinnen. Doch Ismael begnügte sich nicht damit, sondern einer
seiner Diener, der Bakssantatare Mohammed, mussle uns begleiten, um uns
bei den, mit den Urussbiews in verwandtschaftlichen Beziehungen stehenden
Swanenfürsten einen guten Empfang zu sichern.
Wir wanderten im Bakssantal aufwärts, bis wir an die enge Schlucht
gelangten, aus welcher der lussengi-Bach hervorbricht. W'ir bogen in dieses
Seitental und stiegen durch beinahe undurchdringlichen Wald. In einem
Teile desselben hatten Sturm und Lawinen verheerend gewütet. Es folgt
eine steinige Talstufe. Kein Grün ist mehr sichtbar. Alles ist unsagbar
wild. Am Ende einer ebenen, vom Bache durchzogenen, mit Pelsblöcken
und Geröll übersäten Fläche liegt die gleichfalls mit schwarzem Schutt
bedeckte Zunge eines Gletschers, den ich Jussengi-Gletscher nannte. Ueber
demselben bildet ein schön geformter, schneeiger Bergwall den Abschluss
des Tales, in welchem zur Linken des Beschauers — östlich — unser
Uebergang liegen soll. Betscho-Tau nannten ihn unsere Leute. Betscho
heisst das im Süden der Kette liegende -Seitental des Ingur, in welches
der Uebergang führt, und Tau, die tatarische Bezeichnung, wird, wie wir
sehen, sowohl für einen einzelnen Berg, als auch für eine Kette oder
Gruppe und auch für Uebergänge angewendet, ähnlich, wie in einem Teile
der östlichen Alpen das Wort Tauern (Tau — Tauern:) für die Kette und
auch als Gattungsname für die Uebergänge benützt wird.
In der Nähe des Gletschers, in der Höhe von etwa 2400 m. schlugen
wir um 7 Uhr abends das Zelt auf. Burgener war krank geworden und sein
Befinden gab zu ernster Besorgnis Anlass. Ich beobachtete den Kranken,
blätterte im medizinischen Handbuche und entnahm der Reiseapotheke
mehrere Medikamente. Leider habe ich vergessen zu notieren, was ich ver-
ordnete, und ich bedauere, dadurch vielleicht die medizinische Wissenschaft
geschädigt zu haben, denn die verordneten Mittel wirkten; Burgener fühlte
sich später bedeutend besser und am Morgen war er marschfähig. Ich Hess
DkR JUSSKNGI-GLETSfllER.
ihn, narhdcni rasch der Morgcntce bc;r(jitct wvirdi;, sofort abzic;h(;n, dainii
er langsam einen Yorsi^rung gewinne, indc;s ich das Lager abbrechen,
jjacken und dit; Lasten noch unter die Träger verteilen musste. Wie immer,
war dies keine leichte Arbeit. Im ö'/s Uhr — es war der 31. August —
konnten auch wir den Lagerplatz verlassen. In der Nacht war es bitterkalt
gewesen, aber um so prächtiger, wolkenlos war dc;r Tag angebrochen.
Die Entfernungen im Gebirge täuschen leicht, wir brauchten verhältnis-
mässig lange, bis wir über die geröllbedeckte Ebene an den Jussengi-Gletscher
gelangten. Das Ende desselben lag bei 2466 m (A. D.). Am linksseitigen
Die Gipfel des iJongusorun mit dem Jussengi-Gletscher.
Talgehänge, teilweise über bedeutend entwickelte Seitenmoränen, stiegen wir
an, und nach etwa zwei Stunden betraten wir das Eis. Schon früher waren
wir mit Burgener zusammengetroffen, dem der Morgenspaziergang, wie es
schien, gut bekommen war. Höher oben war es ein entzückendes Gemälde,
welches der Gletscher, der ein inmitten aufragendes, felsiges Vorgebirge umflutet,
mit den in edeln Linien sich über ihm erhebenden Eirngipfeln des Dongusorun
bietet, glänzend in der Lichtfülle und in der klaren Atmosphäre dieses Morgens.
Der Anstieg zur Passhöhe führt aber steile b'irnhänge. Nur wenige
Spalten kreuzten den Pfad. Der Schnee war gut und wir kamen rasch vor-
wärts. Vier Stunden brauchten wir bis auf den Betscho-Pass, der in
133
Aussicht vom Betscik)-Pass.
der Hohe von 3375 ni (3390 m A. D.) im 1 laui)tkamme einge-
schnitten ist.
Ein wütender Sturm fing sich in den granitnen FelskHppen, welche
der schneeigen Passhohe entragen, aber kein Wölkchen zeigte sich am lichten
Firmamente. Im Norden sind es die Elbrussgi|)fel, welche, alles beherrschend,
sich zu erdrückender Grösse und Höhe erheben. Von hier gesehen, kamen
die mächtigen Dimensionen des eisigen Vulkans zu voller Geltung. Schneeige
Staubwolken riss der Orkan von den Plrnhöhen des Berges. Deutlich
konnte man die Richtungslinie unseres vor acht Tagen ausgeführten Auf-
stieges verfolgen. Dort brechen sie hervor, die dunkeln Trachytfelsen, aus
der weissen Hülle, willkommene Rastpunkte in der weiten Schneewüste.
Deutlich war die F"elskante am höchsten Gipfel kenntlich, auf welchem wir
die Fahne des Siegers pflanzten. Der Eindruck, den der Anblick des
mächtigen Berges hervorrief, wäre für jedermann ein überwältigender ge-
wesen, für mich war er mehr. Das stolze Bewusstsein vollbrachter Tat
mischte sich in meine Bewunderung. Warum dies nicht eingestehen? Warum
nicht den Lohn für den mutig und andauernd geführten Kampf einheimsen.?
Warum nicht den Reiz durchkosten, den das Bewusstsein in sich birgt, das
gekonnt zu haben, gekonnt aus eigener Kraft, woran andere gescheitert
waren, was andere nicht vermocht hatten; das erreicht zu haben, was nur
wenige vor uns erreichten, was nur wenigen zu erreichen vergönnt ist?
Im Süden erscheint in der torähnlichen Oeffnung, welche zu beiden
Seiten der Firnhöhe dunkle, schneebedeckte Felsklippen bilden, eine Hoch-
gebirgsansicht, ebenso grossartig als schön. In bogenförmigem Zuge erhebt
sich dort eine vom Hauptkamme westlich unseres Standpunktes ausstrahlende,
von zahlreichen Hängegletschern bedeckte Bergkette, die mit ihrer Wendung
gegen Osten parallel mit dem Hauptkamme streicht. Aus einer von Aus-
läufern des Dongusorun- Massivs umschlossenen Bucht ziehen die zer-
schrundeten Firnmassen, welche tiefer unten den Dolra- Gletscher bilden.
Es war dies eine neue, ungeahnte Welt von Bergen und Gletschern, die
keine Karte angedeutet hatte, lieber den westlich den Passeinschnitt be-
grenzenden, schneebehangenen Felszügen, deren Höhenlinie eine haarscharfe
Firnschneide bildet, bot sich, an diese Berge anschliessend, ein kleines
Segment einer P'ernsicht. Es war eine in sanften Linien verlaufende Berg-
reihe, die obersten Partien eines Teiles der im Süden des Ingur -Tales sich
erhebenden Leila-Kette. Makellos war dort alles in bläulichweissen Schnee
gehüllt, von einer herrlichen Farbenzartheit, welche die ausserordentlich
durchsichtige Atmosphäre des Tages zur Geltung kommen Hess.
Lei la - Kette
Tscharinda 3579 m
VO/A BeTSCHOPaSS (3'!)75 /AETEI
Dolra-GIetscher
GEGEN Süden und Südwesten.
AiisTiKc IX DAS Tal des Doi.ka-tsc-iiala.
Der Versuch, trotz des rasenden Sturmes eine; photographische Auf-
nahme zu machen, war vergebHch. Rasch wurden einige Bissen Nahrung
crenommen und mit den 'rrägern, die einstweilen uns nachgekommen waren,
der Abstieg begonnen. Schon nach kurzem Gange entzogen die Bergwände
uns dem Winde, hn tiefen Schnee wurde der photographische Apparat
aufgestellt und prächtige Bilder der Rundschau belohnten die etwas
frostige Arbeit.
Und nun vorwärts. .Spalten durchziehen die Firnhalden. Wir legen
das Seil an. An einigen Stellen bedeckt nur eine dünne .Schneeschichte
das Eis, und wir schlagen zur Sicherheit einige Stufen in dasselbe. Burgener
muss an einer Stelle zurück, den Trägern Seil und Hakenstöcke reichen,
deren Anwendung sie nicht genug anstaunen und würdigen konnten. Mit
Umwegen und Zeitverlust ist auch ohne beides durchzukommen, der Mangel
derselben muss jedoch an den Unglücksfällen Schuld tragen, welche nach
den Angaben der Eingeborenen in den seltenen Fällen sich ereigneten,
wenn Not oder vielleicht Raubsucht die Eingeborenen zum Ueberschreiten
der Hochpässe des schneebedeckten Hauptkammes veranlas.ste.
Den gewundenen milderen Teil des Gletschers, der steil und zer-
klüftet abfällt, umgingen wir an den Felsflühen zu seiner Linken und stiegen
dann zum wenig geneigten Gletscherende hinab, das von mächtigen Stein-
blücken und Trümmermassen bedeckt ist.
Der Dolra-Gletscher, der im Abstiege durch seitliche Felswände ver-
deckt war, wird jetzt in einer Talöffnung im Westen, die der bis beiläufig
2500 m herabreichende Eisstrom erfüllt, sichtbar. Die Firnhöhen liegen im
gleissenden Lichte der schräg auffallenden Nachmittagssonne. Vom oro-
graphischen Aufbau dieser durch hohe Querjoche und mit dem Hauptkamm
parallel laufende Seitenketten gebildeten obersten Ke.ssel der in das Ingur-
tal mündenden Seitentäler, von ihrem Gletscherreichtum, hatte man keine
Ahnung. Das obere, vom Dolra-tschala*) durchströmte Betscho-Tal verdankt
sein Entstehen den kristallinischen Felsarten der es umschliessenden Berg-
ketten, meist Granite, welche, wie in den Alpen, in der Montblanc- und in
der Pelvouxgruppe, die Neigung haben, doppelte, parallellaufende Bergzüge
zu bilden.
Die Gletscherbäche, welche die oberste ebene Talstufe durchzi^^hen,
sammeln sich und graben sich etwas weiter unten einen tiefen Einschnitt
in das eranitische Gestein. Die Tahvände treten nahe zusammen, und an
*) Tschala bedeutet im Swanetischen I5ach.
— 135
Kaukasisci IE Gkössenverhältmsse.
Uolra- Gletscher.
Steilen, steinigen Hängen der von Nord nach Süd ziehenden, engen Schhicht
geht pfadlos unser Weg, bald bergauf, bald bergab. Jetzt beginnt dichtes
Buschwerk, Rubus-, Sambucus-, Juniperus-Gesträuche, die Wände zu über-
wuchern, durch welches wir uns durchkämpfen müssen.
Kaukasische Grossenverhältnisse machen sich geltend — denn wir
wandern ohne Unterbrechung stundenlang, und noch immer nehmen die
Steilwände der Schlucht kein Ende. Die schwer bepackten Träger ermüden,
und es wirkt komisch, wenn sie dies mit Gebärden anzeigen wollen, indem
sie auf ihre schlotternden Knie weisen und dabei ein jammervolles Gesicht
schneiden :
»Dennoch werden gemach die Glieder ihm schwer,
Und es quälen Hunger zugleich und Durst,
Und dem Gehenden wanken die Knie.«
lilias .\I.\ )
Doch nirgends bietet sich das kleinste ebene Fleckchen, um zu lagern,
nirgends ein Tropfen Wasser an diesen Granitwänden, indes in der liefe,
unnahbar, der schäumende Gletscherbach rauscht. Endlich weitet sich die
Enge, und als wir aus derselben treten, nimmt die Landschalt den Charakter
eines freundlichen, grünenden Hochtales an, das sich mit einer scharfen
Biegung nach Osten w-endet. Aus einer Talöffnung zur Rechten strömen
die einem bedeutenden Gletscher entspringenden Wasser des Kwisch-Baches.
136 —
SrilWlEKTCKS l''i;ERSE'rZE\ nKR Gl.ETSCIlERüÄClII-:.
Das Gehänge, an welchem wir niedersteigen, beginnt sich mit Nadel-
hölzern zu bekleiden. Ein weiter Blick trägt hinaus auf bewaldete Berg-
wände und auf die grünen Mattengründe der noch fernen Tiefe, lieber
derselben erscheint die lange Linie der an schön geformten Gipfeln so reichen
Leilakette in blendendem Schneekleide, welches sich vom herrlichen, saftigen
Grün der vorliegenden, sie umrahmenden Bergwände abhebt.
Ein scharfer Abstieg bringt links zur Mündung einer kleinen Seiten-
schlucht, aus welcher milchigtrübe Gletscherwasser hervorbrausen. Felsiges
Geklippe steht im Hintergrunde der Schlucht, wo Uschba thronen niuss.
Ein Vorgipfel ragt in brüchigen Felswänden, die ein Schneecouloir durch-
zieht, empor. Dann wird ein höherer, von einer Firncorniche gekrönter
Gi[)fel sichtbar. Wallende Nebeldünste, von einfallenden Sonnenstrahlen er-
leuchtet, schwimmen um die Höhen und verhüllen sie immer wieder. Ueber
der Schlucht wird das Ende eines Gletschers sichtbar, welcher in seiner
ganzen Breite bis an den Höhenrand der abfallenden Felswände reicht. An
demselben brechen die Eismassen ab; an einzelnen Stellen treten sie, gleich-
sam überfliessend, über die belskanten hinaus. Die glattgeschliffene Stein-
mauer ist jetzt eisfrei und die Gletscherwasser stürzen in zwei Wasserfällen
zerflatternd über dieselbe. Einst, da die Eismassen des Gletschers weit
hinaus ins Tal reichten, mussten sie über diese Felswände fluten und einen
riesigen Eisfall gebildet haben. Ohne Steg, wie überall in diesen menschen-
leeren Gegenden, macht uns das Uebersetzen des aus dieser Schlucht her-
vordringenden, nach der Hitze des Tages mächtig angeschwollenen
Gletscherbaches nicht geringe Mühe. Wir mussten Bergstänime herbei-
schleppen, Felsblöcke in das Wasser rollen. Nach schwerer Arbeit gelang
es, das tosende Bergwasser zu überschreiten, allerdings nicht ohne CJefahr,
von den glatten, vom überschäumenden Wasser nassen Stämmen abzu-
rutschen.
Nun umfängt uns herrlicher Wald. Zu riesiger Höhe wachsen die
Nordmannstannen Sie stehen nicht zu dicht und gestatten die volle Be-
wunderung der einzelnen Baumformen. Das Dunkel des Abends lagert
sich auf die Landschaft, das letzte Gold der .Sonne schiesst durch die
lannenzweige.
Im Walde schlugen wir um 7 Uhr abends unser Lager auf, sieben
•Stunden nach tlem Verlassen der Passhöhe. Alle mussten mithelfen. Es
scheint, dass der in Aussicht gestellte Tee die Mannschaft zu rascher Arbeit
aneiferte. — Bald war Brennholz und Wasser zur Stelle geschafft. Burgener
hatte sich mit Steinplatten den Kochherd zurecht gemacht. Eine -Suppe
— 137 —
Das W.\i.ni;T\vAK im oüeren Betscho-Tale.
wurde gekocht, und ilann teilten wir uns in die Reste des Proviants. Wie
immer mundete dann zimi Schlüsse kiistlicher Tee.
Ich ging später an den Saum des Waldes und sah von einer hohen
Uferterrasse des Baches hinaus in das Tal. Zwischen lichten Wolken trat
dort der Mond hervor, erhellte die in ferne Tiefen versinkende, waldige
Landschaft und glitzerte in der Höhe auf den silbernen Schneefeldern der
in phantastischen Formen aufragenden Bergzinnen. Es war still und ruhig,
nur das schwache Rauschen eines nahen W^assers war hörbar.
Als ich zum Lager zurückkehrte, ruhten dort die Swanen am glimmenden
Feuer, im tiefen Schlaf nach des Tages Mühen. Das sanfte Licht des
Mondes, welches das Tal umflutete, erhellte auch das Waldesdunkel. Ein
unnennbarer Zauber umwob das Waldbiwak; die lebhafteste Phantasie könnte
nichts Schöneres, Packenderes erdenken. Allein in den fernen Bergen, ge-
noss ich in vollen Zügen das Schöne und Fremdartige, das mich umgab.
Spät ging ich zur Ruhe.
I. September. Schon als der Morgen graute, war alles im Lager
wach, und rasch waren wir wieder marschbereit. Wir wandern zuerst durch
eine ebene Talstufe des wieder von Nord nach Süd, als Ouerschlucht zum
Ingur ziehenden Tales. Noch lange bleibt die Leilakette vor Augen, vom
zarten Licht des Morgens umflossen, ein wunderbarer Anblick. Bevor wir
dem Bach, der sich wieder durch einen steilen Talriegel den W^eg ge-
schnitten hat, abwärts folgen, blicken wir zurück. Mit hohen, zirkusförmigen
Wänden baut sich der Abschluss des Tales auf. ¥Än scharfer Abstieg
bringt auf ebenes, grünes Wiesengelände. Dichter Wald bekleidet die Berg-
Abschluss des Betscho-Tales.
— 138 —
Empfaxc; i\ Maskki ükim Füks'ikn Dadiscii-Kiltam.
hänge. Später bemerkt man bebaute b'elcler, und ein breiter, ausgetretener
Pfad kann verfolgt werden; dann kommt man zu mehreren Steinhütten,
welche zerstreut zwischen Baimigrujjpen liegen und von hohen Türmen
flankiert sind. Es ist IMaseri.
Das erste, grosse, von einem Tore geschlossene Gebäutic; ist das
Haus eines swanetischen Fürsten, eines Dadisch-Kiliani. Diesem hat Ismail
Urussbiew, sein naher Verwandter, uns warm empfohlen. Fürst Dadisch-
Kiliani hat eine Bakssanprinzessin zur PVau, und ein Teil des Dadisch-
Kiliani-Geschlechtes hatte schon vor langen Zeiten den mohammedanischen
Glauben angenommen. Mohammed, der Diener Ismaels, war mit den Briefen
vorangeeilt, unsere Ankunft zu melden. An der Torschwelle standen zwei
Männer in der kaukasischen Tscherkesska, aus grobem, grauem Tuche ver-
fertigt, welches in .Swanetien gewoben wird; als Kopfbedeckung trugen sie
einen kleinen, weissen Filzhut, ähnlich jenen, welche wir im Lande der
Ossen und Digorier gesehen hatten. Der Fürst ist ein hoher Mann mit
leicht ergrautem Vollbarte, der andere ein Verwandter, der als Gast zu Be-
such war. Würdevoll, mit Händedruck wurden wir begrüsst. Wir konnten
nicht miteinander sprechen, da die Fürsten des Russischen nicht mächtig
waren. Meine Kenntnis der russischen Sprache war damals eine sehr ge-
ringe, und auch Mohammed, der Bakssantatare, verstand kaum einige Worte
russisch. Dass wir unter solchen Umständen nach dreitägiger Reise ohne
erhebliche Missverständnisse heil in Swanetien gelandet waren, beweist, dass
die Not erfinderisch machen muss.
Vor der Haustür, auf einer kleinen Wiese wurden unter Bäumen
Stühle für mich und meine .Schweizer gebracht, auch ein kleines Tischchen,
auf welchem swanetisches Brot und Schafskäse lag. Dazu wurde in .Swanetien
gebrannter Branntwein angeboten. Nach dieser frugalen Bewirtung er-
schienen vier Pferde, drei für mich und meine Schweizer, während das vierte
der luirst bestieg, der es sich nicht nehmen lie.ss, uns bis Betscho zu be-
gleiten. Das Gepäck wurde auf einen Schlitten gelegt — Räder kennt man
in Swanetien nicht — , der von einem Paar kräftiger Ochsen gezogen wurde.
In einer kleinen Stunde waren wir in Betscho. Der Ort ist der .Sitz
einer Verwaltungsbehörde für Swanetien. Im grünen engen Tale, in der
Höhe von 1300 m stehen mehrere Blockhäuser und Baracken, die dem
Bezirkschef (Pristaw), seinem Gehilfen und den ihm zu seiner Bedeckung bei-
gegebenen Kosaken zum Aufenthalte dienen. Bei unserm Eintreffen empfing
uns der Pristaw. Herr Stabskapitän Marschanow, ein Georgier, auf das
treundlichste, räumte uns zwei Zimmer in einem unbewohnten Hause ein
— 139 —
ST.\.\l>i,)rAKTIKR IN BETSCHO.
und lud uns zum MittaL^esscm. In unserm ( hiartier befanden sich zwar nur
ein 'l'isrh untl nu;hrerc; Molzbänke, aber mit unserer Ausrüstung marhten
wir es uns bald so bequem als möglich, und es war um so angenehmer,
sich in einem trockenen Räume, unter dem Dache eines Hauses zu wissen,
als draussen ein trostloses Wetter herrschte. Schon am Wege nach Betscho
hatte uns ein heftiger Regen ereilt, und das Unwetter hielt den ganzen Tag
und auch während der Nacht an.
2. .September. Der Regen hatte am Morgen aufgehört, aber die
Wolken hingen tief an den Bergen, und die Landschaft war von dichtem
Nebel umhüllt. Es war empfindlich kalt. Auf den Höhen, selb.st im oberen
Talboden war Schnee gefallen. Wir waren einen Augenblick geneigt, dies
nach der Wetterregel in den heimischen Alpen für ein günstiges Zeichen zu
halten. Allein das Wetter besserte sich nicht, die Barometer fielen und die
Prophezeiungen der Bergbewohner lauteten nicht günstig. Die Swanen
klagten über einen ausnahmsweise schlechten Sommer; das Getreide war
ungeschnitten auf den Feldern erfroren. Es war die Wiederholung des ab-
scheulichen Wetters, das wir am Fu.sse des Elbruss durchlebt hatten.
Nur einen Wunsch hatte ich noch: Uschba zu sehen und zu photo-
graphieren, den Berg, den ich von den Hängen des Elbruss den Haupt-
kamm des Kaukasus überragen sah und dessen Doppelgipfel das Hochtal
Swanetiens beherrscht; dann wollte ich an die Nordseite des Gebirges, nach
Besingi zurückkehren, um die Erforschung des Hochgebirges im Norden
fortzusetzen.
Am Abend klärte es sich im Hintergrunde des Betscho-Tales. Lang-
sam teilte sich dort das Wolkenchaos, und im wallenden Nebeltreiben wurden
steil abfallende, mit abbrechenden Eisfeldern bepanzerte Felsmauern für Augen-
blicke frei. Schon sank die Sonne tiefer und tiefer. Da trat plötzlich leb-
haftere Bewegung in die Wolkenburgen, die noch immer festgeballt auf den
Höhen lagen; sie lüfteten sich; die rauchenden Dunstmassen zerflatterten,
glitten in die Tiefe, eine neue Bergwelt tauchte auf, wie im Werden des
ersten Tages. Das schneedurchfurchte Felsgerüst erhielt eine Krönung; ein
kühn aufschiessendes, nach oben sich verjüngendes Gijjfelgebilde hebt sich,
mit Neuschnee überschüttet, vom grauen Wolkenhintergrund leuchtend ab;
ein eisiger Absatz trägt ein den Berg umschlingendes, abstürzendes Felsen-
band, von welchem die Spitze, eine abschüssige Firnfläche auf ihrem Scheitel,
ein trotzig aufstrebender Helm, in den Himmel ragt. Es ist Uschba, eine
der merkwürdigsten, überraschendsten Bergformen der Welt. Nur wenige
Augenblicke dauerte die Vision. Dann begann wieder das .Spiel der Xebel,
— 140 —
U.sciii;a, das Mattkkhokn dks Kaukasus.
die bald die eine,
bald die andere
Partie des herr-
lichen Berges ver-
deckten.
Uschba hat zwei
Gipfel; es ist der
.Südgipfel, der im
Anblicke von Bet-
scho sich darstellt,
indes der durch
eine tiefe .Scharte
getrennte zweite
Gipfel gegen Nor-
den etwas ver-
deckt liegt. Die
Höhe der nahe-
zu crleich hohen
Uschba.
Gipfel kann nach den vorliegenden Messungen mit rund 4700 m ange-
nommen werden. Es wurde bis in die letzte Zeit der Südgipfel mit
4698 m als um ein Geringes den 4694 m hohen Nordgipfel überragend
gehalten, die Frage kann jedoch nach den allerneuesten Beobachtungen
nicht als entschieden gelten. Der Berg erhebt sich in einem vom Haupt-
kamme gegen Süden sich loslösenden kurzen Zuge als granitisches Fels-
gebilde, das einer Basis kristallinischer Schiefer entragt.
Uschba wurde das Matterhorn des Kaukasus genannt. Am meisten
gleicht der Südgipfel dem Matterhorn, aber dieses ist symmetrischer, gra-
ziöser, Uschba grösser, abstürzender. Das Matterhorn erhebt sich etwa
141
KNTSClII.rsS, DAS HoClICKlIIRGK ZU VKRLASSEN.
2800 m über das Tal bei Zermatt, der Uschba 3400 ni über das Betschotal.
Die Ansicht des Berges, wie sie sich, von den zwei Gipfehi gekrönt, dar-
bietet, hat wenig Aehnlichkeit mit dem Alpenberge, vmd auch von Stand-
punkten, die nur den Anblick des einen, des südlichen Gipfels umfassen,
sind es nicht die Linien, welche die Form des b'elskolosses besdmmen, noch
die Firn- und lüspanzer, welche er trägt, die den Vergleich nahelegen, son-
dern das beiden Hergen gleiche, aus verhältnismässig niedriger Umgebung
isolierte Aufsteigen, das \'orherrschen der vertikalen Linien über horizontale
Richtungsflächen, der steile, unvermittelte Aufbau, das Abstürzende im Fels
und Eis. hl Bezug auf seine herrliche Architektur bleibt Uschba unüber-
troffen.*)
Die Nacht brachte wieder Sturm und Regen. Am Morgen
waren die Bergwände bis zum oberen Talboden mit Neuschnee be-
deckt. Aber nicht nur das schlechte Wetter dieses ungünstigen Sommers
stellte die Ausführung des Restes meiner Reisepläne in Frage, sondern auch
mein Schweizer Bergführer wollte nunmehr den Schluss der Reise herbei-
führen. War es Heimweh, war es augenblickliche Abspannung nach den
Mühsalen und Entbehrungen einer Bergreise, die .sich unter ganz andern
X'erhältnissen als eine .solche in den europäischen Alpen abspielt, — Burgener
erklärte wiederholt, dass in diesem Jahre infolge der grossen Massen Neu-
schnees die Ausführung von Hochtouren unmöglich geworden sei und es
zwecklos wäre, auf eine Besserung des Wetters zu warten.
3. September. Als ich am Morgen infolge des noch trüben Wetters
nicht früh aufgestanden war, klopfte Burgener ungeduldig an meine Tür,
mit den Worten: »Das Wetter komme nicht besser, da könnten wir noch
lange in diesem Regenne.st sitzen: nun sei es Zeit aufzubrechen.« Die
Antwort, die Burgener darauf erhielt, war keine zu höfliche, — aber eine
Stunde später waren alle Vorbereitungen getroffen, um die Reise durch das
Ingur-Tal fortzusetzen und mit dem Ueberschreiten der im .Süden vor-
liegenden Bergzüge das Hochgebirge zu verlassen. Unternehmungen, wie
wir solche auszuführen hatten, konnten nur in völligem Einverständnis und
mit gutem Willen erfolgreich und nutzbringend zu Ende geführt werden.
Ein Zwang, insbesondere im fremden Lande, wäre unzweckmä.ssig, vielleicht
von unangenehmen Folgen begleitet gewesen.
*) Der Name Uschba wird damit erklärt, dass im Swanetischen Usch Sturm oder Regen
bedeutet, ba Berg. Wir hätten also ein kaukasisches Wetterhorn. Nach andern wieder bedeutet
Usch ein Schreckbild, ein Ungeheuer, also Schreckhorn, nach der Analogie des Gipfels in den
Berner Alpen. Die Fürsten Dadisch-Kiliani in Ezeri behaupteten, der Name komme von usch, das
in ihrer Sprache zwei bedeute, eine Bezeichnung, die der Form des Berges als Doppelgipfel entspricht.
— 142 —
SWANETlSClIli TALLANDSCIIAI-T.
Der freundliche Pristaw betrieb selbst die Vorbereitungen zu unserm
Aufbruche, war beim Aufladen der Lastpferde zugegen, so dass wir merk-
würdig rasch reisefertig wurden. Er gab uns einen in georgischer Sprache
o-eschriebenen Geleitbrief und sandte einen swanetischen Milizsoldaten mit
uns: eine prächtige Gestalt mit wallendem Barte, einer hohen, spitz zu-
laufenden Schaffellmütze und natürlich hoch zu Ross.
Unmittelbar bei Betscho begannen wir einen Bergrücken anzusteigen,
der bei schönem Wetter i^rächtige Blicke auf Uschba bieten muss. Von
der erreichten Höhe sah ich zum erstenmal die reich gegliederte swanetische
Tallandschaft, mit ihren von zahllosen Türmen umstandenen Dörfern, dem
grünen Wiesengelände, den schönen Wäldern, hn Süden, von der schnee-
bedeckten Leilakette, zieht eine Reihe von lachenden, von Bächen durch-
zogenen Waldtälern nieder. Aus dem Norden münden ernste, gletscher-
erfüllte Ouerschluchten, und im Osten Hessen die aus den Wolken für
Augenblicke auftauchenden Mrngipfel die ganze Pracht der eisigen Um-
randung des Hochtals ahnen.
Ein steiler Abstieg brachte uns nach dem Dorfe Latal (etwa 1220 m).
Unter einer prächtigen, breitkronigen Linde ruhten wir, umringt von den
staunenden Bergbewohnern, Männern, dunkeläugigen Weibern und Kindern.
Wir zogen nach Muschal, in die Ecke des nördlichen Quellbezirks
des higur. Es war ein immerwährender Wechsel prachtvoller Talland-
schaften, im Schmucke dunkler Waldungen, im lichten Grün der Wiesen
und Saatfelder prangend, die um so eindrucksvoller wirken, wenn man, wie wir,
aus den sterilen Ouertälern der nördlichen Abdachung des Kaukasus kommt.
In der Nähe von Mestia (1350 m) rauscht die Mulchara, der nördliche
Ouellfluss des Ingur, in tiefer Rinne, welche von pittoresken Felsklippen
umstanden ist. Seitlich einer hohen Talterrasse liegen einige von Türmen
flankierte Steinhäuser, und im Hintergrunde dringen durch Nebelwolken die
Firnhöhen des Gebirges, die sich dort im Osten um die herrliche Firn-
pyramide des Tetnuld (4853 m) scharen. Am Abend wird es lichter, und
jetzt wird auch vom Bergrücken, den wir zwischen Mestia und Mulach
übersteigen, der doppelgipflige Uschba sichtbar, noch immer umgürtet von
wallenden Nebelbändern, glitzernd im neuen Schneekleide.
Abends nach einem starken Tagmarsche trafen wir in Muschal (1620 m)
ein. Gleich im ersten Hause, welches dem georgischen Geisdichen Margiani
gehört, werden wir gastlich aufgenommen. Ein Holzbau bildet ein oberes
Stockwerk, um welches vorn eine offene Galerie läuft. Ein gedieltes Zimmer,
in welchem sich zwei Bettgestelle, Tisch und Stühle befinden, wird uns zur
Das Mui.ciiara-Tai. vom Ugür-Pass.
Tschan gi, swanetische Harfe.
Verfügung gestellt. Zum Nachtessen kauften wir von den Einwohnern
Hühner und Hessen sie von der Familie unseres Gastwirts zubereiten. Der
gute Priester gab manches aus seinen allerdings beschrankten Vorräten zum
besten, so dass auf unserm Tische auch eine Flasche kachetischen Rot-
weines — ein seit vielen
Wochen entbehrter Anblick
— prangte, leider nur zu
sehr vom Gerüche des Leder-
sackes, Burduk, durchdrungen,
in welchem der W'ein trans-
portiert wird. Nach dem
Abendessen nahm der wackere
Priester seine Tschangi, die
swanetische Harfe, zur Hand,
und der Gesang swanetischer
Heldenlieder beschloss den
Abend.
4. September. Von Muschal führt ein steiniger Anstieg auf den Berg-
rücken, der das Mulchara-Tal vom südlich desselben parallellaufenden Haupt-
tale des Ingur scheidet. Es sind hier die östlichen Ausläufer der .Sagari-
Kette, die im 1922 m hohen Ugür-Passe überschritten werden. Das Wetter
hatte sich für kurze Zeit aufgehellt und wir konnten zum Abschiede noch
einmal im Anblicke des herrlichen Mulcharatales schwelgen.
Zu unsern F'üssen liegt jetzt das grünende Talbecken, vom Silber-
bande des Flusses durchschlängelt. Die Talwände steigen, licht bewaldet,
von mattengeschmückten Terrassen umgürtet, in kulissenförmiger Anordnung
auf, und aus den von ihnen eingeschlossenen Ouerschluchten blinkt das Eis
mächtiger Gletscherströme. Tschalaat- und Leksyr- Gletscher, die in die
Ouerschlucht oberhalb Mestia dringen, der Twiber-Gletscher, der in das
Seitental im Norden von Muschal zieht, und der Zanner-Gletscher in der
östlichen Ecke des Tales. Die Grösse dieser Gletscher, deren weit aus-
gedehnte Firnregion, von hohen Ouerjöchern umschlossen, zum grössten Teile
verdeckt ist, lässt sich kaum ahnen. .Spätere Porschungen erst, die Be-
gehung dieser Eisströme und ihrer P'irnbecken sollte die mächtige Aus-
dehnung dieser swanetischen Gletscher entdecken, erweisen. Und über dieser
reich gegliederten, farbenprächtigen Hochgebirgslandschaft erhebt sich, aus
einer Reihe schneebedeckter Gipfel weit vortretend, die eisbepanzerte
Pyramide des Tetnuld, noch vom Duftschleier des i'rühen Morgens umwoben.
Im Talk des Ingur.
Im Süden triftt der Blick auf schluchtige W'aldwildnis, welche dichtgeschlossene
Fichtenbestände (Picea orientalis) bilden. In dieser Umrahmung bieten auf
den gewellten Talflächen die von hoch aufragenden Türmen flankierten
swanetischen Dörfer ein bewegtes, höchst malerisches Bild. Die Wolken
teilen sich, und ein Sonnenstrahl fällt zündend, erleuchtend auf die herrliche
Tallandschaft.
Der Pfad zieht \c)m Ugür-Pass abwärts über eine Reihe hügeliger
Stufen und fällt dann zu einer hoch über dem Einfluss des Adisch-Baches
Die Tetnuldgruppe vom Ugür-Pass.
in den Ingur liegenden Alluvialterra.sse, auf welcher die von hohen Türmen
bewachten Hütten des zur Genossenschaft Ipari gehörenden Dorfes Bogresch
(1491 m) stehen. Von da führt ein lichter Waldweg dem im Südosten
strömenden Ingur entlang, bald am rechten, bald am linken Ufer des raschen,
schmutziggelben Flusses. Nur wenig ansteigend kommt man zur Einmündung
des an den Gletschern des llauptkammes entspringenden Chalde-Baches
und bald darauf zu mehreren armseligen Hütten, zu dem der ( ienossenschaft
Kai zugezählten Dörfchen Dauberi (1720 m). Es ist still und einsam in
diesem Hochtale, düster die Fichtenwaldung an den steilen Wänden, die
Dechy: Kaukasus. 10
— 145 —
Zklti.ackr im Schnkk.
enge zusanimenrücken, — ein scharfer Gegensatz zu der lachenden Tal-
landschaft der Mulchara.
Unsere Begleitmannschaft wollte hier, in dem letzten bewohnten Orte
auf unserm Wege zum Latpari-Passe. dem Uebergange über die im Süden
dem ingur-Tale vorliegende Bergkette, übernacliten, aber nicht nur, dass
daran nicht zu denken war, in eine dieser unglaublich schmutzigen Hütten
zu treten, selbst die Nachbarschaft des Dorfes für ein Lager war mir nicht
erwünscht, so zurückschreckend wirkte die Unreinlichkeit, der widerliche
Geruch, der aus dem von Russ geschwärzten hmern der Behausungen drang,
wo alles auf Elend und Armut hinwies.
Die Swanen leisteten ohne viel Widerspruch meinem Befehl bolge
und wir setzten schon nach kurzem Aufenthalt den Weg fort, der uns über
steile Schieferhänge bis an tlie obere Grenze eines hochgewachsenen Busch-
waldes brachte, wo wir in 2450 m (A. D.) Höhe das Lager bezogen.
Kaum hatten wir das Zelt aufgeschlagen, so brach ein heftiges Un-
wetter los. Es währte nicht lange, und als wir aus dem Zelte krochen,
war alles um uns mit einer weissen Decke umhüllt und der Schnee fiel in
dicken Elocken.
Zeltlager nach einem .Schnecfa
Swa netisches Dorf.
XI. KAPITEL.
Swanetien, und über den Latpari-Pass ins Riontal.
Tcüv OE 3uv;pyo|j.£Vü)y Eii-vcüv sl; ff|V \iozy.oorj'.aia.,
v.al Ol <P^Bi^o'fiü'(0'. sloiv, d-Ko xoö ao^jj-oö y,al xob tt^voo
X'ifii-ntr Trj5vo|j.c/.. UXr^z'ioy 31 xotl ol Soävsc. ohrjh/ ßsKtio')?
TOÖT'.ov TÖ) ;i:vo), oovtttxr: Ss ^eXt^O'j;, . . . . * i
Strabo XI, c. 2, § if)
Bevor wir vom swanetischen I lochtale des Ingur Abschied nehmen
um nach dem .Süden, den sonnigen Gefilden des Rion zu ziehen, wollen
wir noch einen Rückblick auf die orographi.schen Verhältnisse dieses merk-
würdigen Tales und seine nicht minder interessanten Bewohner werfen.
In aufeinanderfolgenden .Stufen, in welchen gletschergeborene Flüsse
ihre Betten gegraben haben, steigt das kolchische Gebirgsland gegen Norden
zum Hauptkamme des zentralen Kaukasus auf Parallel mit der Richtung
der von Nordwest nach .Südost streichenden Hauptkette laufen tlort die
Bergzüge, welche die oberen Flusstäler des Rion und des Zchenis-Zchali''"') um-
schliessen und das Hochtal des Ingur im Süden begrenzen. An den Schnee-
feldern des Hauptkammes entspringen die Ouellbäche dieser Flüsse. Un-
*) Unter den Völkern, die in Dioscurias zusaminenkonimen, sind auch die Phthirophagen
(Läuäefresser), die ihren Namen vom Schmutz und Untlat Ijckoninien haben. In der Nähe die
Soanen, nicht besser als sie im Unflat, aber mehr an M.icht . . . .-
**) Zchali im Georgischen = liach.
Das Kesseltai, des Ingur.
mittelbar am Südhange des kaukasischen Hauptkammes zieht das Längen-
hochtal des Ingur, bis der Bergstrom in der Durchbruchsschlucht von Ssun-
tari seine Richtung ändert und in südlichem Laufe seine stürmischen Fluten
in den Euxinus wirft.
Das Längenhochtal des higur stellt sich als ein allseitig von hohen,
schneebedeckten Gebirgen vollkommen umschlossenes Kesseltal dar. Im
Norden erhebt sich der mächtige Wall des kaukasischen Hauptkammes, dem
dort eine Reihe seiner höchsten Gipfel entsteigen. Grosse Gletscher ent-
strömen weiten Firnbecken und dringen durch die auf das Ingur-Tal sich
öffnenden Ouerschluchten tief hinab. Im Süden des Hochtals zieht parallel
mit dem Hauptkamme eine gletscherbedeckte Bergkette, welche die Leila-
gipfel trägt. In der östlichen Ecke des Hochtals, wo die Granite des Haupt-
kammes mit den Tonschiefern der Nebenketten zusammenstossen, unter
den eisbeladenen Felswänden der 5000 m überragenden Schchara, liegen
die Ouellen des Ingur. Eine gegen Westen streichende Bergwelle — der
mittlere swanetische Bergzug — tritt in die Mitte des Hochtals hinaus,
zwischen dem kaukasischen Hauptkamm und den südlichen Parallelketten,
und teilt dasselbe in zwei Talgebiete. Am Ende dieses mittleren swane-
tischen Gebirgszuges, bei Latal, vereinigen sich der das südliche Haupttal
von seinem Ursprung an durchströmende Ingur und die im kürzeren Xordtal
fliessende Mulchara.
Im Süden der mächtigen Granitformation, welche die kaukasische
Hauptkette bildet, lagert eine Zone kristallinischer Gesteine, Gneise und
Glimmerschiefer; das Bett des Ingur, welches eine antiklinale P"alte bildet,
ist aber schon in Tonschiefer gegraben.
Nirgends dürfte der auf versteckte Gebirgswinkel olt angewandte
Ausdruck der Weltabgeschlossenheit mit mehr Recht gebraucht werden, als
für das swanetische Hochtal. In der Umrandung desselben findet sich keine
Bresche, durch welche ein bequemer Zugang dahin führen würde. Im Norden
steht die abwehrende Mauer des eisumgürteten Kaukasus. Im Osten, im
Ouellgebiete des Ingur, öffnet sich im Sagar-Pass eine nur 2646 m hohe,
aber schwer gangbare Lücke, über die man in die pfadlosen Wildnisse hohen
Buschdickichts und geschlossenen Urwaldes gelangen kann, welche dort das
oberste Üuellgebiet des Zchenis-Zchali umgeben. Im Westen, in der Durch-
bruchsschlucht des Ingur, durch welche kein für Saumtiere gangbarer Weg
führt, machen die abfallenden Steilwände den Durchpass zu einem schwierigen.
Nur ein einziger, auch nur streckenweise gebahnter Weg, der für Saumtiere
während des grössten Teiles des Jahres gangbar ist, führt aus dem obersten
— 148 —
Das Volk dkk Swankn.
Int^ur- Tale nach tleni Süden, die einzige Verbindung des Hochtales mit den
blühenden Gefilden Mingreliens. In der noch immer bedeutenden Höhe
von 2800 m überschreitet derselbe den Ostabschnitt der Leila- Kette am
Latpari-Passe.
So sehen wir im Längenhochtale des Ingur, von seinem Ouellbezirke
bis zum Durchbruche in der Ssuntari-Schlucht, auf eine Länge von 65 km,
die Reliefform eines typischen Kesseltales, wie diese in solcher Vollkommen-
heit kaum in einem andern Gebirge der Erde getroffen werden dürfte.
Dieser orographische Bau des Ingur-Hochtales ist von bedeutendem Einflüsse
auf die biologischen und klimatologischen Verhältnisse desselben und hat
auch gewiss auf seine Bewohner eingewirkt.
Das Hochtal des Ingur wird vom Volke der Swanen*) bewohnt. So
merkwürdig die Konfiguration der Landschaft, so interessant ist auch das
V^olk. Schon Strabo erwähnt die Soani und auch Plinius und Procopius
sprechen von ihnen. Im 10 Jahrhundert sollen die Swanen zum Christen-
tume bekehrt worden sein. Ihr Gebiet bildete einen Teil des Reiches der
Königin Tamara, der in den georgischen Legenden und Gesängen ge-
feierten Heldenfürstin. Abwechselnd war Swanetien ein mit Mingrelien ver-
einigtes Gebiet, dann wieder eine durch besondere Fürsten verwaltete Pro-
vinz des grossen imerischen Königreichs. Zu Anfang des 1 4. Jahrhunderts
gelang es den Swanen, siegreich gegen Süden vorzudringen. Auf einem
dieser Züge verbrannten sie die Stadt Kutais. Im 1 5. Jahrhundert soll das
den Swanen gehörige Gebiet nicht nur die Hochtäler des Zchenis-Zchali
und des Ingur, sondern auch das üuellland des Kion umfasst haben, welches
ihnen erst nach langwährenden Kämpfen von den Imeren abgenommen
wurde. Nach Auflösung des imeritinischen Königreichs erlangten die .Swanen
wieder ihre Unabhängigkeit, und die Bewohner des Ingur-Hochtales wussten
sich diese, begünstigt durch die Natur des Landes, auch zu erhalten. Ihr
Gebiet wurde daher auch das freie Swanetien- genannt. Nur über den
kürzeren wesdichen Talabschnitt, nach der Vereinigung des nördlichen Ouell-
flusses der Mulchara mit dem Ingur, behielten die bürsten Dadischkiliani eine
gewisse Oberhoheit. Die das Hochtal des Zchenis-Zchali bewohnenden Swanen
waren der mingrelischen Fürstenfamilie Dadian Untertan; ihr Gebiet wird
daher auch als Dadiansches Swanetien bezeichnet. Die Gesamtzahl des
Swanenvolkes wird mit 14000 Seelen angegeben.
Im freien Swanetien hatten sich zumeist mehrere Dörfer zu Genossen-
schaften vereinigt. Nur zu oft trat aber Widerstreit von Interessen auf,
*) Auch Swaneten genannt.
Der Tvi'Ls dkk Swaxen.
StreitiLjkeilen, deren Folge langjährige, Ijlutige l''ehden zwischen den ein-
zelnen Genossenschaften, ja einzelnen Dörfern waren. Den Beschlüssen,
welche den Beratungen der Genossenschaften entsprangen, fehlte jede gesetz-
liche Kraft, so tlass wir uns die Verhältnisse im freien Swanetien als eigent-
lich anarchische; vorstellen müssen, in welchen Gesetzlosigkeit, Blutrache und
Unsicherheit des Lebens und des Eigentums herrschten, hi früheren Zeiten
wurden auch nach dem Norden der Hauptkette Raubzüge unternommen,
um dort den mohammedanischen Tataren Vieh zu stehlen, wodurch diese sich
gezwungen sahen, Wächterposten gegen diese Einfälle aufzustellen, wie wir einen
solchen bei der Karaula im oberen Tscherektale in Balkarien gesehen haben.
Die Swanen gehören der Kartwelischen Völkerfamilie an; es ist
nicht endgültig entschieden, welchem Stamme derselben, ob dem georgischen
oder einem der westlichen Zweige. Wenn auch Mischelemente — obgleich
jedenfalls in geringer Anzahl — ihren Weg in das entlegene Hochtal der
Swanen gefunden haben mögen, so scheint bei Berücksichtigung der topo-
graphischen Lage ihrer Bergheimat, imd bei der Tatsache, dass die Swanen
aus ihren Stamm.sitzen nie verdrängt wurden, die Annahme gerechtfertigt
zu sein, nach welcher die Swanen des higur-Hochtales die autochthonen Be-
wohner desselben sind. Die den hneren und Mingreliern benachbarten und
mit diesen in beständigem Verkehr stehenden Dadianschen Swanen im
Zchenis-Zchali- Gebiete können eher als ein Mischvolk angesehen werden.
Ich habe Ijei den higur-Swanen Männer mit hellblonden, ja, rötlichen Haaren
und mit blauen Augen gesehen, aber auch solche, deren Haar und Augen
dunkel waren. Trotzdem möchte ich sagen, dass mir beim wiederholten
Besuche des fngur-1 lochtales und bei der öfteren Begegnung mit .Swanen
in den nördlichen, von Tataren und Karatschaiern bewohnten Tälern des
Kaukasus ein sofort erkennbarer, swanetüscher Typus aufgefallen ist ( )ft
sieht man unter den Swanen jüdische Physiognomien, und sie selbst halten
die Bewohner des Dorfes Lachmuli, welches den geringen Handel Swanetiens
mit den südlichen Gegenden vermittelt, jüdischer Abstammung. Bei mittel-
grossem Wüchse ist der Körperbau der -Swanen meist kräftig. Trotzige
Roheit und ein verwilderter Gesichtsausdruck wird oft und insbesondere
bei alten Swanen bemerkt, unter welchen es nicht selten war, Leute zu
finden, welche zehn und mehr Morde begangen hatten.
Die Sprache der .Swanen ist eine Abzweigung des Alt-Kartwelischen
und jedenfalls mit dem Georgischen nahe verwandt
Die Swanen sind ein armes Volk; im unteren Swanetien wird zwar
etwas Gerste und Roggen gebaut, im mittleren wächst sogar in guten Lagen
— 150 —
SWANEN.
Das ClIKTSTEX'll'M dkk Swanen.
und bei günstio-en Wetterverhältnissen Weizen. Aber infol<^e der Armut
der Swanen an \'ieh bleiben selbst gute Weideplatze unbenutzt, und doch
wäre Viehzucht die einzige Quelle eines gewissen W'ohlstandes gewesen.
Der Kampf ums Dasein zwingt bei den Swanen auch die Männer zum
Arbeiten, und es ist nicht nur die Frau allein, welche, wie bei den
meisten kaukasischen Völkerschaften, im Hause und im Felde die schwersten
Arbeiten verrichten muss. In jedem Sommer, der mich in die Nordtäler
des zentralen Kaukasus führte, sah ich bei den mohamedanischen Tataren
Swanen mit Feldarbeiten beschäftigt.
Der heiratslustige Swane muss für die Frau vor der Hochzeit einen
Kaufpreis erlegen. Früher wurden unter den neugeborenen Kindern die
Mädchen oft getötet, indem man ihnen den Mund mit Asche vollstopfte und
dann die Kehle zusammendrückte. Von diesem entsetzlichen Gebrauche
erzählte mir noch in Urussbieh der in Diensten Urussbiews stehende Swane.
Diese mörderische Unsitte hatte ihren Grund jedenfalls, bei der in Swanetien
herrschenden Armut, in der Furcht vor l'ebervölkerung.
Das Christentum der .Swanen artete wiederholt in einen als solches
kaum mehr kenntlichen, von heidni.schen Gebräuchen durchsetzten Kultus
aus, aber auch der Einfluss des abwechselnd in Transkaukasien herrschenden
Alte Kirche in Mu schal.
— 131 —
Dil'-, liEKESTIfHEX DÖRFER DER SWANEN.
persischen Mazdeismus und des durch die Araber eingeführten Islam er-
streckte sich bis in das Inyurhochtal. Mit der endgültig-en Herrschaft des
Christentums in Transkaukasien befestigte sich dasselbe auch in Swanetien,
blieb aber dort immer stark mit heidnischen Elementen vermischt und steckte
voll aliergläubischer Gebräuche. Die Kirchen der Swanendörfer — welche
Fremden nicht gerne geöffnet werden — sind hochinteressant und besitzen
viele für heilig gehaltene Reliquien, sowie alte, aus dem 8. bis lo. Jahr-
hundert stammende, meist in georgischer Sprache auf Pergament geschriebene
Evangelien. Diese Kirchen und Kapellen sind meist kleine, unansehnliche,
aus regelmässig behauenen Steinblöcken oder Quadern bestehende Gebäude,
mit schwachen Anklängen an den georgischen Stil, deren Apsis aussen
oft .Schnitzwerk trägt oder eine Säulenarkade besitzt. Das spitze Giebeldach
ist mit .Schieferi)latten gedeckt. Oft findet man b'resken oder doch alte
.Spuren derselben in primitivster Ausführung.
In der swanetischen Landschaft sind es die befestigten Dörfer, welche
den Reisenden ganz besonders überraschen. Hohe viereckige Türme ragen
inmitten der .Steinhütten auf. Diese Türme sind zwanzig bis dreissig Meter
hoch und haben drei bis vier Meter
im Ouadrat, die Mauern sind bis zu
einem Meter dick und oben mit Schiess-
scharten versehen. Im Dorfe Mestia
stehen allein bis zu siebzig solcher
Türme. Die Eingangsöffnung liegt hoch
und ist nur über angelegte hohe Baum-
pfosten zu erreichen , welche im Ver-
teidigungsfalle natürlich entfernt werden.
In den langjährigen Fehden der swa-
nischen Genossenschaften machten diese
Türme die einzelnen Dörfer zu be-
festigten Plätzen. An diese Türme ist
die Steinhütte, das Wohnhaus des
Swanen angebaut oder mittels Stein-
bogens verbunden. In einem einzigen
Gemache wohnen die I""amilie und der
meist geringe Viehstand des Swanen
zusammen. Das Material der Bauten
bilden mit Mörtel aneinandergefügte
Turm in einem swanetischen Dorfe. Steinblöcke, oft aUch geschichtete Schie-
— 152 —
Die russische Herrschaft in Swaxetien.
ferplatten. Aus solchen besteht auch das Dach. Als Fenster dienen kleine
Löcher in der Höhe. Der Rauch entsteigt dem g-eschwärzten Innern durch
eine kleine Oeftliung in der Ecke des Daches. In den Türmen werden
Hörner und Schädel der Steinböcke und wilden Schafe, die Trophäen der
Jäger, aufbewahrt. In Kriegsfällen oder wenn Blutrache heraufbeschworen
war, flüchtete die ganze Familie in den Turm.
Eigentümlich berühren die Gesänge der Swanen, welche meist mehr-
stimmig sind und mit einem kurzen und tiefen Tonfall endigen. Ihre Lieder
besingen die Königin Tamara, die Taten ihrer Jäger und die Kriegszüge
längstvergangener Zeiten. Beim Priester des Dorfes Muschal sah ich die
swanetische Harfe aus Kiefernholz geschnitzt, mit aus Pferdehaaren gedrehten
Saiten bespannt. Das Spiel auf derselben war jedoch arm an Modulation,
ohne eigenthchen Abschluss der Perioden und sehr eintönig. Auch bei
Todesfällen werden Trauergesänge und Klagelieder angestimmt und begleiten
das übliche Totenmahl.
Schon anfangs der dreissiger jähre hatte Rus.sland die Herrschaft
über Swanetien erlangt, aber viele Jahre hindurch war die russische (3ber-
hoheit nur eine nominelle. Unruhen und lokale Revolten, zuletzt noch acht
Jahre vor meiner Reise, 1876, als der russische Oberst Grinawsky er-
mordet wurde, zwangen die Russen zu militärischen E.xpeditionen nach
Swanetien, und es wurden mit der Errichtung eines Administrationszentrums
in Betscho die ersten Anfänge einer geregelten Verwaltung niedergelegt.
Manches hat sich in den letzten Jahren in Swanetien zum Bessern
geändert. Die russische Regierung scheint dem verlorenen Erdenwinkel
nunmehr erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. In jeder Gemeinde wurden
verantwortliche Dorfschulzen (Starschina) angestellt, mehrere Priester wurden
hingeschickt, in den grösseren Dörfern wurden Häuser als Gemeindekanzleien
eingerichtet und fast scheint es, als ob diese Aenderung der Verhältnisse
sich auch äusserlich zu erkennen gibt, denn in der jüngeren Bevölkerung
zeigte sich nicht mehr jener verwilderte Gesichtsausdruck, wie ihn die älteren
Swanen zur Schau trugen.
5. .September. Es war ein kaltes Lager, das wir unterhall) des Latpari-
Passes bezogen hatten. Nachts hei das Minimum-Thermometer auf — 1,5" C.
Aber der Himmel klärte sich, und am frühen, frostigen Morgen hatten wir
einen überwältigenden Anblick des Uschba, dessen Doppelgipfel mit seiner herr-
lichen Pelsarchitektur wie die Türme eines gotischen Domes sich erhebt, die
ganze Bergwelt Swanetiens beherrschend — ein .Anblick , der unver-
gesslich bleibt.
— 153 —
Aussicht vom LATrAKi-PAss.
Man niuss an steilem Gehänoe, das mehrmals von terrassenförmigen
Absätzen unterbrochen wird, ansteigen. Dichtem, vertrocknetem Rhododen-
drongebüsch folgt kurznarbiger Graswuchs, der sich die verwitterten Schiefer-
halden erobert. Das schlechte Wetter der letzten läge, der gestrige
Schneefall und Nachtfrost hatten die schöne Alpenflora, die sich auf denselben
entwickelt, geknickt, und weisser Reif deckt weite Strecken.
In anderthalb Stunden sind wir auf der Höhe des Latpari-Passes
(2800 m), welcher in der im Süden des Ingurhochtales sich erhebenden
.Schieferkette eingeschnitten ist. Der gewellte, von Gräben zerrissene Hoch-
rücken des Latparizuges ist stellenweise von Schneelagern bedeckt. Zwischen
den grossplattigen Schiefern nistet schon verblühtes Pflanzengestrüpp, dessen
Arten der nivalen Region angehören.
Die Lage gegenüber dem in gleicher Richtung streichenden kauka-
sischen Hauptkamme hat am Latpari-Pass ein natürliches Belvedere für eine
der schönsten Ansichten desselben geschaften. Die mächtige Mauer der
kaukasischen Hauptkette, welche in einer Rie.senlinie das swanetische Hochtal
im Norden begrenzt, i.st aus Graniten aufgebaut und zeigt die scharf
geschnittenen Umrisslinien, die kühn aufstrebenden Gipfel, welche diesem
Gestein eigen sind. Der Reiz der Aussicht liegt in der Gegenüberstellung
der eisumgürteten, schroffeisigen Höhen, mit den Wäldern und Wiesen der
Tiefen, und zwischen und ineinander übergreifend, dringen majestätische
Eisströme abwärts, blinken die Silberadern der Bergbäche.
Leider trieben, als wir die Höhe erreichten, grausame Nebel ihr
Spiel, hingen sich an die Berge und verdeckten bald den einen, bald den
andern Teil der Aussicht. Enthüllte sich dann aber wieder eine Partie
derselben, schoss plötzlich über die wogenden Wolkenburgen eine wilde
Zinne in die Lüfte, dann wurde vielleicht durch die Lösung jeden Zusammen-
hanges, durch die hierdurch geschaffene Isoliertheit der Berggipfel, der
hindruck des grossartigen, den sie hervorrufen, nur noch erhöht. So sahen
wir den herrlichen, vielgipfligen Bau der .Schchara, die wir im Norden über
dem Firnmeere des Dychssu-Gletschers bewundert hatten, dem Monte Rosa,
von Macugnaga gesehen, gleichend. Dann erblicken wir die Firnpyramide
des Tetnuld, ein Bild, das an den Anblick des Weisshorns von Norden
erinnert. Zwischen beiden erscheint plötzlich, in wallende Nebel gehüllt,
der prächtige, gleichfalls vielgipflige Flrnwall der Dschanga, und über dem
riesigen Eisfall des Adisch-Gletschers blickt die feingeschnittene F'irnspitze
der Gestola herüber. Und dann ist es wieder Uschba, dessen Doppel-
gipfel in der westlichen Hälfte des Aussichtsbildes sich aufschwingt. Die
— 154 -
l\i:|( IIK l'.N'lWUKl.rXG OEK SlliAl.liMA \Vli:SI',\l''l,OKA.
herrliche helsarchitektur des Beroes kommt von hier, aus grösserer
Entfernung gesehen, weniger zur Gehung, und die näher gelegenen Hoch-
gipfel machen ihm in ihrem glänzenden Firnkleide den Preis der Schönheit
streitig. Die wilde Region steiler Eisfassaden und abbrechender Felsen des
granitischen Hauptkammes verbindet sich in der westlichen Ecke mit den
sanften Formen der Schiefer, aus welcher die Gipfelreihe der Leila auf-
gebaut ist. l'nd als wir nach langem Aufenthalte auf der herrlichen Höhe
weiterzogen, schrieb ich in mein Reisenotizbuch: -Der Latpari-Pass ist
die Touristenroute der Zukunft, und sein Panorama wird eines Tages mit
Recht in Poesie und Prosa gefeiert werden.
Steil senkt sich der Weg vom Latpari-Pass gegen Süden in die Tiefe. Er
wird von einzelnen Schneefeldern gekreuzt und das schlechte Wetter der letzten
Wochen hat den weichen Schieferboden aufgewühlt. Lange ziehen wir in steilen
Zickzacks an diesen öden grauen Abhängen abwärts, bis sie zu grünen be-
ginnen. Rasch nimmt der Reichtum der subalpinen W'iesenflora zu, die
weiter unten in grösster Ueppigkeit sich entfaltet und sich zu überraschen-
der Höhe entwickelt. Die P'arbenpracht dieser Vegetation zur Zeit ihrer
Blüte muss einen herrlichen Anblick gewähren, und auch jetzt fesselte
uns die staunen.swerte Grösse die.ser hochstämmigen Arten breitblättriger
Gräser und Kräuter. .Stechend brechen durch die Wolken die .Sonnen-
strahlen, aber der schöne Laub-
wald, der uns später aufnimmt,
Birken, dann Buchen und luchen,
labt mit kühlendem .Schatten.
hl 3^', Stunden von der
Passhöhe sind wir in der Tal-
sohle des Zchenis-Zchali (der
Hippus der Alten), überschreiten
den Strom aul schwanker Brücke
und kommen in etwa looo m
Höhe zu den obersten Höfen
der Dorfgenossenschaft Tscholur
im Dadianschen Swanetien.
Da es noch früh am Tage
war, entschloss ich mich, rasch
noch eine Strecke Weges zurück-
zulegen. Die Ausführung dieser
Absicht wurde noch dadurch Tal des Zchenis-Zchali.
Das Tal des Zciienis-Zchai.i.
erleichtert, dass der Starschina, dem ich meine Papiere vorzeigte
und der dieselben, umgeben von einer lebhaft gestikulierenden und schreien-
den Rotte, einer umständlichen Prüfung unterzog, sich nicht besonders
beeilte, uns ein Nachtquartier anzubieten. Trotz der verhältnismässig
grossen Mühe dehnen sich überall in Tscholur Ackerfelder und Pruchtgärten
aus, schon mit den gelben Tinten des Herbstes. Dazwischen stehen Häuser-
gruppen. Von allen Seiten
entrieseln den Berghängen
!> '^^^^^^^^^H Wasseradern und Bäche, und
IT jj^^^^^l^^^l dieser Wasserreichtum scheint
auch die Vegetation des in
die Tonschiefer gesenkten
Tales zu fördern. Nach einer
kurzen Enge folgt ein weites
Pal, und der Weg zieht durch
schonen Wald. Schon früher
haben sich an der Sonnen-
seite zwischen die Stämme der
Nordmannstannen Laubhölzer
gedrängt. Herrliche Baum-
riesen entsteigen dem üppig
wuchernden Unterholz, von
hoch sich emporrankenden
Schlingpflanzen umhüllt. P)er
.Abend naht, und man kann
sich keinen schöneren Ort für
ein Nachtlager denken , als
die schwellende Alpenmatte,
an welche wir gelangen. Dich-
tes Gebüsch immergrüner
Sträucher und hohe Farn-
kräuter umsäumen sie. Im
Rücken erhebt sich das waldbe.standene Talgehänge, und unfern strömt ein
klarer Bergbach.
6. Sejjtember. L^m 6 Uhr morgens sind wir auf dem Wege,
der durch prächtige vegetationsreiche Schluchten des Zchenis-Zchali führt. Vor
Lentechi liegt auf einem vom Bache umspülten P'elswerke, zwischen grünem
Geheofe, das halb zerfallene Schloss der Dadianfürsten. Das Tal um Lentech
Schluchten de.s Zchenis-Zchali.
— 156
Üii'KiE Vki'.ktation der südlichen KaükasustAder.
(726 m) ist breit und fruchtbar; es wird Mais und Getreide gebaut, und
«rosse Obstgärten sollen reiche Ernten geben.
Die landschaftliche Szenerie dieser südlichen Kaukasustäler bleibt
immer schön. Reicher, üppiger wird die Vegetation bis man in die Region
des Lorbeers, des wilden Weines gelangt. Dem Tonschiefer um Lentechi
folgt die Juraformation, durchbrochen von zahlreichen Eruptivgesteinen, und
bei Muri erreicht man die Kreidekalke.
Das Uebersteigen der den Zchenis-Zchali und die Nebenflüsse des
Rion trennenden, niedrigen Kammrücken mit ihren wechselnden Blicken
Burg der Dadiaiif ürsten am Zchenis- Zcliali.
auf Berg und Tal, die Reihenfolge von Schluchten, welche die Elüsse durch-
brechen, gestalten den Weg abwechslungsreich. Im Defih- vor Muri nähern
sich steile Eelswände bis auf etwa 25 .Schritte; der .Saumpfad musste ihnen
abgetrotzt werden, und über die brausenden Wasser führen kühn ges[)annte
Brücken. Auf hohem Eelsen stehen die Mauern einer zerfallenden Burgwacht.
Aus der Engschlucht tretend, sind wir in Mingrelien.
Zageri, unterhalb Muri, ist der .Sitz eines Kreischefs, damals Oberst
Rodsiewitsch, bei dem wir gastfreundlich aufgenommen wurden. Nach einem
selten unterbrochenen Lagerleben von zwei Monaten bin ich plötzlich in
voller eurojaäischer Zivilisation.
157
DTK SclIl.rCHTEX VON MlKI IXO DES LAnSCllANURI.
Defik- vor Muri.
enge Torötfnuno- tritt. Der Weg
setzt an mehreren Stellen das
mächtige Blöcke hemmen. Die
umflorte Mondsichel warf ein
bleiches Irrlicht bald aufschäu-
mendes Wasser, bald auf das
weisse Kalkgestein, um, bei
einer Biegung des Pfades ver-
schwindend, alles in mystische
F'insternis fallen zu lassen.
Diese nächtliche Wanderung
durch die Schluchten des Lad-
schanuri übte einen geheim-
nisvollen Reiz aus und war
die Ursache, dass sie mir die
schönsten zu sein schienen,
die ich im Kaukasus gesehen
hatte.
Vor Alpana, wo wir gegen
Mitternacht ankamen, fällt der
Der folgende I ag — der
7. September — war ein Sonn-
tag. \\ ir ruhten lange. Von
Zageri wurden die braven Swanen
nach Hause geschickt und es
mussten wieder Pferde gemietet
werden, die erst am späten Nach-
mittag erschienen. Wir hatten
einen niedrigen, der Kreide-
formation angehörigen Berg-
rücken nach Orbeli zu über-
steigen und durchritten schon
bei eintretender Nacht die
Schluchten des Ladschanuri.
Glatte, lichte Kalkfelsen erheben
sich in nahezu senkrechten Wän-
den zu beiden Seiten des Dehle,
in welches man ilurch eine
ist meist in den Felsen gehauen und über-
stürnu'sch brausende Wasser, dessen Lauf
.'\usgang des Defile von Muri.
158
üh'.M RtoN KNTLAXC nach KlTAlS.
I.adschanuri in den Rioii. Hier geht der Sauniprad in eine schmale und
nicht besonders knnstvoll angelegte Fahrstrasse lil)er. Ich halte nach Alpana
Wagen bestellt und es blieb uns erspart, die lange Tagestour nach Kutais
auf staubiger Strasse, durch die heisse Rion-Niederung reitend, zurücklegen
zu müssen.
8. September. Am frühen Morgen wieder reisebereit, brauchten wir
acht -Stunden Pahrens, immer dem Laufe des Rion folgend, bis nach Kutais.
Im unteren Teile des Riontales fesselt die Aufmerksamkeit des Reisenden
in erster Reihe die reiche Vegetation, welche, je; mehr man sich Kutais
mit seiner auch für uns fühlbaren, feuchten Hitze nähert, tropischen Charakter
und die grösste l^eppigkeit annimmt. In mächtiger .Steigerung hat sich
dieselbe entwickelt; in die Baumbestände \<)n Ulmen, Eschen und Birken
sind süsse Kastanien getreten, mischen sich die roten Blüten des Ciranat-
baumes. Feigen, .Stechpalmen, Lorbeer, und I{])heu umwindet dieselben.
Die hochemporragende Rebe umschlingt die Stämme von Bäumen, zwischen
deren Geäste die herrliche, blauschwarze Traube hängt. Es war ein packender
-Schluss des langen Niedersteigens aus nordischen Höhen.
In Kutais, der alten Hauptstadt Imeriens, trennte ich mich von meinen
.Schweizern. Ich wandte mich ostwärts, um noch Tiflis imd die Darielstrasse
kennen zu lernen. Burgener und Rüp[)cn hihren nach Batum, wo sie sich
nach Odessa einschifften, um von dort mit der Eisenbahn heimzukehren.
Ein Händedruck, und wir schieden. Ich sollte Peter Ruppen, der in jener
denkwürdigen Nacht am Elbruss, in 4000 Meter Höhe, an den glatten Eis-
hängen mutig und mit bewundernswerter Energie durch lange .Stunden
Stufen schlug, nicht wiedersehen. Am Lyskamm in den Walliser Alpen
fand er einige Jahre später mit einem Reisenden und einem andern Führer
durch das Abbrechen einer Schneegewächte, über furchtbare, fast senkrechte
Felshänge abstürzend, einen frühen Tod.
Mit dem Abschiede vom Hochgebirge sind wir in bekanntes, viel be-
gangenes und beschriebenes Terrain gelangt. Meine Aufgabe ist zu Ende.
Und obgleich ich auf der Heimkehr nochmals auf der grusinischen Heerstrasse
die kaukasische Wasserscheide überschreiten sollte, so war dieser Rest der
Reise doch nur eine schöne Touristenfahrt. Etwas abgespannt blickte ich
durch die Waggonfenster auf das waldreiche Mittelgebirge der Suramhöhen,
welche die Bahnlinie \on Kutais gegen Tiflis übersteigt. In scharfem
Kontraste zu demselben stellt sich dann die steinige, sonnverbrannte Tal-
lancl.schatt des Kur-Beckens bei Tiflis dar. Dennoch fesselte der fremdartige
Anblick mein Interesse. Man muss diese nackten Felsen mit dem Farben-
— 159 —
Von Tiflis üukk die grusinisciik heekstrassk nach Wladikawkas.
spiele ihrer i^rauen Tüne, die feinen Nuancierungen ihrer Oberflächen-
gestaltung genau betrachten, in die WasserschiUnde blicken, die in denselben
erodiert sind, um das eigentümliche, packende Gepräge dieser Formationen
zu erfassen.
9. bis 20. September. Von Tiflis geht es nordwärts durch alle
Stufen des bis zur Schneeregion ansteigenden Alpengebirges auf die Pass-
hohe der berühmten grusinischen Heerstra.sse. Die wilden Szenerien der
Darielschlucht und den herrlichen Blick auf den hart an der Strasse sich
erhebenden Kasbek sollte ich diesmal bei trübem, regnerischem Wetter nur
zum Teil würdigen können, das, je näher wir gegen Wladikawkas kamen,
in sündflutartige Güsse ausartete, als oIj noch am Schlu.sse meiner Reise
der abnorme Sommer des Jahres 1S84 im Kaukasus sein Werk ganz und
recht vollenden sollte.
Man benötigte einer Eisenbahnfahrt von vier Tagen und vier Nächten,
um von Wladikawkas über Rostow, Charkow und Elisabethgrad nach Odessa
zu gelangen. Die X'erbindungen waren schlecht und die Fahrgeschwindigkeit
eine langsame. L^nd noch einmal 48 Stunden währte es, bis die Heimat,
Budapest, erreicht war.
Der südliche Teil der Adai-Choch-Gruppe vom Mamisson-Pass.
XII. KAPITEL.
Das obere Ardontal, der Mamisson-Pass und das
östliche Quellgebiet des Rion.
Die erste Forderung an iWv W'tssensihaft
ist die treue Beobaclituiig der Natur.
Friedridi Ratzel.
Meine erste Reise im Kaukasus hatte in mir den Wunsch nach Ver-
tiefung der gewonnenen Kenntnisse, der empfangenen Eindrücke hervor-
gerufen, die Absicht, manches nur flüchtig durchstreifte Gebiet genauer
kennen zu lernen, unbetretene Wege einzuschlagen, nahegelegt, und ich
beschloss, im folgenden Jahre das zentrale Gebiet des Kaukasus wieder zu
bereisen. Herr Professor Hugo Lojka hatte sich auf meine Einladung der
Expedition als Botaniker angeschlo.ssen
Es war zum grossen Teile der wiederholte Besuch jener Punkte in
Aussicht genommen, welche ich schon 1884 berührt hatte. Orographische
Beobachtungen, Höhenmessungen und photographische Aufnahmen sollten
ausgeführt werden. Eine Hauptaufgabe bildeten Beobachtungen an einigen
Talgletschern des Nord- und Südabhanges, insbesondere die Erstellung von
Signalpunkten als Basis für Messung eines Vor- oder Rückwärtsschreitens
dieser Gletscherindividuen.
Dichy: Kaukasus. 11
— 161 —
I^oTAMSciiE Sammia n<;kn in ukr Krim.
Es wurden diesmal neben zwei Aneroiden von Cioldschmid, einem
Grossen luul einem kleinen Instrumente, sowie einem Aneroide von Hicks
in London, zwei Kochpunkt-Thermometer von Casella und zwei Quecksilber-
Barometer von Kappeller mitgeführt. Ein prismatischer Kompass mit Kugel-
stativ zum 1 lorizontalschrauben von Addie, Maximal- und Minimal-Ther-
mometer, Hygrometer, Clinometer, Messband und rote Oelfarbe mit Pinsel
(zum Markieren von Fixinmkten an Gletschern) vervollständigten die Aus-
Die Krimküste bei Jalta, vom Meere gesehen.
rüstung. Grosse Aufmerksamkeit wurde auch der photographischen Aus-
rüstung zugewendet.
Nach einem längeren Aufenthalte in der Krim, den wir insbesondere
der Anlage von botanischen Sammlungen widmeten, '') gelangten wir wieder
über Kertsch in das Meer von Asow und fuhren dann von Taganrog via
Roste »w am Don nach VVladikawkas.
Wie im Vorjahre galt es auch diesmal, mehrere heisse Tage in
Wladikawkas durchzuarbeiten bis die Reiseausrüstung für das Hochgebirge
*) Unter den gesammelten Crytogamen wurden Collema (Lepidora) Vamberyi VVain. n. sp.,
Lecanora Lojkae Wain. n. sp., Vlacodiuni papilliferum Wain. n. 6]3., Porina scliizospora Wain. n. sp.,
Pyrenopsis sphaerospora Wain n, sp. als neue Arten bestimmt.
Hisor.AciiTi \(; AM Zki Gi.i:r.si-iiKK.
transportfähig eingeteilt und gepackt war. Das Ciepäck war diesmal be-
deutend angewachsen. Die Ausrüstung wurde durch die grössere Anzahl
wissenschaftlicher histruniente, durch einen grösseren Vcjrrat an photo-
graphischen Glasplatten unil durch voluminöse Packe, welche das Papier-
iiiaterial meines Reisegefährten Hir seine botanischen .Sammlungen enthielt(;n,
bedeutend vermehrt. Die botanischen Sammlungen bildeten schwere Lasten,
die den Transport über die langen Talstrecken auf Pferden, noch mehr aber
auf dem Rücken von Trägern über hohe Gletscherpässe zu einer schwierig
zu lösenden und kostspieligen Aufgabe gestalteten. Die Erfahrung des
letzten Jahres hatte mich gelehrt, den essbaren Vorräten des Landes nicht
zu viel Vertrauen entgegenzubringen, da sie oft schwer und erst nach langem
Zuwarten zu beschaften sind, und mich veranlasst, auch Konserven in
grösserer Quantität mitzunehmen.
Dagegen konnte ich in diesem Jahre eines Dolmetsch entraten, der
unnötig wurde, denn meine in der letzten Zeit gewonnene Kenntnis der
russischen Sprache sollte genügen. In Wladikawkas wurde mir auch dies-
mal ein offener Brief des General -Gouverneurs des Kaukasus, Fürsten
Dondukow-Konsakow, behändigt. Auch ein Milizkosak ossetischer Nationalität
war mir zugeteilt worden.
So galt denn unser erster Weg wieder dem Massiv des Adai-Choch,
insbesondere dem Zei-Gletscher. Alagir war auch diesmal die erste Xacht-
station, St. Nicolai die zweite, und am folgenden Abende, es war der
2 I . Juli, wurde das Zelt am gleichen Orte wie im Vorjahre, am l-'usse des
Zei-Gletschers, aufgeschlagen.
Mehrere Tage verbrachten wir mit den programmässig vorgesehenen
Arbeiten in der Gletscherregion. Mit der Erstellung von Signalen, der
Errichtung einer kleinen, aus Blöcken aufgeschichteten Mauer in geringer
Entfernung vom Gletscherende und der Bezeichnung einzelner gro.sser
Steinblöcke, wurde der späteren Kontrolle der Messungen eine Basis geboten.
Die Höhe der Ufermoränen, der Neigungswinkel derselben, die Entfernung
des Gletscherendes von der äussersten Stirnmoräne (dem Wiederbeginn der
Vegetation) wurden gemessen und Photographien der Gletscherzimge, des
eisfrei gewordenen Terrains und aller für diese PVage charakteristischen
Merkmale aufgenommen. Wir stiegen im Laufe der Arbeiten bis zum
Eisfall empor und überschritten des öfteren den unteren Gletscher von
einem Ufer zum andern. Reiche Ausbeute füllte das Herbarium. Unter
den Phanerogamen wurden als neue Arten entdeckt: Delphinium bracteosum
S. et L. n. sp., Cirsium Lojkae .S. et L. n. sp., Nepeta caucasica S. et
1 )ii-: Kassaka-Sciii.ucht.
L. n. s[). (S. 173) und c-inc Reihe von neuen Varietäten. Unter den Idechten
war Sarcogyne eucarpoides Wain. neu.*)
Da.s Wetter war ziemlich günstig und die.ser mehrtägige Aufenthalt
im Zejagebiet, wo Arbeiten und Lustwandeln wechselten, war höchst genuss-
reich. Am 24. Juli waren wir wieder in .St. Nicolai.
Die Fortsetzung der Reise führte durch den oberen Teil des Ardon-
tales. Am Mamissonpasse sollte die Wasserscheide überschritten werden,
um in das östliche Ouellgebiet
[ des Rion zu gelangen.
Bald hinter Nicolai verengt
sich das Ardontal zur Kassara-
schlucht, welche die vorgescho-
benen Massen des Kaltber
(4409 m) und die Ausläufer der
Kette, welche Zmiakom-Choch
und den Tepligipfel (4423 m)
trägt, umschliessen. Der Ardon
durchbraust in der Kassara ein
Defile von hoher landschaft-
licher Schönheit. In 2000 bis
2500 m hohen Granitwällen er-
heben sich diese Kammzüge,
und in nahezu senkrechten, aus
Ciranit und Gneis gebildeten
Mauern steigen sie über dem
Strombett auf. Aus schlucht-
artigen Rissen stürzen helle
Wasser in Kaskaden zur Tiefe,
und oben zwischen den ge-
zackten Graten blinken Schnee
und Eis. Dort, wo an der Kaltberkette der Elssabach hervorbricht, erhält
das Defile ein frcuntUiches Aussehen — grüne Vegetation bekleidet das
K a s s a r a - .S c h lii r h t.
*) Als neue Varietäten wurden bestimmt: Aetheopappus pulcherrimus Willd. var. foliosus
S. et L. var. glabatus S. et L., Anaptychia pulniulata var. caucasica S. et L., Asperula cynachica,
var. cristata S. et L., Geranium pyrenaicum, var. depilatum, S. et L. Oxytropis samurensis Bunge,
var. subscricea S. et L. Psephellus kacheticus Rchm. var. erectus S. et L. Primula cordifolia
Rupr. var. ovalifolia, Tragopon filifolius Rehm. var. macrorhizus S. et L. Neue Subspecies unter
den Flechten waren: Umbilicaria pennsylvanica, var. caucasica Wain., Usnea reticulata Wain. nov.
subsp. Enumeratio und Abbildungen siehe im Abschnitte: Botanische Ergebnisse, Band III.
Al.TF. Gl.K'lsrilKRSPl'REN IM (IHKKKN Akl lONTAl.K
Die Kaltber-Kette aus der Kassara -Schlucht.
sanfter ansteigende Gehänge,
und einzelne Kiefern haben sich
auf die Steihvände gewagt.
In den westlich vom Ardon
liegenden Ouertälern des zen-
tralen Kaukasus durchbrechen die
vom granitischen Hauptkamm
niederziehenden Bergströme, der
Uruch, der doppelarmige Tsche-
rek und der Bakssan, die mit
demselben parallel laufenden
Vorketten. Im Ardontale jedoch
und in den östlich von dem-
selben gelegenen Ouertälern
bahnen sich, im Gegensatze zu
den westlichen, die Bergströme
ihren Weg auch noch durch die
granitische Fortsetzung des
Hauptkammes, welche mit der
Abzweigung derselben vom Massive des Adai-Choch aufgehört hat, die
Hauptwasserscheide des Kaukasus zu sein und diese Rolle vom Mamisson-
Passe an den Tonschiefern überlässt. Die granitische Kette, welche der
Ardon in der Kassaraschlucht durchbricht, setzt sich weiter gegen Osten
in mächtigen Erhebungen bis zum Kasbek fort. Das Massiv des Adai-
Choch ist daher ein wichtiger Punkt im Bau des Kaukasus, ein riesiger PZck-
pfeiler, wo die Kräfte, welche die Kette aufwarfen, sie auch zer-
splitterten.
Die Kassaraschlucht mündet in das weite, von Schiefern gebildete
Becken von Saramag (1665 m). Vom Westen zieht tlas Saramagtälchen
hierher, in dessen Hintergrund der bis zu 2700 m herabdringende Saramag-
Gletscher sich ausbreitet. Die Talweite von Saramag muss einen günsti-
gen Raum für die Gletschermassen geboten haljen, welche von den firn-
bedeckten Höhen niederzogen. Die Spuren der einstigen grossen Aus-
dehnung der Gletscher, welche aus den Seitentälern niederzogen, sind in
Moränenresten, welche den beckenförmigen Boden bedecken, an den mächtigen
Glazialschotterterrassen, welche 150 bis 200 m über dem Pluss sich aus-
dehnen, an den erratischen Granitblöcken, welche in dieses Tonschiefer-
gebiet gebracht wurden, mit Sicherheit zu erkennen.
Dek Mamissox-Pas.s.
Oberhalb der I lütten^ruppen von Saramas^'^ vereiniy^en sich die Wasser
des östliclien und westlichen Ouellflusses des Ardon, des von Osten strömenden
Nardon und des westlichen, auch Mamisson genannten Quellflusses. Der
Ardon , welcher vom Einflüsse des Ssadonbaches oberhalb Nusal bis zu
seinem Austritte aus der Kassaraschlucht bei Saramag eine streng nord-
südliche Richtung eingehalten hat, wendet sich hier und durchfliesst ein
gegen Westen ziehendes Längental. Dieses westliche Ouellgebiet bildet
ein 20 km langes, enges, nahezu baumloses Weidenhochtal. Zahlreiche
kleine, oft nur aus wenigen Hütten bestehende Dörfer haben sich in dieser
Talstrecke angesiedelt, die natürliche Folge des Weidelandes, welches sie
bietet. Selbst Kulturen von Getreidearten sind hier noch bei günstiger
Lage trotz der bedeutenden Höhe zu sehen. Die grösste Hüttengruppe,
Aul Tib liegt in 1S20 m (.A. D.) Höhe. Das ganze Gebiet ist eine
Zone des Ueberganges von Gneisen und granitischen Gesteinen zu den
verschiedenartigsten Schiefern, kristallinischen und Tonschiefern. Hier ent-
deckte Professor Lojka eine neue Blütenpflanze, Celsia atro-violacea S. et L.
nov. sp., und in Gesteinsritzen nistete Lecidea Freshfieldi Wain. n. sp. und
V'errucaria Dechyi, Wain. n. sp., welche als neue Cryptogamenarten bestimmt
wurden.'')
hl einer Höhe von 2270 m (B. D.) steht eine armselige, jetzt bau-
fällige Steinhütte für die Wegaufseher, die Mamisson-Kasarma, neben welcher
wir auf weichem Rasen um 6 Uhr abends unser Zelt aufschlugen. Im Osten
zeichnete sich die stark vergletscherte Teplikette am klaren Abendhimmel.
26. Juli. Aiu frühen Morgen wanderten wir in streng nördlicher
Richtung auf den obersten Talboden, über welchen steile, zirkusförmige
Wände aufragen. An denselben zieht der Weg in grossen Kehren zur
Höhe des Mamissonpa.sses empor.
Die kaukasische Hauptwasserscheide, die Scheide zwischen Ardon und
Rion, besitzt am Mamisson-Pass eine Höhe von 2825 m (2842 m B. D.).
Jenseits liegt das östliche Ouellgebiet des Rion. Die IVIamissonhöhe ist eine
schneefreie, stellenweise noch begrünte, im Tonschiefer liegende PLinsattlung
des kaukasischen Hauptkammes, welcher von hier gegen Westen bis zu den
Ouellflüssen des Kuban auf einer Länge von über 150 km keine Einsenkung
besitzt, die nicht 3000 m überstiege und welche nicht unter weiten Schnee-
und Firnfeldern beoraben wäre.
*) Neue \'arietäten waren unter den Phanerogamen: Draba ossetica Kupr. var. columnaris
S. et L. und Dianthus montanus M. Bieb. var. laxiflorus .S. et L.
^ 166
Das östliciik Oi-ei.i,(;kiiii;t des Rion.
Trotz des ziemlich klaren Morgens hatte sich das Wetter so rasch
verschlechtert, dass, als wir zwei Stunden nach X'erlassen der Mamisson-
Kasarma auf die Passhöhe gelangten, man kaum die nächste Umgebung
unterscheiden konnte und Wind und Wetter uns sofort von der Passhöhe
südwärts trieben. Dort war es heller; durch die wallenden Nebel hindurch
leuchteten Eis und Schnee, durch die Wolkenrisse wurden Felsgrate und
Spitzen sichtljar. Es sind die südlichen Abhänge des Adai-Choch-Massivs,
welchem wir uns genähert haben.
Die Westseite des Mamison fällt nach dem auf der Rionseite sich
ausdehnenden Kesseli)oden in steilen Wänden ab. Auf demselben steht in
2525 m (B. D.) Höhe ein Wegräumerhaus. Nur wenig höher liegen die
Endmoränen des Gletschers, welchem der Tschantschachi-Bach entfliesst —
ein Ouellfluss des Rion, welcher nach dem Durchströmen des fast ebenen
Talbodens mit starkem Gefäll der Tiefe zustürzt.
W^eite Plateauflächen ziehen dem Tale entgegen. Eine mächtige
Geröllanhäufung, eine alte Stirnmoräne aus Granit und Protogyn, lagert sich
quer durchs Tal, ein prächtiges Denkmal einstiger Gletschergrösse. Alles
ist öde und wüst, und er.st wenn die tiefere Talstufe erreicht ist, ergreift
den vom ernsten Norden kommenden Wanderer die Schönheit mächtiger
Waldungen, und eine neue üppige Vegetation,
welche bald den Pfad umsäumt, entrollt all
die Reize des Südens, die mit dem Namen
des Rion verknüpft sind.
.Schon auf den obersten Matten,
selbst auf den wenigen begrünten Mächen
der Passhöhe hatten uns blühende Alpen-
pflanzen begrüsst: Anemonen, Gentianen,
Primeln, eine Reihe von Sa.xifragen, Ranun-
keln, Draben, Silenen, Alchemillen, Vale-
rianen, Campanulen mit all ihrem P'arben-
reiz. Unter den gesammelten Phanerogamen
wurden als neue Art bestimmt: ein Ranun-
culus Lojkae n. sp. S. et. L. und unter den
Chryptogamen eine Lecanora .Szechenyii
Wain. n. sp. Im Walde stehen Tannen in
riesigen -Stämmen, dann folgen prächtige
Ahornbäume, Paschen und Kiefern, hnmer
üppiger wird die Vegetation, insbesondere Kanunculus Lojkae s. et L. nov. sp.
RlESEN.STAUDF.XFl.DKA.
auf den sonnigen Hängen erreichen die Bodenkräuter überraschende Höhe
und Grösse. Dort breiten sich die mächtigen Blätter der Telekia ovata,
die gelben Sonnen der Telekia speciosa, die grossen Blumen der Inula
grandiflora, der Potentilla elatior, der Cephalaria Tatarica und des Aconitum
Orientale aus ; hohe Anemonen (narcissiflora und speciosa), Primula auri-
culata, durch mächtigen Stengel ausgezeichnete, prächtige, in ihrer Blatt-
form vielgestaltige Cirsien, Orchis latifolia und eine Reihe anderer Blüten-
pflanzen stehen in prächtiger Entwicklung.
Oberhalb einer tiefen Schlucht, welche der Tschantschachi-Bach
erodiert hat, am linken Ufer, liegen auf einer Talterrasse die armseligen
Hütten von Gurschewi — 1928 m — (1920 m B. D.). Hier schlugen wir
unser Zelt auf.*)
Am Morgen des 27. Juli war ich früh wach und zog aus, um eine
iler Höhen im Süden der Gurschewiterrasse zu erklettern, welche einen
l'eberblick über die südlich gegenüber derselben aufsteigende Hauptkette
versprach. Wir bogen in die von prächtigen Nordmannstannen umstandene
Schlucht des Chamzela-Baches (auch Chami-dschauri) ein, in deren Hintergrund
ein kleiner Gletscher leuchtete, und begannen dann das Gehänge zur Linken
durch dichtes Rhododendrongebüsch anzusteigen. Feuchte Morgennebel
lagen noch in der Tiefe, aber in der Höhe war es klar, und am farblosen
Firmamente, das sich langsam aufzuhellen begann, war keine Wolke .sichtbar.
Während wir uns rasch erhoben, begannen auch im frühen und unsicheren
Lichte des anbrechenden Tages über den vorlagernden, niedrigen Rücken
die Linien der höchsten Gipfel der Hauptkette zu erscheinen. Nun stürmte
ich über die pfadlosen Halden empor, befürchtend, dass die Sonne Nebel
mit sich ziehen und die Berggipfel verhüllen könnte, welche jetzt das erste
Leuchten des strahlenden Tagcsgestirnes umspielte.
Als ich dann eine Höhe erreichte, welche die umliegenden Kamm-
züge überragte und behernschte, einen Gipfel in den nördlich verlaufenden
Graten des Kosi-Choch — nach meiner Messung etwa 500 m über Gur-
schewi — war ich von Staunen und Bewunderung überwältigt. Hier er-
hoben sich vor meinen .Augen die mächtigen Hauptketten und die .sich in-
einanderschlingenden Ouerjoche des Kaukasus mit ihren Gipfeln und
*) Unter den in der Umgebung von Gurschewi gesammelten Phanerogamen waren neue
.Subspezien: Cephalaria tatarica Sehr. var. brevipalea S. et L., Delphinium bracteosum S. et L.
var. macranthum S. et L., Nonnea intermedia Ledeb. var. viscida S. et L., Primula auriculata Lam.
var. macrantha S. et L., Silene fimbricata (MB.) Sims f. glandulosa S. et L., und unter den Flechten
eine neue Art: Laestadia solarinae Wain. n. sp.
— 168 —
AUSSICiri' VOM RnoDODFAIlROXirÜGKI..
Gletschern von den Ouellcn des Ingur und des Zchenis-Zrhali bis zur lü'ii-
sattlung des Mamisson. Am meisten zog meine Aufnierksanikeit die zunächst
liegende Berggruppe des Adai-Choch auf sich, ein herrlicluT Wall von Fels-
wänden und Eisfällen, gekrönt von prächtigen Gipfeln. Langgezogene,
gegen Südwesten verlaufende Gratzüge lösen sich von demselben und um-
schliessen eine Reihe von auf das oberste Ouellgebiet des Rion, auf das
Tal des Tschantschachi mündende Schluchten. Ihre obersten Stufen sind
von Gletschern erfüllt, die sich mit ihren Firnfeldern in die Faltungen des
Gebirges legen. Von Ost nach West folgen dem Tschantschachi-Gletscher
die Eisströme, welche ich nach den ihnen entspringenden Bächen Tbilissa-,
Bubiss- und Bokoss-Gletscher nenne. Unter den Gipfeln fesselte vor allem
den Blick das herrliche, mit eisbepanzerten Felswänden aufstrebende Hörn,
welches jetzt den Namen Tschantschachi- Choch trägt und als der Eiger der
Gruppe bezeichnet wurde. Durch eine tiefe Einsattlung von demselben ge-
trennt, erhebt sich der schöne, mit Piz-Palü vergleichbare, mehrgipflige Eiswall
des Bubiss-Choch. Nun streicht der Kamm in langem Zuge über glänzende
Schneekuppen und über firngekrönte Felsgrate zum keck aufstrebenden Eis-
haupte des Burdschula (4385 m). Lage und Höhe der Gipfel dieses süd-
lichen Kammverlaufes der Adai-Choch-Gruppe bis zum Burdschula sind
nicht endgültig festgelegt und fordern fernere eingehende Untersuchung.
Vom erreichten Gipfel stieg ich auf die untere Grathöhe wieder herab —
die Kuppe eines von dichtem Rhododendrongebüsch bestandenen Hügels — ,
wo die mich begleitenden Eingeborenen mit Kamera und Instrumenten meiner
warteten. Rasch verflossen nahezu zwei Stunden mit photographischen Auf-
nahmen und Kompasspeilungen.
Als ich ins Lager zurückkehrte, emi)fing mich eine unangenehme
Nachricht. Mein Reisegefährte war krank. Das ungewohnte Lagerleben,
die Konservenkost, die Strapazen, welche das ununterbrochene Vorwärts-
dringen und die auszuführenden Arbeiten mit sich brachten, schienen dem
sonst so kräftigen Manne arg mitgespielt zu haben. Ein fieberischer, mit
Dysenterie verbundener Zustand mahnte zur Vorsicht. Das Liebersteigen
des Hauptkammes, welches nach meinen Plänen in das im Norden liegende
Uruch-Tal hätte ausgeführt werden sollen, konnte jetzt meinem in Gletscher-
wanderungen unerfahrenen Reisegefährten nicht zugemutet werden. Einen
Augenblick dachte ich daran, den Uebergang über tien Gurdsivcek-Pass
allein auszuführen und Professor Lojka über St. Nicolai und Kamunta dort-
hin gehen zu lassen, bald aber gab ich diese Absicht auf, da ich meinen
kranken Reisegefährten, der nicht russisch sprach, gleich am Beginne der
^ 169 —
Aussicht vom Grate des Bubu-Chdch.
Reist- nicht allein zurücklassen wollte. So miisste denn zu meinem lebhaften
Bedauern jetzt bei schönstem Wetter dieser Plan fallen gelassen und der
Rückzug in kleinen Etappen über den Mamisson-Pass in das Ardon- Tal be-
schlossen werden.
Um Mittag wurde das Lager abgebrochen, und wir wählten die
Rion-Kasarma — das Wegräumerhaus — am Fusse der letzten Zickzacks, die
zum Mamisson-Passe emporführen, zum Nacht(]uartier. Kaum eine halbe
Stunde von derselben gelangt man an die aus Graniten und Protogyn be-
stehenden Moränen des Tschantschachi- Gletschers, zu dem ich noch am
Nachmittage wanderte
Das Staunen und Verwundern der armen, grenzenlos einfältigen
Leute, welche das Wegräumerhaus bewohnten, über unser Treiben und
unsere Ausrüstung wollte kein Ende nehmen. Wäre mein armer Gefährte
nicht von einem Fieberanfall geplagt gewesen, der Abend wäre ganz ge-
müdich verlaufen. Wir hatten nämlich ein Schaf erstanden, das Steinhaus
mit einem Feuerherde bot denn doch eine gewisse Ber]uemlichkeit, und
alles war geschäftig und guter Laune, um den grossen Schmaus vorzubereiten.
Prachtvoll brach der Morgen des 28. Juli heran. Früh waren wir
auf dem W'ege. Ich trennte mich von den andern. Nur von einem Ein-
geborenen begleitet, der die Kamera trug, verliessen wir die Zickzacks des
Mamissonpfades und wandten uns gegen Südosten, lim 9 Uhr stand ich
auf dem Grate des Bubu-Choch, etwa 400 m höher als der Mamisson-Pass.
Das Panorama, welches vor mir lag, war nahezu gleich mit dem Ausblicke,
den ich vom Rhododendronhügel bei Gurschewi gehabt hatte, nur an
Ausdehnung hatte es gewonnen; die niedrigen Vorketten waren in die Tiefe
gesunken, das Auge drang mehr in das Innere der Berge, und wenn viel-
leicht einzelne Teile desselben etwas an pittoresken Details des Vorgrundes
verloren hatten, so gewann der ganze Rundblick an Klarheit und Voll-
ständigkeit.
In unmittelbarer Nähe liegt die Gruppe des Adai-Choch. Ihre ganze
südliche Abdachung ist enthüllt. Der Doppelgipfel Hegt von hier gesehen
zurück und bringt seine Höhe weniger zur Geltung. Als beherrschender
Gipfel schwingt sich die Pyramide des Tschantschachi-Choch in die Lüfte.
Es ist der Gipfel, der die Bewunderung Freshfields und seiner Gefährten
herausgefordert hatte, als sie ihn vom Mamisson-Pass zuerst erblickten.
Damals hielt man ihn für den Kulminationspunkt der Gruppe. Ein neidisches
Geschick hat den herrlichen Berg entthront. Andere Gipfel haben ihm seitdem
mit so und so viel Metern den Platz in der Gruppe streitig gemacht,
Am;I,KK des TSCHANTSIIIACIII-CIIOCU.
den er einen Augenblick
sich zu erobern schien,
seiner Schönheit Iconnte
aber dies keinen Eintrag
tun. Zersägte Felsgrate
und scharfe Schneiden
ziehen zu seiner Spitze
empor. Die in grösster
Steile abstürzendenWän-
de sind mit abbrechen-
den Firnfeldern gepan-
zert, und die prächtigen
Eisgebilde des Tschan-
tschachi- Gletschers um-
gürten den Fuss des
Berges. Xahe im Nord-
osten liegt der Knoten-
punkt, von welchem der
Zug sich loslöst, der,
über die Einsenkung des
Mamisson streichend, die
wasserscheidende Ton-
schieferkette bildet, wäh-
rend der Granit sich
weiter Kasbekwärts mit
den schönen Spitzen der
Tepligruppe fortsetzt.
Sobald sich der Blick von dieser fesselnden Nähe loslöste, überflog
er im Westen eine Welt von Bergen. Wie von der Gratschneide des Kosi-
Choch, vom Rhododendronhügel, nur freier entwickelt, entrollt sich vor uns
die Riesenkette des Kaukasus in den mannigfachsten Verschlingungen, mit
vorgelagerten Nebenketten und abzweigenden Ouerjochen. So, und nicht
in einer einförmigen Kette, wie man es uns bis jetzt gelehrt hatte, stellt
sich der zentrale Kaukasus dar. Alle Formen des Hochgel n'rges, Firn-
pyramiden und Felshörner, breite Schneedome und gezackte Grate sind
dort vertreten, und die eisigen Ströme, die von den Höhen niederziehen,
verschmelzen mit den griuienden Talsohlen. Im Gewirre dieser Bergwelt
raoften die Granitriesen .Schchara, Koschtan-Tau untl D\ch-Tau auf, und
Tschantschachi-Choch.
Fortschreitende Kenntnis vom Kaikasus.
etwas näher glaubte ich in einer getjen Süden vorgeschobenen Firnpyramide
Tetinild zu erkennen. Am llschba, dem lierrlichen Berg Swanetiens, war
die Eisrinne zwischen beiden Gipfehi diirclis Fernrohr klar zu unterscheiden, und
in grosser Ferne noch erschien die breite, vielgipflige Gestalt des Dongusorun.
Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, in welcher Reisende in aller
Bequemlichkeit den edeln Mamisson-Pass in ihren Wagen befahren und
Exkursionen auf die umliegenden Höhen machen werden, um dieses Panorama
zu geniessen, unterstützt durch Zeichnungen und Karten, welche die vor-
geschrittene Erforschung dieses mächtigen Gebirges ermöglichen wird, und
kundige Bergbewohner werden ihre P'ührer sein. Für jetzt aber muss der
Reisende, welcher in diese weltentrückte Bergwildnis eindringt, auf sich selbst
angewiesen, ihre Gipfel, Pässe und Gletscher angreifen. Der Charakter
der noch unzivilisierten Völkerschaften vermehrt die Schwierigkeiten, erhöht
aber zugleich auch das Interesse der Reise. Unter den Männern , welche
ihren Mut und ihre Energie in der Eroberung der Hochgipfel der Alpen
bewiesen haben, wird es auch solche geben, welche nicht zurückweichen
werden vor den Schwierigkeiten, welche mit der Erforschung der entfernteren
Berge untrennbar verbunden sind. Langsam, aber sicher, werden dann
einer nach dem andern auch die Bergriesen des Kaukasus fallen; der
gigantische Dych-Tau, der höchste Granitgipfel des Kaukasus, die firnbedeckte
Pyramide des Koschtan-Tau, die mächtige Schchara, die Dent-Blanche des
Kaukasus, Tetnuld, Swanetiens schönster Firngipfel, Uschba, des Kaukasus
doppelgipfliges Matterhorn und manche andere, die ihre Häupter längs der
grossen Kette in die Wolken erheben. Neue Pässe über den Eiswall der
Hauptkette werden eröffnet werden, und die kühnen Bergsteiger, indem
sie die unbetretenen Pfade durch die eisige Wildnis verfolgen, werden
lächeln — oder vielleicht, wenn der Schnee weich ist, murren — über die
bis jetzt in allen geographischen Handbüchern festgehaltene Vorstellung,
dass der Kaukasus nur wenige und kleine Gletscher besitzt. All die Namen,
welche jetzt in unsern Ohren so fremdartig klingen, wie jene der Alpen
den Leuten des achtzehnten Jahrhunderts, werden vielleicht bedeutsame
werden und mit sich Begriffe von Schönheit und Grossartigkeit verbinden,
so wie sich solche durch die Worte Jungfrau und Val Anzasca, Ortler und
Primiero, Matterhorn und Courmayeur unseren Sinnen darstellen, und dann
wird auch die Wissenschaft gefördert sein, und mit dem Fortschreiten der
Kenntnis vom kaukasischen Hochgebirge werden Materialien gesammelt
werden zu dessen vollständiger Beschreibung und dessen Vergleichung mit
andern Hochgebirgen der Erde.
— 172 —
1)i:K KaI'KASUS ri.AVOKOL'XD PlUROPAS.
Dies waren die Ciedankeii, welche mich bewegten, als ich, nach
Beendigung der photographischen Aufnahmen und Messungen, auf den Höhen
oberhalb des Mamisson-Passes im warmen Sonnenschein ruhte und bestrebt
war, in meinem Gedächtnis die herrliche Berglandschaft festzuhalten, welche
in glänzender Klarheit vor meinen Augen lag. Nur ungern wandte ich
den Blick von den dunkeln Klippen, den blendenden Schneegehängen und
den scharfen Graten, welche der Berggruppe angehörten, deren stolzen
Gipfel ich zuerst betreten hatte, hi der Erinnerung stiegen die Details
dieser Ersteigung auf, und ich schmeichelte mir mit der Hoffnung, dass
sie dereinst zu den kleinen Anfängen gerechnet werden dürfte, welche jene
Zeit einleiteten, ermöglichten , von welcher ich träumte — wenn der
Kaukasus zu den »playgrounds« von Europa gehören wird.
Nepeta caucasica S. et L. nox. sp.
Hütten im Aul Urussbich.
XIII. KAPITEL.
Durch die Kabarda und das Bakssan-Tal
zu den Gletschern am Südfusse des Elbruss.
(Ilaiiirs colli and ifstlcss mass
M()\ es oinvarils i]av by <lay.
Byion.
Vier Tage benötigten wir, um vom Mamisson-Pa.s.s nach Naltschik
zu gelangen, die letzten zwei Tage eine Fahrt auf rüttelnder Telega,
grösstenteiLs durch die heisse staubige Steppe. Dem Elbrussmassive zu-
strebend, war Naltschik, die einzige grössere Ortschaft am Fusse der nörd-
lichen Vorberge des zentralen Kaukasus, unser nächstes Ziel. Die nach
Norden ausstrahlenden Ausläufer des zentralen Kaukasus bilden ein meist
waldbedecktes, mit breiten Vorterrassen sich aufliauendes Hügelland, welches
sich in die Talebene des Terek, in die nordkaukasische .Steppe verliert.
Die.se Landschaften gehören zum Gebiete der Kabarda, welche, jetzt
vielfach von russischen Kosakenansiedlungen durchbrochen, von einem der
Tscherkessenstämme, den Kabardaern,*) bewohnt ist. Diese .sollen eigentlich
tatarischer Abstammung sein und haben sich dem Volke der Tscherkessen
erst später angegliedert. Die Kopfzahl der Kabardaer wird mit 80000 an-
genommen. Ihre Religion ist der Islam, obgleich sie wie die Tscherkessen
*) Auch Kabardiner.
DiK K.\i;aktX'\ uNii iiiki-; Hk\v(.)Iiner
angeblich ihr früheres Christentum erst
vor verhältnismässig kurzer Zeit, im
Anfange des i8. Jahrhunderts, mit
dem Islam vertauscht haben sollen.
Die Sprache der Kabardaer ist der
tscherkessischen verwandt, von der
sie sich jedoch nicht unwesentlich
unterscheidet. Als Schriftzeichen wer-
den die arabischen benutzt. Unter
den Stämmen , welche zum Tscher-
kessenvolke gehören, waren die Ka-
bardaer die vornehmsten, gebildetsten
und friedlichsten. Sie be.sitzen die
gleichen körperlichen Vorzüge wie
die Tscherke.ssen : hohe, ebenmässige
Gestalt, stolze Haltung, edle, scharf
eeschnittene Gesichtszüee. Ihre Klei-
Kabar da -Mädchen.
Kabardaer.
düng und gewisse Regeln des Au-
slandes und des ISenehmens gelten
noch heute für die Kaukasier als
mustergültig. Die Tracht der Frauen,
die auch von den P)ergtataren, ilen
Karatschaern und Abchasen ange-
nommen wurde, ist eine besonders
reiche. Sie und die ihnen nahe-
stehenden Bergtataren (auch Berg-
kabardaer genannt) sind — wie ein
gu^er Beobachter dieses Volkes sagte
— die gewandtesten und geschniei-
digsten Kaukasier, aber es fehlt
ihnen oft an Wahrheitsliebe, in
Ueher DiK Stepi'KN der Kaharda.
Uebereinstimmung mit einem gewissen Scheinwesen und gesuchter
Aeussei'Hchkeit, so sehr auch dabei vornehmes Bewusstsein, Rassenstolz
und Tradition eine Rolle spielen.
Nach Beendigung der Kriege, welche Russland durch mehr als ein
halbes Jahrhundert gegen die Bergvölker Kaukasiens geführt hatte, begann
die Massenauswanderung des Tscherkessenvolkes. An derselben haben sich
jedoch die Kabardaer und auch die Bergtataren wenig oder gar nicht be-
teiligt. Das Gebiet der Kabarda bildet ein offenes, verhältnismässig zu-
gänglicheres Gebiet als das der anderen, g<'gen die Russen kämpfenden
Bergvölker, es liegt nahe an der grossen und einzigen Verbindungsstrasse
des Nordens mit Tiflis und war Russland schon seit Beginn seines Vor-
dringens in Kaukasien unterworfen.
In Naltschik hatten wir uns der tatkräftigsten Unterstützung von
Seiten des Kreischefs, Obersten Brakker, bei unsern Vorbereitungen für
die Bergreise zu erfreuen. An die Stelle des ossetischen Milizkosaken
trat jetzt ein Kabardaer.
6. August. Wieder in einer Telega in westlicher Richtung durch
die Steppe, aber an einem klaren Tage und im Anblicke des fernen Hoch-
gebirges. Bis in die Nähe des Bakssanflusses war es eine Art Land-
strasse, die wir verfolgten. Weiter fehlte aber jede Spur eines Weges,
und bis zu dem am Bakssan gelegenen Dorf Ataschukin musste querfeldein
gefahren werden, zuerst über das lehmige Diluvium der Steppe und
dann durch ein tertiäres Hügelland.
Das Gepäck war auf Pferden unter der Aufsicht des uns als Eskorte
beigegebenen kabardischen Kosaken vorausgeschickt worden; Instrumente und
photographische Ausrüstung führten wir jedoch mit uns. Unbarmherzig
wurden wir in der Telega herumgerüttelt, was um so unangenehmer war,
als ich das Ouecksilberbarometer vorsorglich halten musste und auch sonst
noch zwischen unsern Beinen Taschen und kleine Koffer mit photographischen
Apparaten und Instrumenten placiert waren. Die Telega wurde gerade am
Steilhange eines kleinen Hügels dahingeschleppt, als die Neigung, in welcher
das Gefährte sich befand, sich plötzlich vergrösserte. Im nächsten Augen-
blicke schon schlug es gänzlich um, und Insassen und Gepäckstücke lagen
zerstreut auf dem glücklicherweise weichen Lossboden. Die Telega war
bald aufgerichtet, weder wir, noch das Gepäck, noch merkwürdigerweise das
Barometer, hatten Schaden genommen. Bald ist wieder alles aufgepackt
und wir setzen die Fahrt durch die reizlose, sonndurchglühte Landschaft
der Kabarda fort.
ElMMiKMlCl-: I.ANDSCIIAI'T IM UNTEREN BAKSSAN-TAI..
Bei Naurusowa beginnt das tertiäre Terrain, welchem Neokom- iintl
miocäne I-'ormationen folgen. In letzteren liegt der kabardische Aul Ata-
schukin (581 m B. D.)-
Hier sollten unser die Reitpferde warten, welche sciion früher von
Naltschik aus bestellt waren. Die etwas kühle Aufnahme, welche wir an-
fangs beim Kabardaer-Fürsten Ataschukin fanden, wich bald einer geradezu
rührenden Herzlichkeit, als er erfuhr, dass wir Ungarn seien. Auch hier
fand ich, sowie im Vorjahre in Urussbieh, zu meiner grössten Ueberraschung
die Tradition einer Stammesverwandtschaft mit den Magyaren.*)
Nach der helssen Steppenfahrt ruhte es sich wohlig auf den mit kost-
baren Teppichen bedeckten Sofas, in den kühlen Zimmern des nach russi-
scher Art gebauten Hauses des Fürsten Ataschukin. Ein reiches Mittag-
essen wurde uns ganz nach der bei den tatarischen Bergstämmen üblichen
Weise vorgesetzt, und wir zum Bleiben über Nacht eingeladen. Leider
konnten wir dieser freundlichen Einladung nicht Folge leisten, da schon in
Naltschik viel Zeit verloren gegangen war. Der Knjas selbst sorgte dann
für unser Fortkommen und liess gute Pferde satteln, welche uns zur freien
Verfügung gestellt waren, da keine Bezahlung angenommen wurde. Beim
Abschiede liess es der Fürst sich nicht nehmen, uns einige Andenken mit-
zugeben. Eine schwarzseidene, mit Silber ausgenähte Tasche wird für
mich immer eine wertvolle Erinnerung bleiben.
Die Nacht verbrachten wir in einer Käserei, welche Aslambeg, einem
Mitgliede der Familie Urussbiew, gehört. Hier trafen wir Naurus, den
Sohn Ismael Urussbiews, der sofort erklärte, uns nach Urussbieh begleiten
zu wollen.
7. August. In landschaftlicher Beziehung bietet der Ritt durch das
Bakssan- Tal sehr wenig. Stellenweise wird die Szenerie abwechslungsreicher,
kurze Engen unterbrechen die langen, nahezu ebenen Talstufen. Oft ent-
behrt das breite nackte Felsental mit dem rasch dahinfliessenden Strome
nicht einer gewissen Grossartigkeit, oder es bietet sich höher oben, durch
waldige Seitenschluchten ein Blick auf schneebedeckte Gipfel, ohne jedoch
im Ganzen den Eindruck der Einlörmigkeit bannen zu können. Nirgends
in den Alpen findet man landschafdich so unschöne Talpartien, wie sie der
Kaukasus auf langen Strecken bietet.
Geologi-sch wiederholt sich im Bakssan -Tale dieselbe Reihenfolge der
Formationen, wie wir diese auf der Wanderung durch das östlicher gelegene
*) Siehe hierüber die Anmerkung auf Seite 99.
Dc?chy; Kaukasus. 12
— 177 —
DiK Gkstki\s1'(.)KM.\'|[()\k\ im 15akssan-Ta[,e.
Ouertal des Ardon näher beschrieben haben. Auch im Bakssan-Tale folgt
auf die Kreideformation die Jurakalkkette. Vor Osrokova kommen wir in
eine fast ebene, zum Teil begrünte Talweitung, wo der obere Jura mit der
unteren Jura-I'ormation zusammenstösst. Bald darauf treten wir in das Ge-
biet der kristallinischen Schiefer, welche hier jedoch mit den Graniten der
oberen Talstufe eine breitere Zone einnehmen, als im Aufbaue der weiter
gegen Osten liegenden Teile des zentralen Kaukasus.
In ( )srokova, einem aus wenigen elenden Hütten bestehenden Dorfe,
war es unmöglich, Pferde aufzutreiben. Bis hierher hatten uns die Pferde
des P^ürsten Ataschukin bringen sollen, um noch am selben Tage zurück-
zukehren. Da es jedoch keine Möglichkeit gab, in anderer Weise vorwärts-
zukommen, mussten wir die Pferde noch bis Korchoschan, dem nächsten
Dorfe, benutzen.
Wir waren gegen lo Uhr vor Osrokova, ritten mittags über die
Brücke des Gestendi- Baches, wo wir im Vorjahre, von Tschegem kommend,
zuerst das Bakssan-Tal betraten, und erreichten eine Stunde später das
etwas seitwärts vom Wege liegende armselige Dorf Korchoschan (1380 m),
im Ganzen ein Ritt von etwa 6 — 7 Stunden ab Käserei Aslambeg. Hier
erfuhren wir nur zu rasch, dass — was wir eigentlich befürchtet hatten —
auch hier keine Pferde zu haben sind. fetzt war wirklich guter Rat teuer.
Die Pferde des Pursten Ataschukin noch länger zu behalten, wäre ein Miss-
brauch des uns erwiesenen gütigen Entgegenkommens gewesen. Ander-
seits jetzt, noch früh am Tage, in verhältnismässiger Nähe von Urussbieh,
wo ein gutes Unterkommen winkte, hier in diesem elenden Orte lange
Stunden und die Xacht zu \erbringen, bis Pferde von Urussbieh uns ent-
gegengeschickt würden — war mehr, als ich hätte ertragen können. Nach-
dem alle Versuche, die Karawane flott zu machen, fehlgeschlagen waren, wurde
endlich beschlossen, das Gepäck unter der Aufsicht des Ko.saken in Korchoschari
zu lassen, um es dann am nächsten Tage nach Urussbieh zu befördern.
Naurus hatte sein eigenes Pferd, das er mir grossmütig zur Verfügung
stellte, aui dem Pferde des Kosaken wurde mein Reisegefährte beritten ge-
macht, während Naurus selbst sich mit einem endlich zum Vorschein ge-
brachten elenden Gaul und einem Packsattel begnügte. Ab'ttlerweile war
es 4'/^ Uhr geworden und man musste rasch vorwärtskommen, um noch
vor Einbruch der Nacht Urussbieh zu erreichen. Leider war Freund Lojka
kein grosser Reiter vor dem Herrn, es gab Aufenthalte und Verzögerungen,
und sowohl Pferd als Sattel mussten öfters gewechselt werden. Ein Ritt von
3'A Stunden brachte uns nach Urussbieh.
— 178 —
Zu DEN Bakssan-Quellkn.
Wie im \'or jähre, wurden wir auch diesmal von Ismael Urussbiew
herzlich empfangen. Die hervorragenden Bewohner des Auls, die Aeltesten,
langbärtige Gestalten, beturbant oder mit hohen Pelzmützen, kamen, ver-
neigten sich oder reichten die Hand zum Grusse. Als Erinnerung an unsere
Elbrussexpedition hatte ich Ismael und Hamsat Urussbiew aus Ungarn
goldene Taschenuhren geschickt, mit einigen auf den Anlass bezüglichen,
auf den inneren Deckelseiten eingravierten Worten. Das Geschenk bereitete
viel Freude imd wurde stolz getragen.
Der 8. August war ein Regentag, den ich dazu benutzte, um unsere
Weiterreise zu besjirechen, Pferde und Träger zu bestellen und, was die
Hauptsache war, die Route festzusetzen, auf welcher wir, meinem Plane nach,
die Hauptkette überschreiten wollten, um nach dem Süden derselben, nach
Swanetien zu gelangen. Als es sich am Nachmittage klärte, machten wir
einen Ausflug auf die Höhen nördlich von Urussbieh, wo Prof. Lojka eine
neue Blütenpflanze, Rhamnus tortuosa S. et L. n. sp., entdeckte.
Der 9. August brachte schönes Wetter, aber keine Pferde. Armer
Knjas*) Ismael! Wie oft mag ich an diesem Tage, bald bittend, bald vor-
wurfsvoll, an ihn herangetreten sein! Ismael war ein Bergenthusiast, wie
wohl keiner der Bergbewohner des Kaukasus, allein sein guter Wille war
selbst seinen eigenen Leuten gegenüber nicht stark genug, um rasch alles
Nötige herbeischaffen zu können. Spät am Nachmittage gelang es endlich,
die grosse Karawane beritten zu machen, und auch diesmal Hess es sich
Ismael nicht nehmen, uns zu begleiten, und mit einem Tross von Pack-
pferden und Trägern zogen wir aus Urussbieh. Bei den Hütten des
Irik-Kosch nächtigte man.
10. August. Beim schönsten Wetter setzten wir den Weg durch das
obere Bakssan-Tal fort, nicht ohne wieder dem Bilde, welches in der Oeff-
nung des Adylssu-Tales sichtbar wird, den Zoll der Bewunderung abzu-
statten. Am Abende bezogen wir das vorjährige Lager bei Kosch-Asau.
Die folgenden Tage, der 11. bis 14. August, waren den Arbeiten
und Sammlungen im Gebiete des Asau-Gletschers und des Tersskol-
Gletschers gewidmet.
Am Tersskol-Gletscher wurden vier Meter vom Eise entfernt eine
Mauer errichtet und einzelne Steinblöcke mit Zeichen versehen. Die Se?-
höhe des Gletscherendes wurde mit 2654,8 m (B. D.) gemessen.
Vom Kosch-Asau gelangt man in einer starken Stunde, meist durch
Wald, zum grossen Talgletscher, zum Asau-GIetscher, dem die Bakssan-
*) Knjas ist das russische Wort für Fürst, wahrscheinlich tatarischen Ursprungs.
12*
— 179 —
Di;k AsAL'Gi>ET.sriiF.R.
(lucllen entrinnen. In schönem Absturz, mit präcluii^en Klüften, wirft sich
das reine Kis des (iletschers über die letzte Terrainstufe. Seine End-
moränen sind nicht weit vor^-eschoben, das eisfrei gewordene Terrain ist
in kurzer luitfernung schon mit Vegetation bedeckt. Der Rückzug scheint
in den letzten Jahren nicht bedeutend gewesen zu sein. Die Basismauern
des Elbruss im Norden, der Gratzug, welcher den Elbruss mit dem Haui)t-
kamme verbindet im Westen und im Süden der 1 lanptkamm selbst, um-
Der .\sau-Gle tscher.
schliessen das Eisgebiet des Asau-Gletschers, welcher von diesen Bergen
Zuflüsse erhält und von den Firnregionen des Elbruss-Stockes genährt wird.
Der Asau-Gletscher bedeckt mit seinem Firngebiete eine Fläche von 27 qkm
und besitzt eine Länge von nahezu 1 3 km, gehört also zu den grössten
Gletschern des Kaukasus. Die Gletscherzunge endigt in einer Seehöhe von
2330 m (2352 m B. D.). Das Ende des Gletschers muss sich über eine
steile Bodenwelle hinabschwingen und bildet so die zerklüftete Zunge. Auch
am Asau - Gletscher wurden einige Meter vom Eisende eine Mauer
GLETSCHERBEOliACIITUNCEN UNI) SAMMLUNGEN.
aufgeführt und grosse Blocke als Signale bezeichnet. Der lüul])unkt
der Seitenmoränen, sowie die Entfernung zwischen dem Wieder-
beginn der Vegetation und dem Gletscherende wurde gemessen.
Von fixierten Punkten wurden photographische Aufnahmen der Gletscher-
zunge gemacht.
Unterdes nahmen die botanischen Sammlungen einen guten
Fortgang, und Prof. Lojka entdeckte eine Reihe von neuen Arten
und neuen Varietäten, so am Gehänge unterhalb des Asau- Glet-
schers: Heracleum Freynianum S. et L. nov. sp. und zwei neue Flechten-
arten Lecidea s)'ntrophica Wain.*) und Pharcidia [oeltideae Wain. (ad
fungos pertinet).
Während dieser Tage wurden im Lager auch regelmässige meteoro-
logische Beobachtungen angestellt. Es wurden Ouecksilberbarometer,
Aneroid Hicks, Aneroid Goldschmid und Lufttemperatur beobachtet, be-
feuchtetes imd trockenes, sowie Maximal- und Minimalthermometer ab-
gelesen.
Das Wetter war an diesen Tagen gut, die Barometer hatten eine
steigende Tendenz, und es war höchste Zeit, unsern Plan, den Hauptkamm
zu überschreiten, in Angriff zu nehmen. Allein die Ausführung war damals
nicht so leicht. Die erste Schwierigkeit lag in der Beschaftung von Trägern.
Wie ich schon im Vorjahre bemerkt hatte, vermeiden es die Bakssantataren,
wenn nur irgend möglich, nach Swanetien zu gehen, ausserdem sind sie zu
mühevollen Dienstleistungen, wie das Tragen schweren Gepäcks über
Gletscherpässe, nicht zu haben. Es waren also wieder die berg- und weg-
kundigen Swanen, kräftige Leute, die den Sommer über nach dem Bakssan
als Feldarbeiter kommen, zu welchen wir unsere Zuflucht nahmen. Wir
sehen hier einen Pall, welcher der allgemeinen Annahme, dass die Bevölke-
rung im Norden arbeitsamer ist als der Südländer, widerspricht. Aller-
dings sind die Bewohner der Nordseite des Kaukasus Asiaten, wenn
diese Abdachung auch nach der Ansicht vieler Geographen zu Europa
zu rechnen ist. Dabei sind die mohammedanischen Bewohner des
Karatschaigaues und der Ouertäler des Bakssan, T.schegems und
Tschereks, verhältnismässig wohlhabentl, während die armen Swanen der
*) Unter den im Tersskoltale gesammelten Phanerogamen wurden als neue Varietäten
bestimmt: Aetheopappus pulcherrimus Willd. var. foliosus S. et L. a tomentellus S. et L., Oxytropis
samurensis var. subsericea, forma longifolia S. et L., Trifolium polyphillum var. ochroleucum S. et L. ;
um Kosch-Asau und am Gehänge an der Seite des Asau-Gletschers : Axyris sphaerospernia var.
caucasica S. et L., Silenc saxatilis var. stenophylla S. et L.
Unsere swane'iisciiex Tracer und Rusticm Chan.
bitteren Not gehorchen müssen, wenn sie tlie beschweriiche Reise nach
dem Norden der I lauptkette unternehmen, um tlort einen Verdienst
zu suchen.
Ismael Urussbiew, der auch den Swanen gegenüber Autorität besitzt,
brachte die nötige Anzahl Leute zusammen. Schon vor unserer Abreise
von Urussbieh waren acht Swanen in meine Dienste getreten. Eine bunte
Reihe der verschiedensten Physiognomien und Gestalten, von welchen ich
einige photographierte, die jedoch alle ein gemeinsames Merkmal trugen;
den reinen Typus des Wegelagerers. Jeder der Träger sollte zehn Rubel
erhalten, ausserdem hatte ich ihnen einen Betrag für die Beschaffung der
nötigen Provisionen für die Reise zu übergeben. Die Leute waren ver-
pflichtet, ims bis in das erste Dorf Swanetiens zu begleiten und das Gepäck
zu tragen. Jedoch schon im Kosch-Asau traten sie mit Mehrforderungen
an mich heran, und schon jetzt, noch vor Antritt der Gletscherreise, war
ihnen das Gepäck zu schwer, und trotz der ihnen iibergebenen Provisions-
gelder herrschte Mangel an Nahrungsmitteln. Es gärte. Ismael machte
der kleinen Revolution ein Ende. Drei Swanen wurden mit Entgelt von
je drei Rubeln in Ungnaden entlassen und vier andere an Stelle derselben
beschafft. Mit diesen Leuten nun wollte uns Ismael nicht allein ziehen
lassen. Ein Swane, fürstlicher Abkunft, jedoch unterschiedlicher Morde
und hochromantischer Liebesabenteuer wegen gezwungen, Swanetien zu
verlassen, stand in Diensten Ismaels. Er, Rustem Chan — von ims inuiier
kurzweg der Knjas genannt — , und ein anderer Diener Ismaels, Mohammed,
der schon im Vorjahre mit uns in Swanetien war, sollten uns begleiten und
brachten die Zahl unserer Träger auf elf Mann.
Der Knjas sollte während unseres Aufenthaltes in Swanetien unser
ständiger Begleiter sein und seinen Einflu.ss dort aufbieten, um es uns
möglich zu machen, auch den Rückweg über den gletscherbedeckten Haupt-
kamm nach Norden auszuführen. Selbstverständlich sollte er auch eine
grössere Bezahlung als die andern gewöhnlichen Menschenkinder, welche
als Träger in unsern Diensten standen, erhalten. ¥.r sollte so eine Art
Reisemarschall sein. Seiner fürsdichen Stellung entsprechend, durfte er
nur geringe Lasten tragen, Gepäck von nicht plebejischem Aussehen, also
meine Barometer, Instrumente, Revolver, b'eldflaschen und ähnliches. Im
bewohnten Swanetien jedoch sollte seine Eürstlichkeit sich nur hoch
zu Ross den profanen Augen seiner Stamme.sgenossen zeigen. Keiner
von allen den Leuten sprach russisch, und der Knjas konnte sich
mit uns in keiner andern Sprache als svvanetisch oder tatarisch ver-
Aufi;rucii von Koscii-Asau.
ständigen, Idiome, aus welchen mir nur einige wenige Worte zur Ver-
fügung standen.*)
Endlich waren die Gepäckslasten unter die Träger verteilt und wir
verliessen das Lager am Kosch-Asau. Ismael, die Büchse auf dem Kücken,
von seinem Diener gefolgt, begleitete uns.
*) Rüstern Chan befindet sich auf dem Bilde meines Standquartieres bei Kosch-Asau
vor der Ersteigung des Elbruss: »Meine Gastfreunde im Standquartier bei Kosch-Asau«
Seite 1 13.
Tasche aus der Kabarda.
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Unsere Karawane am Asau-Gletscher.
XIV. KAPITEL.
lieber Gletscher-Pässe nach Swanetien
(Dschiper-Pass und Bassa-Pass).
lis ist ein ijrossri Kfi/, zu wissen, ilass mau der
erste ist, der über diese Berge wauilert.
Sven von Ilediu.
Als wir am 15. Aiigu.st das Lager am Kosch-Asau verliessen, war
es eine Reise ins Unbekannte, die wir antraten. Meine Absicht war es,
nachdem ich im Vorjahre zuerst am Betscho-Pass einen Uebergang über die
Hauptkette aus dem Bakssan-Tale nach Swanetien ausgeführt hatte, nun-
mehr im Firngebiete des Asau mich bis zum Hauptkamm zu erheben und,
diesen überschreitend, zum Ingur zu gelangen. Fürst Ismael und den
Swanen war dort, wie es schien, ein Gletscher-Fass, wenn auch seit Jahren
unbetreten, bekannt, nur konnte ich aus den mir gemachten Mitteilungen
und den mir unbekannten Benennungen über die Topographie desselben
nicht klar werden, insbesondere nicht enträtseln, in welches Tal an der süd-
lichen Abdachung des Hauptkammes der Liebergang führen sollte. Nur die
— 184 —
Die Umrandung des Asau-Gi.ktschers.
Wanderung- selbst konnte mir die Antwort geben. Die Firnregion des Asau-
Gletschers war damals terra incognita.
An der linken Seite des Asau-Gletschers, den Absturz umgehend,
stiegen wir empor. Dann betraten wir das obere Eisfeld. Eine wenig- an-
steigende Fläche grobkörnigen gefrorenen Schnees ohne Moränen breitet
sich vor uns aus. Grossere und kleinere Felsblöcke und Trümmerhaufen
liegen auf derselben zerstreut. Einige offene, oft tiefe Klüfte durchbrechen
die Oberfläche. Zur Rechten — im Norden — erhebt sich das mit phan-
tastischen Klippen bestandene Gemäuer, welches das Firnplateau des Elbruss
■Vom Elbruss-Plateau niederziehender Gletscher.
begrenzt und zwischen Asau und Tersskol sich aufbaut. In wilder Zer-
klüftung fällt hinter demselben ein Zufluss des Asau-Gletschers auf den
ebenen Gletscherboden. An diese Seracpartie schliesst sich eine Bergkette,
die, vom Kosch-Asau gesehen, den Hintergrund des Asau-Gletschers bildet.
Im Süden zieht in sanftem Falle ein mit blendend weissem Firnschnee be-
deckter Eisstrom zum Asau-Gletscher. Es ist ein Gletscherrund am Asau,
wie es schöner nicht gedacht werden kann. Unvermittelt fällt der Blick
hinaus auf die grünen, waldumstandenen Hänge des Bakssan -Tales, dessen
rechte Talwandung in der Höhe die schneebedeckten Gipfel sehen lässt,
welche die Ouerschluchten des Adyr-Ssu und Ad)-1-Ssu umschliessen. Eine
Der Lackki'i .\-iz Ismaels-Kosch.
Reihe von photographischen Aufnahmen wurde gemacht, darunter auch
eine solche unserer Karawane, und es gelingt, Ismael, meinen Gefährten und
mich auf diesem Bilde gleichfalls zn fixieren, indem einer meiner Träger,
nachdem ich alles zur Exposition vorbereitet hatte, den ( )bjektivdeckel hebt
und wieder schliesst.
Wir wanderten über die wenig ansteigende Mäche des Asau-Gletschers,
seiner felsigen Umrandung- im Westen entgegen. Als wir diese erreicht hatten,
stiegen wir an einem Felsbollwerk empor, welches dem Kammzuge vor-
gelagert ist. Nachdem die Höhe erstiei^^en war, sahen wir eine kleine, kreis-
Am Asau-Gletscher.
förmige, im Rücken \on hohen Mauern umgebene Fläche vor uns. Hier
pflegte Ismael bei seinen Jagdzügen zu ruhen, und der ( )rt hatte — wie er
mir sagte — auch die Benennung Ismaels-Kosch erhalten. In ernster Schnee-
wildnis ein prächtiger Lagerplatz. (2839 m B. D.)
Da es noch früh am läge war, begann ich ohne Aufenthalt sofort
am Felsgehänge emporzudringen, lun \on der Grathöhe den Blick über die
Umgebung zu erringen. Ein Swane trug die photographische Kamera.
Rasch kamen wir über geröllbedeckte Felskanten aufwärts. Dann wird an
den Wänden das Geklippe steiler und es folgt ein scharfes Klettern. Mit
seinen Ledersandalen findet der Swane an den kleinsten \'orsprüngen des
Felsens sicheren Stand und mit Leichtigkeit und Behendigkeit zieht er sich
von Stufe zu Stufe. Im prachtvollen Rundgemälde des Asaugebietes, das
— 186 —
DiK IM.IIKL'SSKFXJEL VON DEX ASAU-I irniKN.
sich uns von der Kammliühe erschliesst, schwingen sich gerade vor uns,
über weite Firnflächen, von welchen das Eis zerschellt und zerborsten über
die Randwände stürzt, die Elbrusskegel in die Lüfte. Im weiten Umkreise
liegt um uns die Berg- und Talwelt des Bakssan. Kein Wölkchen ist am
Himmel, hell und warm strahlt die Sonne an diesem Nachmittage. Ach,
wenn meine Kassetten Dutzende von Platten enthielten, ich fände hier Bilder
Saxifraga scleropoda Somm. et Lev. nov. sp.
für sie! Aber die Grenzen, in welchen wir uns so oft im Leben bewegen
müssen, sie sind mir auch hier gezogen. Nur drei unexponierte Platten
sind noch zu meiner Verfügung. Zwei derselben wurden dem Elbruss ge-
weiht, die dritte der schönen Firnszenerie im Süden des Asau- Gletschers.
Dort fliessen demselben Eisströme zu, welche von prächtigen, felsdurch-
brochenen Firnkuppen gekrönt werden.
Indes ich auf der Höhe ruhte und photographierte, hat mein Gefährte
das Felsgemäuer nach Phanerogamen und blechten durchstöbert und eine
schöne Sammlung der nivalen Region angehörender Blütenpflanzen zusammen-
gebracht. Als neue Arten wurden bestimmt: Astragalus Levieri S et L,
Poa imeretica S. et L. var. nivalis, Saxifraga scleropoda S. et L. und
Im Lager Ismakls-Kosch.
ein Taraxacuin tenuissetum S. et L.'") Ismael war ausgezogen, den Stein-
böcken nachzu.si)üren, nachdem er uns schon früher am Felsrande des El-
bruss-Plateau einige der prächtigen Grattiere gezeigt hatte.
Es war Abend geworden, bis ich zurückkehrte. Am Lagerplatz lagen
die Lasten durcheinander geworfen am Boden umher. Es war höchste
Zeit, das Lager wohnlich zu machen, aber dieses Jahr fehlte die Mithilfe
meiner Schweizer und ich musste mich tüchtig alMiiühen. Die Swanen sollten
mithelfen, und ich verteilte die Arbeiten zwischen ihnen. Unter meiner Auf-
sicht wird von zweien das Zelt aufgeschlagen. Die innere Einrichtung be-
sorgen wir selbst, da ein Eindringen unserer Leute auch das anderer Wesen
im Gefolge haben könnte. Ein Swane muss im zusammenlegbaren, aus
wasserdichtem Stoff gefertigten Eimer, den wir mitführen, Wasser holen,
das eine nahe Quelle bietet, der andere den P^euerherd aus Steinen er-
bauen und ein Feuer anzünden. Wieder andere sind schon früher aus-
geschickt worden, um zwischen den P"elsklippen stehendes, trockenes Gestrüpp
als P^euerungsmaterial zu sammeln. Die Säcke, welche das Küchengeräte
und die Provisionen enthalten, werden geöffnet. Es ist kein Leichtes, unter
dieser Unmasse von Gegenständen das Gesuchte zu finden.
Mittlerweile war die Stunde herangekommen, zu welcher gewöhnlich
die Beobachtungen an den Instrumenten vorgenommen wurden, indes mein
Reisegefährte die botanischen Schätze versorgt, unter welchen nicht nur die
neu gesammelten Pflanzen eingelegt werden müssen, sondern auch die älteren
mit unerbitdicher Tyrannei des Wechsels der feuchten Papierlagen harren.
Wenn dies alles vollendet ist, muss ein Teil des Gepäcks über Nacht gegen
Feuchtigkeit und eventuelle Niederschläge geschützt werden. Pflanzenpakete,
Instrumente, photographische Kofter werden zusammengetragen und mit
Kautschuktüchern zugedeckt.
Jetzt erst kann das Abendessen bereitet werden. Es bestand wie
zumeist aus einer Erbswurstsuppe, einer Büchse Konservengulyasch, in welche
wir uns teilen und Brot verschiedener Qualität. Ein Schluck Cognac und
heisser Tee schlössen das Abendmahl.
Es ist Nacht und kalt geworden. Wie Vermummte lagern wir umher.
Noch eine grosse Arbeit wartet wie immer meiner, wenn nach den Mühen
des Tages man sich nach Ruhe sehnt. Ist die Nacht vollkommen herein-
gebrochen, so müssen die Feuer gelöscht werden und im Innern des Zeltes,
*) Neue Subspezien waren: Astragalus oreades C. A. ^I. var. stipulario S. et L., Campanula
petrophila Rupr. var. exappendiculata S. et L., Poa alpina L. var. glacialis S. et L., Sisymbrium
Hiietii Boiss. var. elatum S. et L.
— 188 —
Anstiki. i ni'.K iii;\ ])s( iiii'KR Gi.k'isciii'.k.
über welches bei hellem IMonclschein noch Decken o;-e\v()rf(;n werden, niiiss
die Auswechslung- der exponierten photographischen Platten gegen un-
exponierte vorgenommen werden. Es ist eine Arbeit, die meist eine halbe
Stunde währt, oft auch mehr Zeit in Anspruch nimmt, und inuner gehört für
den müden, sich nach Ruhe und Schlaf sehnenden Reisenden eine ziemliche
Willenskraft dazu, um sich dazu zu entschliessen. Erst wenn sie erledigt
ist, können wir an die Nachtruhe denken. Auch die Nachttoilette ist nicht
leicht gemacht, das Zelt ist klein und niedrig. Einer nach dem andern
kriechen wir in dasselbe. Es währt lange, bis mein Gefährte fertig wird; die
Nacht droht in der Höhe von nahezu 3000 m kalt zu werden, und alles, was
er an Wäsche und Kleidern besitzt, wird angelegt. Endlich ist das Zelt ge-
schlossen, eine Pracht. Nur heute wird es wohl enger werden, da wir den
ziemlich beleibten Fürsten Ismael zu Gast haben. Lojka wird in die Mitte
gelegt; ich empfehle ihm diesen Platz, wo er am wenigsten frieren dürfte.
Auch die Häringe frieren nicht! Die fremdartigen, mehrstimmigen Gesänge
der Swanen, die zuvor an die Felswände der einsamen Einöde schlugen,
sind verstummt. Nichts stört mehr die Stille der schweigenden Nacht, und
Friede liegt über der müden Welt.
16. August. Langsam zieht am Morgen unsere Karawane den
Schutthalden entlang, welche den Fuss des Felsbollwerkes umgeben, an
dem wir nächtigten. Sie sinken zum linken Ufer des gegen Süden ziehenden
Gletschers, dessen steil abschiessenden, fast schneefreien unteren Teil wir
umgehen. Wir hatten unser Lager um 3 Uhr 30 Min. morgens verlassen,
überschritten zuerst Geröllhänge und betraten bald darauf das Eis des vom
Süden vom Hauptkamme niederziehenden Zuflusses des Asau- Gletschers,
den ich später nach der Passeinsattlung an seiner Spitze Dschiper-Gletscher
nannte. Im Rückblick waren die Bergketten, welche das Bakssan-Tal um-
stehen, erschienen, aus einem Nebelmeer ragend, welches über der Flucht
des Tales wogte.
Scharf prägte sich am Gletscher die Linie aus, wo sich die Firn-
felder von der Eiszunge des Gletschers trennen. Die Firnlinie wurde hier
mittels Ouecksilberbarometers mit 3109 m (B. D.) gemessen. Die Luft-
temperatur betrug um 6 Uhr 40 Min. 1,3" C.
Im Weitermarsche traten einige Spalten auf, und ich hielt es für
angezeigt, uns Vorangehende mit dem Seile zu verbinden. Der Schnee
war von vorzüglicher Beschaffenheit, und rasch gewannen wir an Höhe.
Von dunkeln P>lsklippen umstanden, hob sich die schneeige Einsattlung
unseres Passes scharf \om tiefblauen Firmamente ab.
— 189 —
AlSSK'IIT V(IM Dschipkr-Pass.
Um S L'hr war die Passhöhe erreicht; 3267 m (3323 ni B. D.). Ich
nannte die Einsattking nach der im Süden hegenden, von den Eingeborenen
üschiper bezeichneten obersten Talstufe Dschiper-Pass.") Als ich, der erste,
einige Schritte bis an den Rand des Passes vorgetreten war, um hinüber
nach dem jenseits zu blicken, da entrang sich ein Ausruf der Bewunderung
meinen Lippen. Wie sich die Formen des hrn- und eisbedeckten Hoch-
gebirges in vollendeter Schönheit hier darstellen! Zuerst zur Linken ein
felsiger, unter Schnee und Eis begrabener Kammzug (Kuarmasch), Aus-
läufer der Ilongusorun-Kette, unter dessen Steilwänden sich die Firnmassen
angesammelt haben. In blendender Weisse strahlt der Schnee, bald sanft
gewellt dahinflutend, bald vom Spaltengewirr durchbrochen. In kaukasischer
Steile fallen die eis.starrenden Felshänge zu dem sie umsäumenden Berg-
schrunde. Mit eisbeladener Fassade erhebt sich der Gipfel des Gwergischer
(3376 m). Nun folgt eine tiefe Senke, von welcher der Bergkamm wieder
ansteigt, gekrönt von der feinen, nadeiförmig zugespitzten Firnpyramide des
Schtawler (3995 m). Der Fuss dieses Bergzuges verliert sich .schon in den
uns verdeckten Gründen des dort nach Südwesten ziehenden Tales. \'on
der Passhöhe zieht gegen Südwesten eine Firnbucht mit dunkeln Uferrändern.
Noch liegt Halbdunkel in der Tiefe, Schatten fallen noch auf die
Bergwände, aber um so glänzender leuchtet in der Höhe der von den
Sonnenstrahlen getroffene Firn. Ein wolkenloser Himmel war über diese
Welt von Pracht und Schönheit gespannt. Ueber der Flucht des zu unsern
Füssen liegenden Tales, in weiten Fernen, sah man Bergketten auftauchen,
von violetten Farbentönen umhüllt. P~s schien, als sei dort dem Blicke keine
Grenze gesetzt, so klar und durchsichtig war die Luft; es schien, als ob
dort die Leere folge und dann erst das Himmelsgewölbe abschliesse.
Und wenn man das Auge von diesem mit dem Reize der Neuheit fesselnden
Bilde abzog, so haftete es im Norden staunend am grossen und erhabenen
Massiv des Elbruss. Jenseits der Schneefläche unseres Standpunktes, .scheinbar
in grosser Nähe, zieht eine gezackte Felsbastion, Trachytgebilde, welche
den Rand der Eisumwallung des Vulkanriesen bildet. Die P21brussgipfel
wirken hier nicht nur durch ihre Grösse und Höhe, sondern auch durch
das schöne Plbenmass ihrer P'ormen. Von entfernteren Standpunkten gelangt
das Beherrschende ihrer Höhe vielleicht mehr zur Geltung, indes sie aus
grösserer Nähe gesehen wieder mehr den Eindruck des Ma.ssigen hervor-
bringen. Vom Dschiper-Passe jedoch vereinigt sich im Anblicke des Elbruss
*) Da dorthin auch ein Uebergang aus dem Karatschaigebiete führt, empfiehlt es sich,
den aus dem Bakssan-Tale kommenden Uebergang als Dschiper-Asau-Pass zu unterscheiden.
— 190 —
LösuNd toi'()(;kaimiisc'iikr Ratski..
das Ueberwalti>;ende der iiuiclitigen Erhelniiii^ mit der FormvolUMidung,
der erhabenen Ruhe der Linien und mit der blendentlen Schönheit seines
Firnmantels.
Es hatten sich mir vom 1 )schiper-Passe Blicke in Landschaften er-
öffnet, die in ungeahnter Schiinheit prangten, und ich gab mich ganz der
Freude an der herrlichen Schöpfnng hin, die vor mir lag.
letzt erst konnte ich die topographischen Verhältnisse dieses Gebiets
enträtseln. Das Tal zu unsern Hissen — obgleich die Eingeborenen
dasselbe immer nur Dschiper nannten — war das Nenskra-Tal, das wesdich.ste
der vom Hauptkamme niederziehenden Seitentäler des Ingnr, das weit
draussen, nahe seiner Durchbruchsschlucht, in denselben mündet. Die rechte
Talwandung im Norden trennt uns von den Ouellflüssen des Ullukafn
(Kubansystem), vom Karatschai. Der das Elbrussmassiv mit der Hauptkette
verbindende Kamm ist kürzer, als damals angenommen wurde, indem die
Hauptkette dort nach Norden ausbiegt, und das Ursprungsgebiet der süd-
lichen Zuflüsse des Asau-Gletschers stösst an die das Nenskra-Tal überragende
Hauptkette. Das im Norden liegende Seitental des Bakssan, welchem der
Dongusorun-Bach entströmt, nimmt seinen Ursprung an jenem Teil der
Hauptkette, welcher im Süden in das Nakra-Tal fällt. Zwischen der Ein-
sattlung des Dschiper-Passes und des Dongusorun-Passes, die beide im
Hauptkamme liegen, löst sich von tliesem der das Nenskra- und Nakra-Tal
trennende Bergzug.
Zwei Stunden verweilten wir auf der Höhe des Dschiper-Passes, ein
Zeitraum, der mit Arbeiten und Geniessen rasch verstrich. Die Temperatur
war bei vollkommener Windstille angenehm; obgleich sie um 9 Uhr 30 Min.
a. m. nur 5" C. betrug. Das Ge.stein der die Passeinsattlung umgebenden
Felsen ist ein porphyrartiger Granit. In der bedeutenden Höhe von nahezu
3400 m wurden hochalpine Pflanzenarten gefunden, deren Existenz durch
das verwitterte Gestein der Passumgebung, welches während des Tages
die Wärme stark absorbiert, ermöglicht wird. Eine Saxifraga mit kleinen, gold-
gelben Blüten klammerte sich an die Oberfläche der Felsen, und zwerghafte
Alsinen, I'"ritil]arien, und ein kaukasisches Carum nisteten in den Felsritzen.'")
Ismael Urussbiew^ war schon früher mit seinem Jäger in die links
von der Passeinsattlung sich erhebenden Felsen geklettert, um Steinböcken
nachzuspüren. Nach getroffener \'erabredung sollte er weiter unten am
Gletscher mit uns wieder zusammentreffen. Wir sahen uns jedoch nicht wieder.
*) Alsine imbricata MB., Carum caucasicum Boiss.. Fritillaria tenella MB., Heracleum
villosLim Fisch., Saxifraga flagellaris W., Saxifraga muscoides Vulf. f. compacta Engler.
Das N1';nskra-Tal
Im Abstiege verfolgten wir die in bedeutender Stt;ilheit nieder-
ziehenden und durch Schrunde zerrissenen Firnflächen nicht lange, sondern
suchten unsern Weg über terrassenförmige Absätze der rechten Talwandung.
Erst weiter unten stiegen wir dann auf das Eisgebiet des Gletschers. Der
Eisstrom, welchen ich Nenskra-Gletscher nannte, erfüllt den ganzen Talhinter-
grund. Der untere Teil des Gletschers war glatt und schlüpfrig, wenig von
Felsgeröll bedeckt. Sein Ende wurde um i i Uhr erreicht; es lag nach Baro-
metermessung in 2569 m Höhe (B. D.). Auf der Endmoräne wurden Gneise,
Glimmerschiefer und Pegmatite (darunter mit Cordierit gemengte) gesammelt.
Pfadlos wanderten wir durch das unbewohnte, mit Geröll und .Schutt
erfüllte Tal, welches, tief eingeschnitten, von hohen, nackten Wänden um-
schlossen ist. Zwischen den Gesteinstrümmern wucherte eine immer üjjpiger
werdende, hoch aufschiessende Vegetation, welche dieselben dem Blicke oft
imsichtbar machte und den Marsch ungemein erschwerte. Eine ganze Reihe
Kräuter erreicht eine ausserordentliche Höhe und grossblättrige Pflanzen
geben hier der Flora des Hochgebirges ein überraschendes Gepräge. Heiss
brannte die Sonne. Stunde um Stunde verfloss, und es zeigte sich kein
schattiger Ruhepunkt, kein Quellwasser, das Labung versprach.
Wir waren eine kurze Steilwelle des Talbodens abgestiegen, als
sich plötzlich da, wo das Nenskra-Tal einen längentalartigen Lauf zu nehmen
beginnt, ein weiter Blick hinaus durch die Talflucht und auf einige dort
erscheinende Schneegipfel im
.Scheiderücken zwischen Nenskra
und .Seken erschloss, der wie
eine Befreiung nach der langen
Wanderung durch das eng
umschlossene, aussichtslose Tal
wirkte.
Ich hatte eine photogra-
phische Aufnahme gemacht,
und da abge-
packt war, be-
schloss ich, hier
kurze Zeit zu
rasten und
meinen Reise-
gefährten und
Nenskra-Tal. einen Teil der
'V^"--
— 1 92 —
WlCHTICKKII ll(i|l|-,l< HlWAKS 1!KI BERCKAHRTICX IM KAUKASUS.
Trailer, die etwas zurlickg'eblieben waren, zu erwarten. l'nter dem
Schatten eines mächtigen Steinblocks lagerte ich mich zu kurzem
Schlummer, der jedoch nicht lange währte, da eine Art Stechfliegen und
Mücken, das erste Mal im Kaukasus, mir hart zusetzten. Später kamen
mein Reisegefährte und die Träger, und es wurde der Proviantsack hervor-
geholt. Der Rastplatz lag in etwa 2200 m (A. D.) Höhe, unfern eines sich
an der linken Talwand emporziehenden Grabens, durch welchen meine
Swanen aufsteigen wollten, um den Bergzug zu überschreiten, welcher
zwischen Nenskra und Nakra streicht.
Schon auf der Höhe des Dschiperpasses war es mir klar geworden,
dass, um in das Längenhochtal des Ingur zu gelangen, die Ueberschreitung
eines gewiss hohen Passes in der zwischen dem Nenskra- und Nakratale
streichenden Kette notwendig sei. Es war noch früh am Nachmittage und
daher selbstverständlich, dass das Nachtlager über der Talsohle aufgeschlagen
werden sollte, diesmal nicht nur, um dem Ziele des morgigen Tages näher
zu sein, sondern um den Moskito- und Fliegenschwärmen und auch den
vielleicht schädlichen Miasmen, welche die üppige Vegetation des Talbodens
zu bergen schien, zu entgehen. Aber, wie fast immer, kostete es mich
auch diesmal einen harten Kampf, um die Leute noch heute zu einem
weiteren Anstiege zu bewegen, und nur eiserne Energie konnte ihren Wider-
stand besiegen. Grundsätzlich schenkte ich, wie immer, auch diesmal all
den Vorstellungen der Leute, dass es keinen Lagerplatz weiter oben gebe,
kein Wasser, kein Holz, dass man erfrieren müsse, keinen Glauben. Ein
hohes Biwak ist bei allen grösseren Bergfahrten im Kaukasus von Wichtigkeit,
in höherem Masse als bei solchen in den heimischen Alpen. Die Unkenntnis des
Terrains, die erhöhten Anforderungen an die Zeit des Reisenden durch Aut-
nahmen oder andere wissenschaftliche Arbeiten, die grösseren Distanzen, welche
bei allen Wanderungen im kaukasischen Hochgebirge, sei es bei Ersteigung
der Hochgipfel, sei es bei Ueberschreitung der Gletscherpässe, zurückzulegen
sind, begründen dies, wozu sich noch der Umstand gesellt, dass im Kaukasus
auch bei schönem Wetter oft schon früh Höhenrauch und Nebel auftreten
und daher ein möglichst frühes Erreichen der Höhe erstrebt werden muss.
Endlich war eingepackt, die Lasten wurden geschultert. Bei meiner
Ankunft am Rastplatze hatte ich das Ouecksilberbarometer, das ich selbst
trug, neben mir an einen Block gelehnt. Als ich es jetzt aufnehmen wollte,
bemerkte ich sofort, dass seine Lage verändert worden war. Eine un-
angenehme Ahnung beschlich mich. Hastig öffnete ich das Futteral; ach —
in hellen Tropfen entrann demselben das glänzende Metall! Eine namen-
Dichy: Kaukasus. 13
— 193 —
MosKi'iosciiwÄKMK IM Nen.skka-La(;er.
lose Traurigkeit überfiel mich. Gehütet wie ein geliebtes Kind, waren auf
der ganzen Reise zu Wasser und zu Lande die Ouecksilberbarometer Gegen-
stände der ersten Fürsorge. Wir selbst bereiteten ihr Lager, und unsern
Begleitern wurden zuerst sie als ein noli me tangere ans Herz gelegt. Meist
mussten sie, die Diener der Wissenschaft, es sich gefallen lassen, als eine
.\rt Hüllenmaschine zu gelten, nur um Unberufene von ihnen fernzuhalten.
In meinen Armen hatte ich sie vor den unbarmherzigen .Stössen der russischen
Telega gehütet, sie zu Pferde und zu Fuss, über Fels und Eis heil und
unversehrt getragen, und immer hatte der helle Klang des an die Rühre
schlagenden Quecksilbers mein Ohr erfreut. Und jetzt musste durch eine
mir unbekannt gebliebene Ursache, Unvorsichtigkeit oder Neugierde eines
meiner Leute, mein bestes Instrument ein vorzeitiges Ende finden. Es währte
lange, bis der lebhafte Schmerz trauriger Ergebung Platz machte! Wir waren
in Asien, im Orient: es stand so geschrieben!
Am Abend hatten wir nach kurzem, aber steilem Aufstiege, der
manchen Schweisstropfen entlockte, in 2416 m (A. D.) Hühe eine Terrasse
an der Talwand erreicht. Es gab ebenen Raum für das Zelt, Wasser,
trockenes Strauchholz und auch einen sehr schönen Blick auf die Elbruss-
gipfel, welche über P'elswände zur Seite der schneeigen Hühe des Dschiper-
Passes lugten, zu welcher wir, den Nenskra-Glctscher entlang, emporsehen
konnten. Leider fehlten auch hier die INloskitoschwärme nicht, die den Auf-
enthalt im Breien zu einem qualvollen machten. Vermummt, um Kopl und
Hals Tücher geschlungen, verzehrten wir hastig das Abendessen, um rasch
in das Zelt zu kommen, welches wir sorgfältig geschlossen hielten. Schwere
Regentropfen schlugen in der Nacht an das Zeltdach. Dem schünen Tage
war ein rascher Umschlag des Wetters gefolgt.
17. .August. Am frühen Morgen hatte der Regen aufgeh(>rt. Ich
Hess das Lager abbrechen und wir alle arbeiteten, um rascher fortzukommen.
Als wir marschbereit waren, begann es wieder zu regnen. Dennoch
brachen wir auf, da ein längeres Zuwarten in dieser gänzlich unbewohnten
Gegend infolge des Mangels an Lebensmitteln, insbesondere für meine
swanetischen Träger, unmüglich gewesen wäre.
Wir .stiegen durch eine üde Steinregion steil empor. Nach einer
halben .Stunde gelangten wir auf ein kleines, von hohem, schneebedecktem
Gewände zirkusförmig umschlossenes, muldenfürmiges Plateau, dessen Rand
nur an der Seite unseres Anstieges offen war. Am Fusse des Bergrundes
lagen die Trümmermassen, welche herabgestürzt waren und vielleicht ein
einst hier befindliches .Seebecken auseefüllt hatten. Das B!nde eines steil
ÜBER DEN BASSA-PASS.
abfallenden Gletschers zieht von der Höhe nieder; es ist der T\]his eines
Kargletschers, eine jener Eisbildungen, welche in den kurzen, nicht zu eigent-
lichen Tälern entwickelten Mulden, die an den Bergrücken liegen, sich aus-
breiten. Das Gletscherentie lag in einer Höhe von beiläufig 2610 m (A. D.).
Die nahezu schneefreie Eisfläche des Gletschers, welche der Regen
glatt und schlüpfrig gemacht hatte, wurde betreten. In schwachem An-
stiege kamen wir schon nach 40 Minuten an die Firngrenze, die ich hier
mit 2744 ni (A. D.) mass.
Längst schon hatte sich der Regen mit Eiskörnern gemischt, die der
Wind uns gerade ins Gesicht trieb. Dann gab es wieder Pausen, in welchen
Schnee und Regen aufhörten und wallende, feuchte Nebel uns umhüllten.
Ein unangenehmes Gefühl der Kälte machte sich bei einer Lufttemperatur
von 2" Celsius, wahrscheinlich infolge der herrschenden F'euchtigkeit, geltend.
Wir gelangten, uns rechts wendend und das Firngebiet des Gletschers ver-
lassend, zuerst an einige Felspartien und dann über Schneehänge zu der
im Süden sich öffnenden Einsattlung. Um 9 Uhr waren wir auf der Höhe
des Bassa-Passes 3034 m (3125 m A. D.).'^')
Wir hatten kaum einige Schritte an den mit Geröll bedeckten
Schneehängen der Ostseite getan, als ein fürchterliches Unwetter losbrach.
Ueber die Abhänge und Grate des Gebirges brauste der vSturm und fegte
zischend den zu Körnern gefrorenen Schnee. Auf dieser Seite hatten wir
nur Schneefelder zu überschreiten, über welche wir hinabeilten. Nirgends
kam es an diesen steilen Abhängen zu Gletscherbildungen, eine Folge des
orographischen Auf bans derselben. Als tiefer unten der Schneefall aufhörte,
stürzte die Sintflut kaukasischen Regens auf uns nieder. Es währte jedoch
nicht lange; der gewitterartige Sturm und Regen hörte auf, die Wolken
wurden lichter, sie zerrissen, und blauer Himmel wurde sichtbar. F"reudig
betrachtete jetzt das Auge von einer Absatzstufe des wüsten Steingehänges,
an dem wir abstiegen, das zu Fü.ssen liegende, grüne Nakra-Tal, eine
tiefe, enge Urwaldschlucht. An seinem Ursprünge wird es breiter und
gletschererfüllt. Und über die Talflucht hinausblickend, erscheinen ferne,
blaue Bergreihen.
Die Talsohle wurde vor Mittag erreicht. Die Swanen sind hier zu
Hause. .Sie führten mich an eine Felsbalm, welche sich am Fusse hoher,
nahezu senkrechter Mauern befindet. Vor derselben breitet sich eine kleine
ebene Fläche aus, von dichtem Buschwerk umringt. Man erkennt sofort.
*) Von mir nach den Mitteilungen der micii begleitenden Swanen, welche die jenseits, ir
Nakra-Tale liegende Talstufe Uzchuat nannten, zuerst als Uzchuat-Pass bezeichnet.
Lackk im Nakka-Tai.e.
dass der ( )rt zum Lagcr|)latz gedient hat. Hier sollten auch wir unser
Laq'er aufschlagen, da, wie die Swanen behaupteten, es weiter unten im
Tale keinen hierzu geeigneten Ort gebe. Die Leute waren ermüdet und
ich nahm den X'orschlag an. Auch ein anderer Grund sprach dafür. Das
Unwetter hatte besonders unserm Gepäck arg zugesetzt, und es erschien
notwendig, es einer genauen Besichtigung zu unterziehen und das nass ge-
wordene zu trocknen. So wurde denn abgepackt und das Zelt aufgeschlagen.
Das Lager im Nakra - Tale lag
1943 m (A. D.) hoch. Die Bergbewohner
nannten die Gegend rundherum Uzchuat.
Bald herrschte geschäftiges Treiben. Am
glimmenden Feuer trockener Rhododen-
dronsträucher wurden Kleider, botanisches
Papier getrocknet, brodelte eine viel-
versprechende Erbswurstsuppe. Lojka,
der um seine Schätze besorgt war,
trocknete das PapierseinerPflanzenpressen,
ich kochte die Suppe, da auf dieser Reise
ich auch das Amt des Koches versehen
musste. Die gestrickte Biwakkappe, welche,
über Kopf und Hals gezogen, nur einen
runden Ausschnitt für das Gesicht offen
lässt, war jetzt, in eine Zipfelmütze ver-
wandelt, Lagerkappe. Statt des Rockes
trug ich die gestrickte Jacke, das Gardigan-
jacket, dazu Knickerbockers unddieleichten
Lagerschuhe, hi der Hand aber hielt ich
den Kochlöffel, und Lojka behauptete, es wäre interessant, diesen Anblick
zu verewigen, wenigstens für Personen, welche mich näher kennen, und die
gewiss, wie er versicherte, eine solche Szene für unmöglich halten würden.
Einige der Swanen, die, wie immer, schon längst alles aufgegessen
hatten, waren mit dem Backen ihres Brotes, dünner, runder, aus irgend
einer undefinierbaren Masse zusammengekneteter Scheiben, beschäftigt.
Andere sammelten trockene Gräser, um damit die Ledersäcke, welche ihnen
als P\issbekleiduiig dienten, auszustopfen. Unser Knjas jedoch unternahm
die ganze Zeit in seinen Kleidern zoologische Forschungsexpeditionen, deren
sichtbare Resultate mich in Erinnerung an vorjährige Erlebnisse beben
machten !
Vorberei t Uli K»-' n zum IJiucr.
DKK SlII.VKKliKDECKTE llAirTKAMM VOM XaKKA-TaL.
Das Nakra-Tal steigt im Norden zu den Höhen der kaukasischen
I Iau|)tkette ; es erweitert sich, die aus kristalh'nischen Gesteinen, f|uarz-
haltiyem Schiefer und porphyrischen Gneis-Graniten bestehenden Wände
werden felsig, nackt, und durch den wüsten Talboden schiesst der schäumende
Nakra-Bach. Links sieht man zwischen Berggehängen die Zunge eines
Gletscherstromes. Ueber demselben erhebt sich ein schöner, eisbedeckter
Gipfel. Zur Rechten dehnt sich in der Höhe ein weites Eisfeld aus, von
dem zerrissene Firnhänge niederziehen. Es ist dies das Gebiet des
Dongusorun-Passes, ein den Eingeborenen bekannter und von ihnen oft be-
nutzter Gletscherübergang, der 3199 m hoch in das jenseitige Dongusorun-
Tälchen und an den Bakssan führt. Talauswärts verfolgt der Blick die
kulissenförmigen Talwände, welche, in der Tiefe nahe zusammentretend, die
Windungen des Baches umschliessen, und trifft tier Talflucht quer vorliegende
Reihen von Bergketten, die schon dem Haupttale, dem Ingur, angehören.
20. August. Am folgen-
den Tage wanderten wir tal-
auswärts. Das IJebersetzen
des Baches mittels eines run-
den, glatten Baumstammes,
welcher über zwei riesige
Blöcke gelegt war und unter
welchem in ziemlicher Tiefe
der Bergstrom brauste, leitete
den Tag in etwas aufregen-
der Weise ein. Landschafdich
bietet das Tal wenig; die
Vegetation jedoch, mit welcher
es sich schmückt, der Wald,
der tiefer unten es umsteht,
nimmt den Wanderer gefangen.
Der W'eg folgte den He-
bungen und Senkungen der
Talsohle, trat dann hinaus auf
eine herrlich grüne, Ijlumen- Nakra-Tal.
bestandene Aue und führte zum Bache, der hier in etwa 1000 m Höhe
von Riesengräsern, weiss und blau blühenden Aconiten, Heracleen und
mannshohen Farnkräutern umstanden ist. .Schon höher oben waren unter
andern! Crocus Scharojani Rupr. , das hochaufgeschossene Colchicum spe-
Blick auf das Hochtal des Ingur.
ciosum Stev., Kirschlorbeer (Prunus laurocerasus L.) und Rosa Boissieri
Crep. in herrlicher Blütenentwicklung- zu sehen.*)
Viele Stunden lang wanderten wir dann im Walde, im kaukasischen
Urwalde hochstämniiger Buchen, Erlen und lüchen. Baumstämme lagen
in unentwirrbarem Chaos umher, das sie im krachenden Falle aufgebaut
hatten. An den gegenüberliegenden Talwänden .stehen in der Höhe Koni-
feren, prächtige, kerzengerade Tannenschäfte.
Wir verliessen den Lauf des Baches, der sein Bett zwischen ungang-
baren, waldbedeckten Steilwänden eingegraben hat, um über einen hohen
Bergriegel in das Hochtal des Ingur zu gelangen. Es war ein langer,
steiler Anstieg, immer durch denselben herrlichen Laubwald, in welchen
sich Birken mischen, wo hie und da Ahorn auftritt und dann höher oben
mächtige Nordmannstannen (Abies Nordmanniana) und Picea orientalis mit
ihrem grauen, plattigen Nadeldache die Herrschaft gewinnen.
Und als wir mit etwa 1760 m (A. D.) die Hohe erreicht hatten, da
lag wieder eine neue Welt vor uns. Zu unscrn Pässen dehnen sich weit
gegen Osten grünende Talschluchten und sich kreuzende Bergrücken aus.
Die Sonne steht tief; ihre schräg fallenden Strahlen vergolden gelbe Acker-
felder, welche mit grünen Wiesen wechseln, und beleuchten an den Berg-
lehnen kleine Hüttengruppen. Zwischen endlos verschlungenen Bergreihen,
von dichten Wäldern umstanden, sehen wir die Engschlucht des Ingur
gegen .Südwesten ziehen. Im Süden umrahmt die Leilakette das Ingur-
Hochtal; die mir vom vorigen Jahre bekannten, schön geformten Gipfel er-
heben sich in sanften Linien über die gletscherumflo.ssenen Hänge. Im
fernen Osten lassen sich durch den Schleier der sie umhüllenden Dünste
mächtige Berge in gewaltiger Erhebung, von welchen weithin leuchtendes
Eis glitzert, ahnen. In die dunkeln Wälder, in die Schluchten, die in die
Tiefe ziehen, dringen die Schatten des Abends. Nur in der Höhe bleibt
es noch lange hell, glüht es an den Schneefeldern der Leila.
Wir sind in Swanetienl
*) Im Nalcra-Tale sammelte Prof. Lojka die für den Kaukasus neue Gypsophila glandulosa,
eine Sileneart
1 n g u r t a 1 bei E z e r i .
XV. KAPITEL.
Wanderungen in Swanetien.
. . . bat rarely .ire inoimtaiDS Seen
in siuh combineil inajesty .'iiul grace
as heie
Cailyle.
Unser erstes Nachtlager in Swanetien schlugen wir etwas unterhalb
des Dorfes Laschchrasch, im Dorfe Taurar auf, welches auf einer etwa
1600 m (A. D.) hohen Bergterrasse liegt, welche unmittelbar zu dem tief
unten strömenden, von hier unsichtbaren Ingur abfällt. Der Pristaw von
Betscho war \on unserer bevorstehenden Ankunft unterrichtet und hatte in
Etwas entfernt von den Häusern des Dorfes liegt am Rande einer
ebenen, begrünten Fläche die Kirche, ein kleines steinernes Gebäude, an
welche aus Holz ein jetzt leerer Viehstall angebaut war. Auf der andern
Seite schlugen wir das Zelt auf. Eine Menge Leute, ich glaube die ganze
männliche Einwohnerschaft des Dorfes, gross und klein, umlagerte uns.
Der .Starschina, ein kleiner Mann mit einem dichten, schwarzen Vollbarte,
Zudringliche NEUCiiKRDK der Doreüewohxek.
die Kette der Gemeindevorsteher mit der INIedaille am Halse tragend, hatte
uns begrüsst. Die Zudringlichkeit und etwas geföhrliche Neugierde der
Leute — Laschchrasch steht im Rufe, die grössten Diebe Swanetiens zu
besitzen, was dort wohl etwas sagen will — kannte keine Grenzen. Wir
hatten dem Starschina unsere Papiere gezeigt, die Gegenstand eifriger Studien
und Uebersetzungen von selten des russisch sprechenden Gemeindeschreibers
von Pari, eines benachbarten Dorfes bildeten. Die Unterschrift und der
Neugierige in einem swaneüschen Uorfe.
Name des Generalgouverneurs von Kaukasien, des F"ürsten Dondukow-
Korsakow erregten Ausrufe des Staunens.
Sofort gab ich Auftrag, dass vier Pferde am frühen Morgen bereit
sein sollten. Der Starschina versicherte mich, dass er sofort Leute aus-
schicken werde, um nachts die Pferde von den Weideplätzen zu holen, dass
wir jedoch in Pari andere Pferde nehmen müssten. Da der Starschina von
Pari mit seinem Schreiber gerade anwesend waren, beauftragte ich die-
selben, die Pferde für 9 Uhr vormittags, der voraussichtlichen Zeit unseres
P^intreffens, bereit zu halten.
KÄ.MI'l K MIT rFKKIiETKEIBF,RN.
Endlich kam tue Nacht: die zudrinyHche Menge der Gaffer verlief
sich. Wir stapeUen unser Gepäck zwischen Zeh und Kirchenniauer auf
und Hessen bei demselben den Milizsoldaten mit seiner Berdanbüchse und
unsern Knjas laoern. Unsere scharf geladenen Revolver hatten wir
früher schon ostentativ zur Schau getragen.
2 2. August. Prachtvoll brach der Morgen an. Wir waren früh auf.
Mein Reisegefährte, der am Abend vorher Entdeckungsfahrten nach einem
( )fen gemacht hatte, um seine Pflanzen zu trocknen, setzte dieselben fort,
ich bezahlte die Leute, welche mit uns aus dem Bakssan-Tale gekommen
waren, und dann machten wir uns zur Abreise fertig. Um 5 Uhr schon
war das Gepäck, nunmehr für den Transport auf Pferden, in .Satteltaschen
und kaukasischen Sumchas verpackt, zum Laden fertig. Aber weder Pferde
noch .Starschina waren sichtbar. Dem Kosaken, der leider nur swaneti.sch
sprach — trotzdem aber meinen Unwillen, dass die Pferde nicht zur Stelle
waren, begriff — , gelang es, den Starschina herbeizuschaflen, nicht aber
die Pferde. Ich will mich kurz fassen. Ich bat, ich drängte, ich drohte.
Umsonst. Wieder hatte sich eine Menge Gafter zusammengefunden. Es
verging .Stunde um Stunde. Endlich kamen Pferde. Es gab einen Heiden-
lärm. Was ich demselben entnehmen konnte war, dass die Pferdebesitzer die
Werstzahl und die Beträge, welche der .Starschina festsetzte, nicht annehmen
wollten. Ich bat, die letzteren zu erhöhen. Nun begann das Beladen der
Pferde. Neue Streitigkeiten. Bald war dem einen das Pferd zu schwer
beladen, bald hatte der andere wieder zu wenig genommen. Dem einen
fehlte ein Packsattel, das Pferd des andern war für den Transport von
Lasten zu schwach. Der Starschina schien machtlos. Nun warfen die
Pferdeinhaber das Gepäck wieder auf die Erde und führten die Pferde
fort. Man denke sich dabei den Reisenden, der voll Ungeduld ist, vorwärts
zu kommen, um den schönen Pag — wie selten doch im Hochgebirge! —
auszunützen. Das Gepäck liegt auf dem Boden. Umschwärmt von einer
Menge schreiender, streitender, wilder Menschen steht der Reisende hilflos
da. Der angebliche Einfluss unseres Reisemarschalls, des swanetischen
Knjas, in .Swanetien, war nicht zu bemerken. Ich machte den Kosaken
auf seine Pflicht aufmerksam, mir beizustehen. PIr .scheint es herau.s-
zufühlen, dass er etwas tun müsse, und wie ich sehe, sucht er seine
Autorität geltend zu machen. Doch diese kennt der .Swane nicht,
und einer der Pferdetreiber fällt den Kosaken mit dem Knüttel an.
Einen Augenblick später ist das lange .Schwert gezückt, mit welchem
der Kosak auf den Swanen eindringt. Nun fallen ihm, der bleich vor
— 201 —
Dl-RClI DAS INGUR'IAI, NACH EZERI.
Erregung, Leute in den Arm. Der Szene folgte eine lange Pause — es
trat Ruhe ein.
Endlich gelang es dem Starschina, zwei Pferde zurückzubringen. Ein
zufallig durch Laschchrasch reitender Bakssantatare, der in I^iensten Ismael
Urussbiews steht und den wir von Urussbieh kennen, bietet uns sein Pferd
an. Vier der gestrigen Träger, welche noch bis Me.stia wandern, sind gewillt,
die vierte Pferdelast unter sich zu teik;n und bis Pari zu tragen, und so
reisen wir endlich, ich ersclu')[)ft vom langen Kampfe, vier Stunden später,
um 9 Uhr ab.
Der Weg, welchen wir von Taurar verfolgten, zieht über eine Reihe
der vom Norden niederziehenden Bergrippen, zwischen welchen die Bäche
sich tiefe Gräben erodiert haben, die zu steilen Anstiegen und zumeist noch
steileren Abstiegen zwangen. \'on einer eigentlichen Weganlage ist keine
Spur zu sehen. Die Pferde wurden oft nur mit grosser Mühe von den
Treibern vorwärts gebracht. Unzählige Male geriet hierbei tlie Ladung in
Unordnung, und das fortwährende Packen und Schnüren veranlasste ärgerliche
Aufenthalte.
hl rascher Aufeinanderfolge passieren wir die um einzelne Türme ge-
scharten Häusergruppen von Di)rfern, die auf Talterrassen, hoch über dem
entfernt in der Tiefe strömenden higur, liegen. Die Türme sind jedoch
hier im westlichen Abschnitte des Hochtales seltener als im mitderen und
im ostlichen Tale. Ueberall an den Hängen breiten sich grünende
Wiesen aus, unterbrochen von gelben PVuchtfeklern. Der Wald liegt höher,
nahe den Graten der Bergrücken. Die Bewohner der Dörfer waren meist
auf den Eeldern mit dem Einheimsen des Getreides beschäftigt. Entgegen
dem, was ich ein Jahr früher in Swanetien erfahren, als ein kalter regne-
rischer Sommer das Getreide auf den P'eldern erfrieren liess, schien dieses
lahr eine gute Ernte, die frülizeitig begonnen hatte, Ersatz zu bieten, hi
manchen Höfen sahen wir das Dreschen des Getreides in folgender Eorm ;
das Getreide wird auf die Erde gestreut und ein flaches Brett, welches
noch mit Steinen beschwert ist, wird von zwei (~)chsen im Kreise über das-
selbe gezogen. Ein der jüngsten .Swanengeneration angehörender Knabe
steht gewöhnlich auf dem Brett uml lenkt das Gefährt.
Gegen Mittag waren wir in Pari, in der Höhe von 1400 m (A. D.V
Die für 9 Uhr beorderten Pferde waren nicht da. Um 4 Uhr nachmittags,
als trotz Bitten und Drohungen noch immer keine Pferde kamen, zog ich
voraus, um vom Wege vielleicht noch einige Aufnahmen zu machen, meinen
Reisegefährten mit dem Gepäck zurückla.ssend.
Bki den Fürstex Dadischkiliax ix F.zeri.
Von der Höhe des hinter Pari aufsteigenden [^erorückens erlilickte
ich Ezeri, die nächste Ortschaft vor mir, malerisch am begrünten Talgehänge
gelegen. In einer Lücl<e der hinter Ezeri niederzielienden Bergwand erscheint
Uschba, ganz in Nebel gehüllt luul kaum seine Grösse verratend. Hohes Ge-
birge .steht im Osten; durch das Dunstgewölk, welches sich nach dem schwülen
Tage um dasselbe ballt, leuchten im Abendlichte glimmende Schneefelder.
Erst gegen 7 L'hr abends stiess mein Reisegefährte mit den Last-
pferden zu mir. Der Plan, heute noch Betscho zu erreichen, musste auf-
gegeben werden. Wir verbrachten die Nacht in Ezeri, im Hause des
Eürsten Dadischkilian.-') Tengis Dadischkilian, der Chef tlcr Familie, welche
über den westlichen Teil des Ingurhochtales — über das Dadischkilianische
Swanetien — eine gewisse Oberhoheit ausübt, war im Winter gestorben.
Einer der Söhne, der nachts von einer Reise heimkehrte, machte die
Honneiu's.
20. August. Wir waren spät zur Ruhe gekommen imd waren s|)ät
wach. Die Pferde warteten unser; doch gerne weilten wir noch eine Stunde
vor dem Hause des gastfreundlichen Fürsten imter prächtigen, hohen Bäumen,
in köstlicher, frischer Morgenluft. Die Höhe von Ezeri wurde mit i 590 m (A. D.)
bestimmt.
Man kommt nach einer Wanderung von zwei Stunden, zuletzt ziemlich
ansteigend, auf einen breiten Bergrücken, von welchem sich schon der Blick
auf das Gebiet von Betscho erschliesst, dessen W^ahrzeichen, die Uschba-
gipfel, nunmehr unmittelbar vor uns liegen. Wie sich an diesem herrlichen
Berge die Erhabenheit der .seine Umgebung beherrschenden Grös.se mit der
Zartheit seiner Konturlinien, mit der vollkommenen Harmonie seines Auf-
baues vereinigt! Neidisches Gewölk umwogte leider wieder die Gipfel, um
die.selben bald darauf ganz zu verhüllen. In der Ferne war die Tetnuld-
gruppe, von bläulichem Dufte umflossen, erschienen. Wir hielten unter dem
Schatten einer Gruppe hoher breitästiger Bäume Rast. In der Stille der
sonnigen Landschaft lauschte ich dem Rauschen der Baumkronen, dem
Rieseln der hellen W^asser.
In Betscho wurden wir vom Pristaw freundlich empfangen. Unser
Aufenthalt gestaltete sich unerwarteter W-^eise zu einem höchst angenehmen
und interessanten. Der Gouverneur von Kutais, General Alexei Michailowitsch
Smekalow, unter dessen Gouvernement Swanetien stand, sollte am nächsten
Tage in Betscho eintreffen. Schon am Abend brachte eine berittene Estafette
■■■■) .A.uch Dadisch-Kiliani.
— 203 —
ÜKR GOLVKKNKUR SWAXKTIKXS IN BlC'lSCIIO.
ein für mich bcstiiiiinlcs Schreiben, welches der General che Güte hatte,
mir zu senden. Am folgenden Nachmittage traten der General und seine
Begleiter ein: eine malerische Reitergruppe, in welcher die russischen
Uniformen mit den kaukasischen Trachten wechselten. Das .Streben, die
Verhältnisse der seiner Administration unterworfenen Gebiete kennen zu
lernen, war es, welches den Gouverneur veranlasste, die beschwerliche
Reise nach dem berüchtigten Swanetien zu unternehmen. Eine .Schule in
Betscho, die erste in Swanetien, sollte errichtet und ein Kreisarzt dorthin
beordert werden. Die Rückreise sollte durch die Ingurschlucht genommen
werden, um die Möglichkeit der Erbauung einer Strasse durch dieselbe zu
studieren. Einer der Sekretäre des Gouverneurs war mit der Erstellung
eines Zensus von .Swanetien beschäftigt. in tler Begleitung des Generals
befand sich auch Oberst Rodzewitsch, der Bezirkschef von Letschgum, in
dessen gastfreundlichem Hause in Zageri ich im X'orjahre eine herzliche
Aufnahme gefunden hatte. Es tat wohl, nach langer Zeit wieder in
gebildeter Gesellschaft eine lang entbehrte Konversation führen zu können.
Allerdings wurde hierdurch den tür Betscho [irojektierten Arbeiten manche
kostbare .Stunde entzogen, und bis weit nach Mitternacht währte oft die
wohlbesetzte Tafel. Auch einige einheimische Eürsten, zwei Dadischkilian
und ein mingrelischer Fürst, nahmen an der Tatel teil. Nach georgischer
Sitte wachte ein gewählter »Tolombasch« über das Leeren der Gläser beim
Zutrinken nach gewissen Regeln, die ich leider vergass; Trinksprüche folgten
rasch; die mir geltenden Hess ich natürlich nicht unerwidert, mich des besten
Russisch bedienend, dessen ich fähig war, und oft ertönte fröhlicher Gesang
der Tafelrunde. Meine Beobachtungen Hessen mich auch diesmal zwei
Tatsachen klar wahrnehmen: erstens, dass die Russen sich ihrer zivilisa-
torischen Aufgabe bewusst und bestrebt sind, dieselbe im Bereiche des
für sie Möglichen zu lösen, und zweitens, dass sie einen engen Anschluss
an die ihnen unterworfenen Völkerschaften suchen und ihre .Sympathie zu
erwerben trachten.
Das Wetter war während der ganzen Zeit unseres Aufenthalts in
Betscho prachtvoll gewesen. Der Talschluss, welcher aus grünem, bach-
durchflossenem Wiesengelände zu waldbedecktem Gehänge sich hebt, über
welches sich das granitische, schneedurchfurchte Herggerüst des Uschba auf-
schwingt, ist berückend schön, und die märchenhaft kühne F"orm des Gipfels
nehmen Auge und Sinn des Beschauers gefangen. Unter den verschiedenen
Lichteftekten bieten sich inuuer neue Bilder: wenn morgens das klare Licht
in den Felswänden neue Details hervorzaubert, oder wenn die Strahlen der
— 204 —
USCHBA
Hkrrlk'ue Landschaft im Mulciiara-Tal.
Abendsonne die Schneefiirchen der höchsten Zackenkrone vergoldet. Dunkle
Nebelmassen umhüllten oft tagsüber des Berges Scheitel, und dann schien
das an seinen Flanken abbrechende Eisfeld aus mystischen Höhen zu dringen.
In monderleuchteter Nacht sahen wir Uschba: lichte Schleier umspielten die
graziöse Gestalt, welche aus ferner Höhe auf das stille Talgelände nieder-
blickt, ein Bild vollendeter Schönheit, voll eigentümlichen Zaubers, wie es
die Natur in ihren Schöpfungen hervorbringt, aber weder Worte, noch der
Stift wiedergeben können.
Am dritten Tage nach unserer Ankunft, am 23. August, verliessen
wir, am gleichen Tage wie der Gouverneur, aber in entgegengesetzter
Richtung, Betscho. Als wir schieden, waren es aufrichtige Gefühle des
Dankes, denen ich Worte lieh, für all die Freundlichkeit, welche General
Smekalow sowie die ihn begleitenden Herren uns erwiesen hatten.
Nachdem wir den aus Ouarzschiefer bestehenden Rücken, welcher
die westliche Talwand Betschos bildet, durch einen lichten Wald von Buchen,
Eichen und ein Gehölz von Espen und Hasel wandernd, überschritten
hatten, stiegen wir unter glühender Sonne nach Latal hinab, wo wir unter
derselben Linde wie im Vorjahre Rast machten. Unter den Dorfbewohnern
erkannten mich einige sofort wieder.
Wir zogen talaufwärts im nördlichen Ouellbezirk des Ingur, der
Mulchara entlang. Einen immerwährenden Wechsel prachtvoller Land-
schaften bot diese Wanderung. Hatten wir im Vorjahre unter der Ungunst
des schlechten Wetters nur zum Teil die Schönheit derselben würdigen
können, so kam sie diesmal voll zur Geltung. Auf hohen Talterrassen
liegen die turmbewachten Dörfer der Swanen. Vom Norden ziehen zwischen
hohen Bergrippen enge wilde .Schluchten hernieder. Ihre Bäche haben tiefe
Furchen in eine Zone alter Tonschiefer eingerissen. Durch diese Erosions-
gräben, über die mit Gebüsch bedeckten Bergrippen, führt der Weg.
Gegenüber, an der Leilakette, liegen stille dunkle Waldtäler. In der oft
hügeligen, coupierten Talsohle wechseln blassgrüne Saatfelder mit blumen-
geschmückten Auen. Es sind lachende Bilder südlicher Natur, es weht ein
lebenswarmer Hauch, es blüht eine lebhaft gefärbte, in vielen Lagen üppige
Flora in dieser Tallandschaft, indes in der Höhe der sie umschliessenden
Berge die eisumhüllten Gipfel, die weiten Firnfelder, in kalter, nordischer
Schönheit erglänzen.
In Mestia war unser Marsch unliebsam unterbrochen worden. Kaum
vor der Gemeindekanzlei dieses Dorfes angelangt, hatten die Swanen die
Lasten von den Tragtieren gelöst, auf den Boden geworfen und sich ge-
— 205 —
In der Kanzeli.aria von Mulach.
weigert, weiterzugehen. L'nter den Au.spizien des Pristaws, während der
An\ve.senheit de.s Gouverneurs, hatten sich die Leute leicht bereit gefunden,
uns einige Tage auf unsern Kreuzzügen durch Swanetien zu begleiten,
letzt wollte der eine nur bis Mestia gedungen sein, der andere mit dem
Weg bis Mestia, etwa t,\-^ Stunden, einen Tagesmarsch geleistet haben und
das Pferd eines dritten sollte lahm geworden sein. Es war später Nach-
mittag. Auf dem freien Felde vor dem Gemeindehause von Mestia, dessen
Häuser h()hcr oben am Hange liegen, war das Gepäck abgeworfen, die
Pferde verlaufen. Unser Reisemarschall, Rusteni Chan, der Prinz, war un-
sichtbar geworden; wie es hiess, war er auf der Suche nach seinem eigenen
Pferde, einem Wundertier, von dem er uns schon während der ganzen Reise
erzählt hatte und das — Reste einstiger Glorie — in Me.stia sich befinden
sollte; unser Kosak aber, ein etwas russisch sprechender swanetischer Miliz-
soldat, Namens Mirab, der uns in Betscho zur Begleitung zugeteilt worden
war, zeigte schon jetzt, dass auf ihn wenig Verlass sei. Kostbare Zeit
ging mit Unterhandlungen verloren. Es wurde Abend, bis wir nach langem
Kam])fe endlich unter endlosem Geschrei und Lärm aufbrechen konnten.
Es wäre bei so vorgerückter Stunde, insbesondere im Hinblick auf meine
photographischen Arbeiten, angezeigter gewesen, in Mestia zu übernachten,
aber ich konnte dies nicht mehr, wollte ich nicht eine für später gefähr-
liche Nachgiebigkeit zeigen.
Die strahlende P^irninramide des Tetnuld mit ihrer eisigen Umgebung
beherrscht im Osten den Weg. Die Spitzen, am Tage durch schwere
Wolken verhüllt, erschienen am lichten Abendhimmel, als wir den Berg-
rücken zwischen Mestia und Mulach überstiegen. Auch Uschba wurde im
Rückblick sichtbar. Von seinen Planken und seinen Nebengipfeln dringen
Eisströme in die Ouerschluchten, welche sich bei Mestia öffnen.
Wir kamen in später Nacht in die erst jüngst erbaute, einsam
liegende Kanzellaria*) der Genossenschaften Mulach und Muschal. In der
offenen F"euerstelle des ersten Raumes loderte bald ein mächtiges P'euer.
Die Swanen wurden wieder gute Kerle, Pferdetreiber und Träger gingen
aus und ein, machten sich geschäftig, halfen mit. Wir hatten von Betscho
ein -Schaf mitgenommen, das im Kessel brodelte und von dem sie einen
Teil erhofften. Im zweiten Gemache, aut breiten, längs der Wand lauten-
den Holzbänken, schlugen wir unser Nachtlager auf. Wenn auch weniger
poetisch als das Zeltbiwak, ist di(,' Unterkunft unter festem Dache, ins-
*| Russisches Wort für Gemeindehaus i Dorfkanzlei).
Ansicht vom Wege nach Adisc-h.
besondere bei spcäter Ankunft, wie es heute der ball war, eine grosse
Bequemlichkeit.
Am folgenden Taije, dem 24. August, überstiegen wir, zum Teil mit
andern Pferdetreibern, den Scheiderücken, welcher zwischen dem nördlichen
und südlichen Ouellbe/irke des Ingur streicht, nonliistlich vom Ugür-Pass,
den ich im Vorjahre, am Wege zum Latpari-Pass, überschritten hatte. Von
der Höhe bot sich ein herrlicher Blick auf das sonnenbeleuchtete, von hellen
Uschlja and Tschatu in-Tau.
( )rtschaften belebte, grüne Tal der Ahilchara. Gerade gegenüber dringt
vom Hauptkamme, der in zackigen Felsgipfeln aufstrebt, der Twiber-
Gletscher in eine enge Ouerschlucht. bn Talschluss zieht vom Gebiete
des Tetnuld der Zanner- Gletscher. Ueber das ganze Tal herrscht der
Doppelgipfel des Llschba. An ihn reiht sich der mehrzackige Bau des
Tschatuin -Tau (4363 m) und die Felskette, welche die Firnreviere des
Tschalaat und Leksyr-Gletschers umrandet. Bis auf die Höhe des in etwa
2000 m (A. D.) Höhe liegenden üeberganges reicht herrlicher Wald, dessen
207 —
Der lüsKAi.L DES Anisen -Gletschers.
Reichtum an Haumformen wechselnde l'arbentinten in denselben mischt.
Jenseits blickt man nach den Tiefen, welche der südliche Ouellstrom des
Ingur durchrauscht, überragt von dem östlichen Kammzuge der Leilakette.
Auf der Höhe des Bergrückens, auf schöner Alpenwiese, schlugen
wir das Zelt auf Der Abend war wunderbar. Bei Sonnenuntergang be-
gann sich der Nebelschleier, der die Berge umhüllt hatte, zu lösen, fiel und
enthüllte langsam die Firngipfel, die P>lszinnen, die klar und rein in den
kalten Abendhimmel tauchten.
Als ich mit Tagesanbruch des 25. August aus dem Zelte trat, wallten
Nebel in den Tälern, aus welchen die Bergspitzen wie Klippen aus der See
ragten. Langsam vollzog sich der Uebergang von der fahlen Helle der
Nachtgestirne, von der Morgendämmerung bis zum leben.svollen, farben-
reichen Lichte der siegreichen Tagesleuchte. In Gold und Rosa spielten
die aufsteigenden, zerfliessenden, durchsichtigen Nebelschleier, und unter
diesen begannen, einer fata morgana gleich, die Weiler und Türme, die
dunkeln Wälder, die grünen Matten und die Rechtecke der reifen, gelb-
grünen Saatfelder im paradiesischen Mulchara-Tale zu erscheinen. Das
Licht erhellt die in der Höhe, oberhalb Mestia, zwischen finsterer Wandung
sanft auslaufenden grossen Eisströme, und über den vorliegenden Bergrücken
erhebt Uschba in herrschender Grösse sein doppelgipfliges Haupt.
Ein ziemlich steiler Abstieg brachte uns an den Bach untl bald darauf
zu den armseligen Steinhütten des Dorfes Adisch, in der Höhe von 2040 m.
Wir stiegen im öden, waldlosen, in alte Tonschiefer gesenkten Tälchen an
und gewannen plötzlich den Anblick des Gletschers, der dasselbe schliesst.
Lieber den steilen Abfall seines Bettes werfen sich die Eismassen des Adisch-
Gletschers in die Tiefe, ein Gletscherfall, wie er selbst in den Alpen kaum
seinesgleichen findet, zerrissen und zerschrundet. Die Gletscherzunge,
gleichfalls zerklüftet, breitet sich fächerförmig aus und erinnert an den
unteren Teil des Rhone- Gletschers in den Schweizer Alpen, üestlich flan-
kieren den Gletscher die zum Adisch-Gipfel gehörenden Felswände, und
westlich erheben sich die in der firnbedeckten Pyramide des Tetnuld aus-
gipfelnden Bergmauern.
Eine ebene, mit Geröll bedeckte und von kleinen Bächen durch-
zogene Fläche breitet sich vor dem Gletscher aus. Das Ende desselben
dringt bis zu 2280 m (2272 m A. D.) herab. Die alten Glazialschutt-
terrassen im Adisch-Tale zeigen, dass der Gletscher einst das ganze Tal
durchflutete. Unter den granitischen Gesteinen der Stirnmoräne machte sich
ein besonders schöner P'elsit bemerkbar. Nahe am Gletscherende be-
— 208 —
Alpine Flora am AniscH-Gr.KTSciiKR.
zeichnete ich einzelne grosse Blöcke als Signa][)unkte mit roter Oelfarbe,
deren Entfernung vom Eise mittels Messbancles gemessen wurde. Auch eine
Mauer wurde errichtet und in gleicher Weise gemessen. Die Entfernung
\om äussersten Punkte, den die Gletscherzunge erreichte, bis zu jenem
1 'unkte des eisfreien Terrains, wo wieder die ersten Vorposten zusammen-
hängender Vegetation in Form von Sträuchern sichtbar werden, betrug
96 m. Photograi)hien des Gletscherabsturzes, der Zunge des Gletschers und
des eisfrei gewordenen Terrains wurden aufgenommen.
Eisfall und Zunge des Adisch-Gle tschers.
Wir stiegen am linken Ufer des Gletschers aufwärts. Zwischen
grossen Platten kristallinischen Schiefers wuchert niedriges Birkengebüsch,
höher oben sind die Hänge mit dichten, dunkeln Rhododendron-Sträuchern
bedeckt.
Eine reiche botanische Ausbeute wurde an diesem Tage des Sammlers
Teil.*) Auf den Alpenmatten, bis an den Rand des mächtigen Eisstromes,
woben Repräsentanten der Hochalpenflora einen bunten Teppich, und tiefer
unten, auf den Talwiesen, zeigten in günstiger Sonnenlage die schönsten, der
*) Anthemis rigescens MB., Betonica grandiflora Willd., Cerastium purpurascens Adams.,
Chamaemelum caucasicum Willd., Cirsium munitum MB. und obvallatum DC, Erigeron pulchellus
(Willd.) DC. in einer neuen Var. polycephalos S. et L., Juncus alpinus, Phleum alpinum L , Piimula
auriculata Lam., Silene saxatilis Sims., Thesium alpinum I,., Trifolium (ambiquum MB., canescens
Willd., rytidosemium Boiss.), Valeriana allia riaefolia Vahl. u. a.
Vichy. Kaukasus. l'l
— 209 —
Das CiiAi.n?:-TAL und die Oiiiu.sciii.urHT des Ixgur.
subalpinen Region ange-
hörenden Blutenpflanzen
eine vielgestaltige Blätter-
fülle und hoch aufstrebende
Entwicklung. Im Adisch-
Tale entdeckte Prof. Lojka
/ eine neue Art, welche Prof.
Sommier und Dr. Levier
als Verbascum Dech\anum bestimmten,
und in der Nähe von Muschal Pyre-
thrum glanduliferum S. et L. nov sp.
unicum.*)
Eine kurze Strecke unterhalb des
Gletscherendes stiegen wir zuerst durch
ein kleines Gehölz, dann über Grashänge
an der orographi.sch linken Talseite auf-
wärts, im Anfange ohne jede Wegspur,
bis wir einen Pfad erreichten, der in Kehren sich
an dem Bergrücken emporwindet, der das Adisch-
Tälchen von dem Chalde - Tale trennt. Ein
stürmischer Südwest empfing uns auf der Höhe
und trieb wallende Nebel vor sich her, die für
Verbascum Dechyanum . i i- i i i ••it.. r^-
AuQfenblicke auch uns umhüllten. Uie zu unsern
So mm. et Lev. nov. sp. "^
Flüssen liegende, vom Chaldetschala durchströmte
Talschlucht mündet bei Kai, wo wir im Vorjahre, auf unserm Wege nach
dem Latpari-Pass, vorbeigekommen waren, in das Ingur-Tal. Hinter Kai,
bei der Hüttengruppe von Uschkül verlässt der Ingur die Form des Längen-
tales, welche er in seinem Laufe durch Swanetien bis zur Einmündung des
Nakra -Tales eingehalten hat, und sein kurzer, oberster Ouellarm zieht
nahezu senkrecht zur Hauptkette.
In das Chalde -Tal senkt sich der grosse Chalde - Gletscher, von
mehreren Zuflüssen gebildet, die den Firnfeldern an der südlichen Ab-
dachung der Dschanga und der Schchara entspringen, bis zu 2460 m. Die
Hauptquellen des Ingur entströmen den im Hintergrunde der Talschlucht
oberhalb Uschkül sich ausbreitenden Gletschern, dem an den südösdichen
Flanken der Schchara entströmenden Schchara- Gletscher und dem Ingur-
Gletscher, den die Firnreservoire an den Abhängen des Nuamquam nähren.
*) Siehe Bd. III.
— 210 —
Aussicht vom BKRCRi'cKEN zwischen Adisch und Chalde.
Ueber den oben sich weitenden und von den Eismassen dieser
Gletscher erfüllten Tälern von Adisch, Chalde und Uschkül erhebt sich der
Hauptkamm von der Gestola bis zum Nuamquam in einer einzigen, steil ab-
stürzenden Eismauer, welche die Gipfel des Katuin-Tau, der Dschanga und
der Schchara überragen. Wie vom Latpari-Pass, aber bedeutend näher ge-
rückt und damit seine Grössenverhältnisse, die Details seiner Felsarchitektur
und ihrer Schneebedeckung mehr zur Geltung bringend, stellt sich dieses
Teilstück der kaukasischen Hauptkette in seiner ganzen Erhabenheit dem
Der Chalde-Gletschcr.
Staunenden Bergfahrer dar. Die Südfassade des Monte-Rosa über Macugnaga,
ohne jede Einbuchtung, in einer geraden, vier- bis fünffach längeren Aus-
dehnung, nahezu 3000 m über den begrünten Hügelzügen sich erhebend,
könnte einen vergleichenden Massstab für die Grösse und den steilen Auf-
bau dieses Bergwalles geben. Aber im Kaukasus Hegt mehr Schnee in den
höchsten, die Alpen überragenden Regionen, und auch an den steilsten
Felsabstürzen dieser Berge haften Platten gefrorenen P^irns, deckt Schnee
und Plis die .Stufen und Absätze dieser abbrechenden Mauern.
Es muss bei klarem Wetter ein überwältigend grossartiger Anblick
sein, der sich von dem Bergrücken zwischen Adisch und Chalde dem glück-
Rückweg nach Ml'schal.
liehen Wanderer eröflnet, wenn ilas trunkene Auge von dem gigantischen
Bergwall Schchara-Dschanga sich dem Eisfall des Adisch-Gletschers zuwendet
und an der einzig schönen Firnpyramide des Tetnuld vorbei das Gewirre
^'on Bergen und Tälern überfliegt, das sich im Westen unter der Herrschaft
von Uschba und der Leilakette entrollt. Uns verhüllte dichter Höhenrauch
die Aussicht gegen Westen, und nur die unmittelbar vor uns sich erhebende
Hauptkette trat, wenn der Sturm durch die Wolken fuhr, aus dem Nebel-
wallen. Dann schnitten die eisigen Gipfel, die scharfen Schneiden der
hrnbeladenen Felskämme in einen reinen, tiefblauen Himmel und schufen
herrliche Kontraste zwischen dem Weiss des Schnees, dem dunkeln Fels,
dem düsteren Grau der W^olken und Nebel und dem stählernen Blau des
birmaments.
Im Rückwege zogen wir wieder durch das Dorl AiJisch, ohne einem
sterblichen Wesen zu begegnen. Wie au.sgestorben lagen die elenden
Hütten da, deren Bewohner als berüchtigte Räuber bekannt sind. Abends
waren wir wieder im Mulchara -Tal, wo wir nach Muschal wanderten und
dort, wie im Vorjahre, beim Geistlichen Margiani einkehrten.
Gentiana iJrchyana, Som. et Le\
Der Twiber-Gletsc her.
XVI. KAPITEL.
Von Swanetien über den Twiber-Pass nach dem
Tschegem-Tale.
«las gehcimiüsvollc Swanien
mit NOiin-n in uni;asilitln iii mul piiniili\'cm /ustainie beharrentlen Bewolmeru —
uaiiintit von ciuei niajf'stütischt-n GlutsiKerwult, die bisher noch keiues Forschers
l'"uss l.ietreten ... i , • l n ■ r
Al)ichs Briefe.
Auf der Höhe des mittleren swanetischen Gebirgszuges hatten wir
eine Uebersicht über die nach Swanetien ziehende Abdachung der kau-
kasischen Hauptkette gewonnen, über welche jetzt, dem Reiseplane gemäss,
ein Uebergang nach dem nördlich der Hauptkette liegenden Ouertale des
Tschegem ausgeführt werden sollte. Wir sahen im obersten Teile des Tales
der Mulchara zwei bedeutende Gletscher in enge Ouerschluchten bis in
die Waldzone hinabdringen; im Nordosten, in der Ecke des TaLschlusses,
von den Manken des Tetnuld-Massivs den Zanner-Gletscher und westlich
davon den I'wiber-Gletscher. Durch das Gebiet des Twiber-GIetschers sollte
der Weg nach dem Hauptkamme genommen werden.
Ich war mir der Schwierigkeit der Aufgabe bewusst, die Svvanen zu
bewegen, diesen von mir geplanten Uebergang zu unternehmen und mit
ihnen in ihier Heimat ein bindendes Abkommen als Träger zu ti-efien.
213 —
Das MLii.ciiARA-T.\L ist kin reichks kkra'Iischks Terrain.
Nun wurde allerdings unserm Reisemarschall, dem swanetischen Knjas,
schon in Urussbieh als Hauptaufgabe die Heschaffung einer genügenden
Anzahl von Trägern für die LIeberschreitung der Hauptkette übertragen.
Ich schickte demzufcjlge schon einen Tag früher Rüstern Chan nach seinem
Heimatdorfe Mestia, damit er dort Träger werbe und mit diesen am frühtMi
Morgen in Muschal erscheine.
Spät erst kam Rüstern mit einigen Männern ; als ich ihre immer
steigenden F"orderungen bewilligt hatte, erklärten sie, über den Twiber-
Gletscher überhaupt nicht gehen zu wollen, sondern den Betscho- oder den
Dongusorun-Pass im Auge gehabt zu haben. Als ich dann Rustem Chan
seine Ohnmacht und seine Versprechungen vorhielt, wollte auch er nicht
mehr die Reise fortsetzen und verlangte drohend den ihm erst nach Be-
endigung derselben gebührenden Lohn. Jetzt versprach Margiani, der
Cieistliche, angespornt, wie es scheint, durch die hohe Summe, welche wir
schon den Leuten von Mestia zugesagt hatten, uns Männer von Muschal
zu beschaffen. Man erlasse mir die Schilderung des .Stunden währenden
Kampfes, der nötig war, um mit den Leuten ein Abkommen zu treffen.
Unser swanetischer Kosak, Mirab, den riesigen Lärm überschreiend, er-
schwerte nur noch die X'^erhandlungen : luid als alles zur allgemeinen Zu-
friedenheit festgesetzt war, welche Arbeit kostete es noch, bis für zehn
Mann gleich schwer wiegende Lasten geordnet waren imd bis diese ver-
teilt wurden, was nicht ohne endlose Proteste und unzählige Abänderungen
gelang. Kndlich war ein Teil der Träger reisefertig, die andern mn.s-sten
noch Brot für die Reise backen oder Leder für ihre Bundsandalen
schneiden.
Gegen Mittag zogen wir aus. Der Himmel war umwölkt. BaUl trat
ein leiser Regenschauer auf Ich hätte umkehren sollen, allein nach dem
stürmischen \'ormittage wollte ich nichts miversucht lassen, imi nur einer
Wiederholung ähnlicher Szenen zu entgehen, üeberdies hiess es, dass in
der Nähe vom Gletscherende eine Steinhütte bestehe, wo man .Schutz vor
eintretendem Unwetter finden könne.
Wir waren im Talboden eine Strecke weit gewandert, bis wir
dort, wo vom Norden der Twiber-Bach aus enger, unzugänglicher Schlucht
hervorbricht, an einem steilwandigen Bollwerke, durch ein aus Buchen,
Birken, Pichten und wildem Buschwerk bestehendes Gehölz emporzusteigen
begannen. Alte, bis auf ihren Rücken jetzt schon begrünte Moränenwälle
sind vor der Twiber-Schlucht angehäuft. Das Hochtal der Mulchara ist
ein reiches erratisches Terrain. Die Gletscher im Hintergrunde, der Zanner-,
— 214 —
La(;kr in der Twiber-Schi.ucht. — Un'wkitkr.
Twiber- uml die Gletscher der Mestiaschluchten, sind weit in dasselbe ge-
drungen, haben ihre Moränen dort abgelagert und das geologische Tal-
gerippe mit grossen Massen Glazialschutts bedeckt, Beweise für die mächtige
Ausdehnung, welche die Gletscher des Mulcharatales zu Beginn und während
eines Teiles der Ouartärepoche besassen. Wo in der Twiber-Schlucht die
Tonschiefer eine Zone von Glimmerschiefer unterteufen, zeigen die steilen
Wände bis hoch hinauf polierte Felsen.
Immer drohender hatte sich während unserer Wanderung das Wetter
gestaltet. Kalte, feuchte Nebel kamen vom Norden und erfüllten die
Schlucht. Als wir auf eine unfern vom Gletscherende liegende, mit Blöcken
bedeckte, kurzo-rasigfe Fläche g-elano-ten, begann es heftie zu reenen. Hier,
nach meiner Messung in einer Höhe von 20S6 m (A. D.), sollte der Lager-
platz sein. Eine kleine Enttäuschung wartete unser; ein hoher, etwas über-
hängender Felsblock wurde von den Swanen als das Schutz und Obdach
bietende Haus bezeichnet, von dem sie immer gesprochen hatten.
In grösster Eile wurde das Zelt aufgeschlagen, was nur schwer
und schlecht gelang. Der Regen wurde zum Wolkenbruch. Ein Teil des
Gepäcks wurde unter dem Stein geborgen, das andere mit Gummitüchern
zugedeckt. Ein kleines Dach, aus Baumästen und Ruten zusammengefügt,
schirmte einen kleinen Raum zwischen dem Steinblock und einer niedrigen,
aus geschichteten Steinen errichteten Mauer. Dort lagen wir zusammen-
gekauert. Wir zündeten ein Feuer an, um das Nachtessen zu bereiten.
Der Rauch war unerträglich. Der Regen drang durch das Rutendach. Es
wurde Nacht. Der Donner rollte, der Blitz zuckte, in .Strömen fiel der
Regen. Schon stand der kleine, überdachte Raum unter Wasser und in
der Steinhöhle hatten die Swanen kein Plätzchen frei gelassen. Wir mussten
ins Zelt, aber die Zeltwände waren schlecht gespannt und schon war an
einzelnen Stellen Wasser ins Innere gedrungen. Die Schlafsäcke waren je-
doch unter den Decktüchern ziemlich trocken geblieben. Wir warfen sie
ins Zelt, durch welches jetzt auch von oben ein schwacher Regenschauer
drang. Man lag im Wasser, wo eben Wasser stand.
Die ganze Nacht dauerte der wolkenbruchartige Regen — ein des
Kaukasus würdiger, ein asiatischer Regen, immer in Begleitung von Donner
und Blitz. Auch die Kälte hatte stetig zugenommen. Und doch glaube
ich, durchnässt bis auf die Haut und frierend, war ich längere Zeit ein-
geschlummert. Mit der Dämmerung des anbrechenden Tages erhoben wir
uns, um so rasch als möglich das Lager abzubrechen und talabwärts
zu fliehen.
DlK SWANKN WEKJKRN SICH, DEN TWIISKR-PASS ZU ÜBERSCHREITEN.
Im Reyen kamen wir am \^)rmittaue iiachMuschal. Unsere Sachen waren
in einem greulichen Zustande — nur die photographischen Platten und die
Pflanzen waren gerettet. Noch nach tagelang währendem Trocknen in der
Sonne und am heuer blieb vieles feucht. Hatten wir Zeit gehabt, das
Zelt fest zu spannen und auch die Hodenfläche unter demselben in Ordnung
zu bringen, wir wären bei so heftigem, lange andauerden Regen vielleicht
nicht ganz trocken geblieben, jedoch eine so elende Nacht, wie die am
'Pwiber-Gletscher durchlebte, wäre uns erspart geblieben.
Die Leute tonlerten in Muschal einen Teil ihrer Bezahlung und als
ihnen bedeutet wurde, dass der Pjetrag ihnen beim Aiuljruche am nächsten
schönen Tage ausbezahlt werden würde, erklärten sie, überhaupt nicht mehr
den Uebergang machen zu wollen. Auch andere Leute waren nicht auf-
zutreiben. Rüstern Chan und Mirab erschwerten nur noch die Lage, welche
eine prekäre wurde. Wir waren in einer Sackgasse. Nur ein einziger
Ausweg stand uns offen, der Weg gegen Süden über den schon im Vor-
jahre überschrittenen, bekannten Latpari-Pass. Aber nicht nur, dass ich um
jeden Preis den Twiber-Gletscher, den Uebergang und die jenseits liegende,
bis jetzt unbesuchte Bergwelt des obersten Tschegem-Tales kennen lernen
wollte, sondern auch ein Teil unseres Reisegepäcks war an der Xordseite
des Gebirges zurückgeblieben, und den Latpariweg einschlagend, wäre eine
Reise von etwa 12 bis 14 Tagen nötig gewesen, um dorthin zu gelangen.
In dieser Not war es eine freudige Nachricht, als ich am nächsten
Tage erfuhr, dass Oberst Rodsewitsch, der den Gouverneur Smekalow nur
bis zur Ingurschlucht begleitet hatte, auf der Rückreise über den Latpari-
Pass begriffen, am Nachmittage in Muschal erwartet werde. Da es trotz-
dem ungewiss war, ob Herr Rodsewitsch Muschal berühren werde, schickte
ich ihm einen Boten mit einem Briefe entgegen, in welchem ich ihm meine
Lage mitteilte. Am Nachmittage hatte ich die Freude, Herrn Rodsewitsch
in Muschal zu begrüssen. Seine Befehle, insbesondere der Mirab gegebene
Auftrag, uns nicht nur bis zum Lager am Twiber-Gletscher, wie früher be-
absichtigt war, sondern bis nach Tschegem zu begleiten, verfehlten, glaube
ich, ihre Wirkung nicht.
Am Vormittage des 29. August, als die Sonne endlich siegreich das
Gewölk durchbrach, waren wir wieder marschbereit. Zwölf Swaneten waren
als Träger des Gepäcks gedungen, und die Lasten wurden rasch verteilt.
Diesmal schien alles gute Reise zu verheissen.
Als wir hinter Muschal über die noch regenfeuchten Wiesen schritten,
l)lieben bei einem kleinen Weiler einige der Träger zurück, um noch ihr
Der Twibek-Gi.etschkr.
irisch Gebackenes Brut mitzunehmen und ilir Samlalenschulnvcrk in Ordnunt^
zu brino-en. Oben am Ende der Iwiber-Ouerschhuht, wo wir auf einem
kanzelartigen Vorsprung der östlichen Talwand rasteten, stiessen sie wieder
zu uns. Wie die Swanen, schwier bepackt und doch mit leichtem festen
Schritte ansteigend, daherkamen, sah man, dass sie auf ausserhalb der Eis-
regionen liegendem tiebirgsterrain gute, kräftige Gänger sind.
Von der Kanzel blickt man südwärts durch die enge, waldumstandene
Schlucht, jenseits welcher in der Tiefe die sonnigen kduren der Mulchara
erglänzen, begrenzt vom waldigen, mittleren swanetischen Gebirge, über
welches die schneeigen Höhen des ösdichen Teiles der Leilakette aufragen.
Das Ende des T\v iber-Gletsch er^
Vor uns wurde das untere Ende des Twiber- Gletschers sichtbar. Vom
unteren Gehänge der Talwände umschlossen, bricht der Gletscher, die ganze
Breite des Tales erfüllend, in senkrechten, oben schuttbedeckten Eiswänden
ab. Der Wald ist zurückgeblieben. Nur spärliches Gestrüpp bekleidet
noch das Talgehänge.
Nach einer Stunde sind wir am Gletscherende. Dem grossen
Gletschertore, das sich im kreisförmigen Abbruche des Eises öffnet, ent-
strömen die mächtigen Wasser des Baches. Es ist ein prächtiger Anblick.
Das Ende des Gletschers liegt in einer Höhe von 2030 m (2130 m A. D.).
Die Swanen hatten beabsichtigt, wieder an derselben Lagerstelle zu
übernachten, wo wir vor einigen Tagen die böse Nacht verbracht hatten.
Ich zog es jedoch vor, weiterzugehen, um ein .Stück Weges über die rechte
liiWAK AM 'I'\vii;i:r-Gletschkr.
Seitenmoräne noch heute zurückzulegen uml erst sj)äter bei den letzten Vor-
] Kisten der am Talgehänge sich fristenden, kümmerlichen Sträuchervegetation
das Lager aufzuschlagen. Ich setzte mit Recht voraus, dass der Marsch
zur Passluihe ein langer sein werde, und wusste, wie unangenehm am frühen
Morgen das Hegehen einer steinigen Moräne ist. Allerdings machte uns,
als wir etwa eine Stunde später unser Biwak aufschlagen wollten, das Terrain
einige Schwierigkeit, da wir keinen für das Zelt geeigneten Platz finden
konnten. Aber mit einiger Arbeit ebneten wir einen solchen, und auch die
Swanen fanden einen überhängenden Felsblock, welcher sie vor Wind und
'^^i^^^
>.'-* **'^
Am Tu- iber- Gletscher.
Kälte schützen sollte. Die Kälte — welche natürlich in solchen Höhen,
insbesondere bei klarem Wetter, sich unausbleiblich geltend macht — sollte
mir bei der Wahl eines hochgelegenen Lagerplatzes auch noch insofern
zustatten kommen, dass nicht nur der folgende Tagesmarsch gekürzt, sondern
zugleich ein früherer Aufbruch möglich wurde, weil die frierenden Leute
selbst trachteten, vorwärtszukommen. Dadurch war dann die Möglichkeit
geboten, früh in die hohen Regionen zu gelangen, bevor noch das neidische
Gewölk des Tages sich auf dieselben legte. In.sbesondere im Kaukasus
war dies wichtig, wo die Bildung von Nebeldünsten auf den Höhen durch auf-
steigende, feuchte und warme Luftströme eine viel grössere ist als in den Alpen.
— 218 —
DiK UMRANUUNC DKS TWIBEK-CiLKTSCIIEKS.
Es war eine kalte Nacht, die wir da oben, in der Höhe von 2263 111
(A. D.) beim Eise des orossen Twiber-Gletschers verbrachten. Das während
der Nacht exponierte ^^ninulm -Thermometer zeigte 2" C. Dafür waren wir
aber auch schon früh wach und rasch mit den Vorbereitungen zum Ab-
märsche fertig.
Um 5 Ihr des 30. August wurde der Lagerplatz verlassen. Kalt
starren uns die dämmernden Schneehänge des Gletschertales entgegen,
über welches sich ein schwarzes Himmelsgewölbe spannt, von dem langsam
auch die letzten Sterne verschwinden. Eine Zeitlang folgen wir den trümmer-
reichen Uferhängen des Gletschers. Dann betreten einige von uns früher,
andere später den Gletscher selbst. Derselbe besitzt eine massige Neigung
und zeigt nur wenige Spalten. Eine mächtige Mittelmoräne, von den zu-
sammenstossenden Gerüllanhäufungen zweier Gletscherzuflüsse gebildet, lagert
am Gletscher. An den Flanken der Bergiunwallung hängen zerschrundete
Eismassen, von welchen einige den Gletscherboden erreichen, andere schon
höher oben endigen und nur Geröllstreifen zu den Moränen senden, welche
den Gletscher seitwärts begleiten.
[e mehr wir vorwärtsdringen, um so mehr entwickeln sich die
Grössenverhältnisse des Gletscherstromes. Von allen .Seiten öffnen sich
Sseri- und Assmaschi-Gletscher.
— 219 -
Die Zi'KLüssK des Twiher-Gle'ischkks.
Gletschertäler; tler Hauptkainni erscheint, an widchein sie em|)orreicheii
und mit diesem parallel streichende, thirch nuerjueher verbundene Neben-
ketten umschliessen dieselben.
Aus dem Westen kommen zwei Zullüsse, welche sich nu't ilcm Twiber-
Gletscher vereinigen, — Assmaschi inid Sseri-Gletsrher — aus dem Osten
strömt ihm der u-rosse Kitlod - Gletscher zu, indes höher oben im
Nordwesten sich das iMrnreservoir ch's Dsinal- Gletschers öffnet. Diese
weit ausLjedehnten, orossartis^^^en Firn- und Eisreviere umfassen eine
Idächc von 62 qkm, und die ^rösste Länge des liisstromes, die wir
in tler Kichtuni; iles Twiber-Passes durchschreiten sollten, betragt etwa
I 1 km. Die Machenausdehnung des Twiber-Glelschers imd der ihn 1)11-
denden Eisströme (Einzugsgebiet und Firnrevier) ist die bedeutendste
an der südlichen Abdachung des Kaukasus und wird auch im Norden
nur vom Besingi- Gletscher übertroffen. hi den Alpen tlin-fte, abgesehen
vom Aletsch-Gletscher, nur der Gorner-Gletscher den kaukasischen Twiber-
Gletscher übertreffen.
An den grossen Gletschern, welche die Abdachung nach dem Ingur-
Tale bedecken, hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, dass die iMrnreservoire
derselben zwischen den mit dem Hauj)lkammc i^arallel streichenden, hohen
Nebengraten sich ausdehnen, und erst der untere Abschnitt des Gletschers
und die Gletscherzunge dringt durch eine querschluchtartige Oeffnung des
Gebirges in die Tiefe. Die mächtige Entwicklung dieser kaukasischen
Gletscherwelt entzog sich aus dieser Ursache, verdeckt von den erwähnten
Parallelkämmen, so lange der Kenntnis und eröffnete sich erst den in die-
selbe Eindringenden.
Wir wandten uns dem östlichen Zweige der Firnregion des Twiber-
Gletschers, dem Dsinal-Gletscher, zu. In schwarzen Steilabstürzen durchbricht
der Granit des Gebirges die Pirnhalden, in reinen Eisspitzen gipfeln die
Kämme. Von den steilen Böschungen dieser Pirnwände, deren P'uss die
Linie des Bergschrundes durchsetzt, rauschen Schneemassen nieder, fallen
Eistrümmer, von der Wärme des Tages gelöst, donnernd in die Tiefe. An
einigen Felshängen umgehen wir leicht einen zerklüfteten Plisabfall. Nach
kurzem steilen Anstiege umfängt uns ein sanft sich erhebendes Firnbecken.
Die Firngrenze wurde um 11 Uhr mit 3164 m (A. L^.) gemessen. Glühend
l^rannte die Sonne in dieser Schnee-Pjnöde, kein Lüftchen regte sich. Die
intensive Strahlung des Schnees nötigte schon längst, die Augen durch
rauchgraue Glä.ser, das Gesicht durch eine Leinenmaske zu schützen. Knie-
tief sinken wir in den jetzt erweichten .Schnee. Wir sind tlurch das Seil
— 220 —
ÜKR Twiker-Pass.
verbunden, und mir, als ersten, fällt die Aufgabe zu, nicht nur die Richtung
zu wählen, den .Sjjalten auszuweichen, sondern auch die höchst ermüdende
Arbeit, die Fusstapfen in den bodenlosen Schnee zu treten, wird mir zu-
teil. Schon ist die Passh()he sichtbar. Erst unterhalb derselben erheljt
^ItM^^^'^^^^*
D s i n a 1 - G 1 e t s c h e r.
sich das Terrain zu grösserer Steile. Ein kurzer Anstieg über die fels-
durchbrochene Eirnwand bringt uns auf die in kristallinischen Schiefern ein-
geschnittene Eücke des Twiber-Passes. Die Höhe beträgt nach meiner
Messung 3601 m (A. D.). Sieben Stumlen ununterbrochenen stetigen
Marsches hatte der x'Xnstieg gekostet. Es ist 12 Uhr 30 Minuten.
— 221 —
Aussiciii' VOM Rohokku-Grate.
Der Ausblick von der Passhühe ist engbegrenzt. Gegen Norden
liegt wenig unter uns ein kleines Firnbassin, von mächtigen Firnpyramiden
umragt, unter welchen die eisbepanzerten Steilwände des 4614 m hohen
Tichtengen die Bewunderung herausfordern. Alles deckt die schneeige
Hülle; nur an wenigen Stellen durchbricht der Fels dieselbe, hn Süden
nähern sich die beidseitigen Wände des Bassins unterhalb des Passes und
schliessen den Blick in dieser Richtung ab, so dass die dort liegenden un-
b(;kannten Gebiete, denen wir zustreben, verborgen bleiben.
fy'
Vom Tuiber-Pasä gegen Westen.
Westlich von der Passhöhe stieg ich noch an den von P'els durch-
brochenen Firnhängen empor. Der Pickel musste später den Weg bahnen,
an Felstürmen der Grat überklettert werden. Doch das Gestein war fest
und sicher, von der Sonne erwärmt. Als ich dann eine sanft ansteigende
Schneearrete erreicht hatte, stürmte ich atemlos empor, bis ich die erste,
auch vom Passe sichtbare Zacke im Bodorku-Grate erreicht hatte. Ich hatte
weder Höhe noch Zeitdauer meines Anstieges notiert. Nun war der Blick
freier geworden, aber derselbe blieb im Reiche des .Schnees gebannt, der
dem Aussichtsbilde den einzigen Ton gab, und drang nicht hinaus in die
buntfarbige Welt der Tiefe. Unvermittelt schoss aus dem Firnbassin des
Kulak-Gletschers, jenseits der Passeinsatdung, die felsdurchfurchte, eisige
TlCHTENGEN.
Bl.C'TEXI'FLAXZEN IX DER SCHXEEREOION.
Pyramide des Tichtengen (4614 m) in die Lüfte, ein herrliclier Anblick.
Ueber der F'irnscharte, welche ihn mit den jäh abschiessenden Hangen des
Kulak-Tau verbindet, tauchen mehrere in Schnee gehüllte Gipfel auf, welche
der Umrandung der Firnreviere des Kitlod-Gletschers und des nördlichen
Zweiges des Zanner-Gletschers angehören. Noch immer war — einer der
seltensten Tage im kaukasischen Hochgebirge — das tiefblaue Firmament
wolkenlos. Eine blendende Flut von
Licht und Glut war über die Schnee-
landschaft ausgegossen. Kein Rei-
sender war vor mir in diese eisigen
Regionen gedrungen, in diese gross-
artig geheimnisvolle Bergwelt, deren
ernste .Schönheit ich nicht müde wurde
zu bewimdern.
Eine Stunde später war ich wieder
bei den andern auf der Passeinsatt-
lung. Trotz der Ijedeutenden Höhe
nisteten an den Felsen der Sonnen-
seite kleine Blütenpflanzen: bläuliche
Alsinen, Draben, Saxifragen, und in
der Sammlung, die IVof. Lojka er-
beutete, wurde eine neue reizende
Veronica glareosa S. et L. nov. sp.
entdeckt.''')
Wir stiegen abwärts. Auch jetzt
war es der Reiz des Unbekannten,
der mächtig auf mich wirkte. Keine
Karte, keine Mitteilung Hess ahnen,
was da kommen sollte. Aus dem
Firnkessel, in den wir abgestiegen
waren, führte ein enger Durchpass
auf einen mächtigen, zu Tal ziehenden
Gletscher, der hier plötzlich, stark zerklüftet, abfällt. Die Firngrenze
wurde um 3 Uhr mit 2921 m (A. D.) gemessen. Den Cjletscher, für welchen
Veronica glareosa, Somm. et Lcv. nov. sp.
*) Gesammelt wurden : Alopecurus vaginatus ( Willd.) Fall. var. unipalcaceus Boiss., Alsine
imbricata MB., Aquilegia Olympica Boiss., Chamaemelum caucasicuni Willd., Crocus Scharojani
Rupr. var. ochroleucus S. et L., Draba imbricata Cam., Saxifraga cymbalaria L., Veronica glareosa
S. et L. nov. sp.
— 223 —
Der Kui,Aiv-Gi.KTst:uKR i^nd die Quellen des Kara-Ssu.
ich keinen Namen von den Bergbewohnern erfahren konnte, nannte
ich damals nacli ilem Tale, in welches er dringt, Tschegem- Glet-
scher. SeittUnn wurde er als Kulak-Gletscher in die Karte ein-
geführt.
Wir umgingen tlas Spaltengewirre des Gletschers an der .Seiten-
moräne und folgten dann dem gut gangbaren Felsgehilnge, bis wir den
Gletscher wieder betreten mussten, um dann die Wanderung über denselben
fast l)is an sein binde fortzusetzen. Die Richtung, die wir einhielten, war
Das T.il des Kara-Ssu.
eine östliche, und langsam wurde der prächtige Hintergrund tles Gletschers
durch vorspringende Seitenwände verdeckt.
Nahe vom busse des Gletschers beginnen die Uferränder sich schon
mit Grün zu bedecken, und aus der Eislnicht fällt der Hlick hinaus auf die
Wiesen und Matten der Talsohle des Kara-Ssu und auf den Wald, der
ein breites, dunkelgrünes Band um das Talgehänge schlingt. Mit dem
Verlassen des Gletschers, der in einer Höhe von 2296 m (A. D.) endet,
treten wir auf weichen Rasenboden. Wie es sich da wohlig wandert!
Im Schatten einiger jjrächtiger Tannen, auf schwellendem Kasen-
polster, am Rande einer köstlichen Quelle eisensauren Wassers, lagern wir.
Lager im obersten Kakassu-Tale.
(2186 m A. D.) Ein herrlicher l\inkt! Die Kraft des Zaubers, mit welcher
derselbe auf mich wirkt, liegt vielleicht im Gegensatze zwischen den Land-
schaften, welche rasch und nahezu unvermittelt aufeinander gefolgt waren,
zwischen der winterlichen Natur der Eisregion und dem Waldesgrün, dem
blumengeschmückten Gehänge des Tales. Und beide Landschaftsformen
wirken mit der ihnen eigentümlichen Schönheit, diese mit den Eindrücken
des Ruhigen, Zarten, Lieblichen, jene durch das Grossartige, Heroische,
Furchtbare ihrer Natur.
Kindschale, Kaukasische Dolch m esse r.
Der Kulak-Gletscher.
XVII. KAPITEL.
Das Quellgebiet desTschegem-Tales, in die Firnregion
des Besingi-Gletsehers und nach Transkaukasien.
Und alle deine hohen Werke
Sind herrlich wie ;im ersten Tai;".
Goethe: Faust.
Der Abstieg vom Twiber-Pass nach Norden in das süddöstliche
Qiiellgebiet des Tschegem hatte uns durch eine weit ausgedehnte Firn- und
Gletscherregion geführt. Nichts hatte einen so reichen Gletscherhintergrund
des Tschegem-Tales vermuten lassen, weder Karte, noch Mitteilungen, noch
der Ausblick, welchen man vom höchsten bewohnten Orte des Tales, vom
Aul Tschegem, in der Richtung des Talschlusses hat.
Auch der 31. August brach in strahlender Klarheit an, und schon
in aller h'rühe stieg ich pfadlos an den linksseitigen Wänden des Tales
empor. Als ich nach etwa anderthalbstündigem Anstieg eine Grathöhe
erklommen hatte, eröffnete sich wieder ein Einblick in ungeahnte Land-
schaften. Da lag der grosse Gletscher vor uns, den wir gestern über-
226
Die Gletschkr im obersten Tsciiegem-Tai.e.
schritten hatten. Dem weiten Gletschertore entsprins^^t der Kara-Ssu, der
ösdiche Ouellfluss des Tschegembaches. Vorspringende Bergwände ver-
hindern das Auge, den gekrümmten Lauf desselben bis in die Firnregion
zu verfoJo-en. hn Hintergrunde baut sich in entsetzlicher Steile die breite,
von einer Felsspitze gekrönte Gestalt des Tichtengen auf; an der Fassade
tritt das granitische Gestein hervor, indes zur Rechten und zur Linken die
Firnhänge und Schneiden in tadelloser Reinheit und Weisse emporziehen.
Gerade unserm Standpunkte gegenüber, im Osten, hat sich ein
weites Gletscher-Tal eröffnet. Eine schnee- und firnbelastete, mauerartige
Kette zieht in der Höhe desselben, die prächtigsten Gipfelformen bildend.
Tjutjurgu- und Schaurtu-Gletscher.
Fast bis in die grünende Talsohle dringt dort ein mächtiger Gletscher-
strom, von weiten Firnmulden genährt. Schaurtu-Gletscher ist er getauft
worden, die Bergkette, an der er seinen Ursprung nimmt, die Saluinan-
kette. (Salulnan-Tau 4318 m.) Von ihrer nördlichen Fortsetzung kommt
ein zweiter, aus mehreren Zuflüssen zusammengesetzter Gletscher herab, für
welchen der Name Tjutjurgu-Gletscher gefunden wurde. Er ist kleiner als
der Schaurtu-Gletscher, sein Firnreservoir ist beschränkter, sein Lauf ein
kürzerer. Ein vom Hauptgrate niederziehendes Kontrefort streicht zwischen
beiden Gletschern. Der Schaurtu-Gletscher fliesst an dem kapartigen Ende
dieses Kontrefort vorbei, indes der Tjutjurgu-Gletscher schon höher oben
endet und sein Schmelzwasser unten mit dem Schaurtubache vereinigt.
DlK Gl.KTSCHER IM DBERSTEN TsCIIECF.M-TALE.
Das gletschertrennende Kap ist bis hoch hinauf abgerundet, von der Zeit
her, da beide Gletscher viel höher an seinen Wänden emporreichten und
auch ihre Eismassen vereint abwärts zogen. Besonders schön wirkt der
Tjutjurgu-Gletscher und die ihn überragenden Gipfel von einem tieferen,
seidichen Standpunkte gesehen. Hier tritt seine Ei.sbucht allein in das
Gesichtsfeld, über einem packenden Vordergrunde emporziehend, in welchem
einzelne, herrliche Baumgruppen, meist breitästige Kiefern, sowie riesige
Felsblöcke auf saftiggrüner Matte eine eigentümlich pittoreske Staffage ab-
geben, während mit Niederwald und dichtem, rödich und gelblich schimmern-
D e r S c h a u r t u - G 1 e t s c h e r und seine U m r a n d un _i^
von der Talsohle des Kara-Ssu.
dem Gesträuch bestandene Bergwände den Rahmen dieses Gletscherbildes
bilden.*) Dann wieder erschliesst sich aus der Talsohle, dort, wo der Schaurtu-
Ssu in dieselbe tritt, eine Ansicht des Schaurtu- Gletschers, die sich auf
sein breit geöffnetes Tal und dessen Hintergrund beschränkt.
Die Gletscherbilder im obersten Tschegem- Tale wirken durch den
Formenreichtum der eisigen Höhen, durch die Firnmassen, welche über
die klippigen Steilhänge bald als sanft gewellte Decke, bald zerklüftet nieder-
fluten, und durch die herrlichen Kontraste, welche die über die farben-
reichen Vorlagen der Matten und Wälder sich aufbauende Eiswelt hervor-
*) Siehe Abbildung »das Tal des Kara-Ssu<', Seite 224. .-Vuf den Matten unterhalb der
bestrauchten Bergwand hatten wir unser Lager aufgeschlagen.
P^iNFriRMiGE Landschaft tm mittleren Tschegem-Tai.e.
zaubert. Täler und Gletscher waren unj^rekannt geblieben, und mit leiden-
schaftlichem Interesse lag ich den photographischen Arbeiten ob, welche
zum ersten Male Kunde von dieser herrlichen Bergwelt bringen sollten.
Das Unmöglichscheinende ereignet sich wieder. Nach den be-
rückend schönen Szenerien des gletscherreichen Talschlusses folgen auch
hier, wie in allen nördlichen Ouertälern des zentralen Kaukasus, die steinigen,
vegetationslosen, tiefer unten zwischen monotonen Bergwänden eingeengten
Talstufen.
Nahe der Vereinigung des Kara-Ssu mit dem vom Baschil-Ssu durch-
strömten westlichen Zweige des Tschegem- Tales befindet sich eine Hütte,
mit deren Bewohnern unsere swanetischen Träger einen regen Gedanken-
austausch beginnen. Als Ergebnis desselben erscheinen bald darauf zwei
Esel, auf welche das Gepäck geladen werden soll, indes zwei der Hütten-
bewohner als Träger der Apparate und des Restes des Gepäcks, welches
man den schwer bepackten Eseln nicht mehr aufladen konnte, vorgestellt
werden. Die Swanen wollten noch am Abend das Lager am Fusse des
Gletschers erreichen, um am nächsten Tage über die Firnhöhen in ihr
schönes Alpen-Tal znrückzukehren. -So schwierig es ist, diese Swanen von
den mageren Fleischtöpfen ihrer Dörfer zum Aufbruche zu bewegen, dem
noch unmittelbar die lärmendsten Szenen und Streitigkeiten voranzugehen
])flegen, so sind sie, einmal auf dem Wege, meist ausdauernde und ihren
X'erpflichtungen unverdrossen nachkommende Begleiter. Im allgemeinen ist
der Swane — vielleicht durch die schweren Lebensbedingungen seiner F!.xi-
stenz — wortkarger als der mohammedanische Bergbewohner auf der Nord-
seite des Gebirges, bei dem wieder vieles auf Rechnung einer orientalisch
veranlagten Natur zu stellen ist. Auch diesmal schieden wir in bester Freund-
schaft, und jeder der Leute, als er uns die Hand reichte, wu.sste einige Worte
guter Wünsche zu sagen.
Ein Marsch von sechs bis sieben Stunden bringt nach Tschegem (1387 m).
Man erinnerte sich meiner vom vorigen Jahre, und ich wurde freundlich be-
grüsst. Knjas Beg Mursa Malkaruko führte uns in sein Haus, wo eine ge-
dielte Stube uns überwiesen wurde, ich glaube, eine andere, als die im
Vorjahre, unseligen zoologischen Angedenkens.
Der Tag war im Tale heiss, unser Proviant war auf ein sehr be-
scheidenes Mass reduziert gewesen, und wir hatten vor allem ein ziemlich
bedeutendes Bedürfnis nach Nahrung in geniessbarer Form und dann nach
Ruhe und Schlaf. Leider konnte uns beides lange nicht zu Teil werden.
Es wiederholte sich die alte Geschichte : von den Bergweiden musste ein
— 229 —
Kaukasischk Gastfreundschaft.
Schaf herab_t:feholt, dasselbe geschlachtet, ausgeweidet und gekocht werden.
Das ist eine Prozedur, die auch im zivilisierten Europa eine gewisse Zeit
erfordert, die aber im Kaukasus, wie ich glaube, durch die endlosen Ge-
spräche der Bergbewohner, die sich an ein solches Ereignis notwendiger-
weise knüpfen müssen, noch verlängert wird. Dabei ist man Gast, kann
also im Drängen, die Einladung zum Souper rascher herbeizuführen, eine
gewisse Grenze doch nicht überschreiten. Etwas anderes Essbares aber
ist in solchen Eällen trotz der energischsten Nachforschungen nicht auf-
zutreiben. So sitzt — wenn solche Möbel vorhanden sind — oder liegt
auf den Bettgestelien der ermüdete, erschöpfte, hungrige Wanderer, in Stunden
Vom Tschege m-Besingi-Sattel.
währendem Harren. Während dieser Zeit kommen und verschwinden ge-
schäftig tuende Gestalten. Einige treten in die Stube, stellen sich in eine
Ecke, wo sie meist lange Zeit wortlos verharren. Der Hausherr, mit dem an-
fangs, soweit es möglich ist, eine lebhafte Konversation geführt wurde, wird
mit seinen Besuchen immer seltener, wahrscheinlich um unseren vorwurfs-
vollen Blicken au.szuweichen, bis dann triumphierend der erste Stab Schasch-
lick hereingebracht wird. Der hungrige Wanderer vergisst einen Augenblick
Aerger und Müdigkeit, und aus seiner Schlaftrunkenheit sich aufraffend, wird
um 1 I Uhr nachts dem seit 7 Uhr abends sehnlichst erwarteten Mahle zu-
gesprochen.
Am I. September ritten wir über den mir schon vom vorhergehenden
Jahre bekannten Sattel nach Besingi. Das Wetter war diesmal gut, und
In die Firnregion des Hesingi-Glktsciikk.s.
nachdem wir im Galojjp über die flache
Kammliühe bis an ihren Rand gesprengt
waren, eröffnete sich plötzlich im Durchblick
zwischen basaltähnlichen F"elsbastionen, die dem
begrünten Bergrücken entragen, eine Aussicht
auf die Kette zwischen Dych-Tau undKoschtan-
Tau, wie das Bild ferner, andern Zonen, andern
Höhenstufen angehörender Welten, die man
durch das Glas eines Stereoskopes erblickt.
Auf den Alpenwiesen, im Abstieg nach
Besingi, wurde unter den gesammelten
Blütenpflanzen eine neue Art, Calamintha
caucasica S. et L. n. sp., entdeckt.
In Besingi empfing uns die Hünen-
gestalt des schweigsamen und würdevollen
Fürsten, und als Nachtquartier diente wieder
die feuchte Lehmhütte.
Noch einen Ausflug machte ich in die
Firnregion des Besingi-Gletschers, eine Wall-
fahrt zu dem Allerheiligsten, das die Hoch-
gebirgswelt des Kaukasus erschliesst. An
der linken Seite des Gletschers, auf einer
ebenen Fläche, die, etwas begrünt, von ferne
wie eine Oase in der starren Welt von Fels
und Eis erschien, schlugen wir das Lager
auf. Ich stieg am ersten Tage mit zwei der Eingeborenen von Besingi, von
welchen der eine, Kutscha, ein grosser Steinbockjäger sein sollte, an den
Hängen der Saluinankette empor. Immer tiefer sank der grosse Gletscher
in seiner Felsenkluse. Ueber den ihn einschliessenden Bergwänden im Osten er-
schien eine Reihe von Firngipfeln in den kühnsten Formen. Im Süden war alles
in Wolken gehüllt, und düstere Nebel, von gelblichem Lichte durchglüht,
umschwebten auch die Berge im Osten, unter welchen ich die Gipfel
erkannte, die ich im V^orjahre in der Firnregion des Midschirgi-Gletschers
zuerst erblickt hatte. Eine herrliche Firnpyramide, mit weithin flatternder
Nebelfahne, überragte alle andern Berge. Erst später wusste ich, dass
es Dych-Tau war, nach Elbruss der höchste Berg des Kaukasus, den wir
unter dem Namen Koschtan -Tau damals im östlichen Firngebiete des
Besingi-Gletschers suchten.
Calamintha caucasica
S. et L. nov. sp.
— 231
Allein in der Eiswelt des BeslnciGletschers.
Im Nebeltreiben kamen wir wieder zum Lager, wo uns mein Reise-
gefährte mit köstlicher warmer Suppe erwartete. Am Abende wurde es
klar. Rasch sank die Nacht hernieder. Tiefe Ruhe rings umher. Nirgends
ein Mensch. Wir sind die einzigen in dieser grossen Bergwildnis. Die
Dych-Taii.
Hirten mit ihren Herden, die im Sommer die noch stellenweise begrünten
Hänge an der Seite des Besingi-Gletschers aufsuchen, sind längst in ihre
Dörfer oder an tiefer gelegene Plätze gezogen. Nur das Getöse fallender
Gletschertriimmer unterbricht die tiefe Stille. Am schwarzen Firmament
glänzen die Sterne. Im Zelte machte sich schon die Kälte der September-
nächte fühlbar, und mein Reisegefährte litt sehr unter derselben.
Empor in ihk Reciox ewigex Eises.
Als ich am folgenden Morgen, noch im Dämmerlichte, das Lager
verliess, deckten Nebel das weite Eisfeld und seine Umrahmung. Höher
oben, wo wir den Gletscher betraten, hoben sich dieselben, entflatterten
langsam, die Bergwände zu beiden Seiten traten zurück, und ein Teilstück
des eisigen Hintergrundes vom Katuin-Tau bis zur Gestola erschien in der
klaren Atmosphäre des Herbstmorgens wie eine Mauer aus funkelnden
Kristallen aufgebaut.
Katuin-Tau und (iestola.
hl sanfter Steigung wanderten wir, uns dem jenseitigen Ufer nähernd,
lange über den mächtigen Gletscherstrom, bis zur X^ereinigung seiner vom
Westen und Osten kommenden Zuflüsse. Aus einer weit hinaufziehenden
Firnbucht senkt sich der östliche Gletscherarm und windet sich um ein
felsiges Vorgebirge. Am Fusse desselben führte unser Weg, endlos und
ermüdend, über hohe Moränenrücken und geröllbedecktes Gehänge. Ich
war froh, endlich durch eine von altem Lawinenschnee erfüllte Rinne zu
steilen Felsflühen zu gelangen, an welchen jetzt der Steinbockjäger, der
hier, in dem, wie es schien, ihm bekannten Gebiete, die Führung über-
Der EiswAi.i. \-()N dkr Gestoi.a bis zur Schchara.
nommen hatte, in seinen mit Heu ausgestopften Ledersandalen mit ausser-
ordentlicher Behendigkeit und Sicherheit emporkletterte.
Von einer kleinen, plateauartigen Stufe der Felswände umfasst das
Auge den Bergwall, der in einer ungebrochenen Linie die obersten Firne
des Besingi-Gletschers umspannt. Von einer Lücke in der westlichen Ecke,
dem Zanner-Pass, den ich mit F>eshfie!d, als die ersten, in einem andern
Jahre überschreiten sollte, bis zu den Firnwällen im Osten, die jenseits in
das Eisgebiet des Dychssu-Gletschers fallen, türmt sich der gigantische Bau
in einer Länge von 20 km auf. Es ist keine Reihe von hoch aufstrebenden,
isolierten Gipfelgestalten, die demselben entragen; nur wenig gebrochen
schneidet die eisige Kammhöhe in den blauen Himmel, wo schon zu früher
Stunde aus dem Süden aufsteigende Wolken sich zusammenziehen. An der
jäh abstürzenden Flucht dieser Riesenmauern durchbricht nur selten dunkler
Fels den Eispanzer: Schneekatarakte fluten an den Wänden nieder, und
blaugrün schillern die Firnbrüche im flimmernden Sonnenlichte. Mit der
Erhabenheit ihrer Grosse vereinigte sich eine ausserordentliche Zartheit in
der Linienführung dieser Bergformen und in den Farbentönen, in welche
sie gehüllt waren. In seiner ganzen Glorie stand der Kaukasus hier vor
mir, und nur die Eisregion des Himalaja, kein Bild aus den Alpen, kann
sich mit ihm messen, ihn übertreft'en. Der Anblick des Eiswalles von der
Pyramide der Gestola, mit der sattelförmigen Eiskuppe des Katuin -Tau,
den abstürzenden Firnklippen der Dschanga bis zur Riesengestalt der
Schchara, sich über eine weltentrückte, frostige Bergwildnis erhebend, die
wenige Sterbliche erschaut hatten, war von unbeschreiblicher Grossartigkeit
und machte einen unauslöschlichen Eindruck. Es war für dieses Jahr der
überwältigend schöne
Abschluss meiner Rei-
se im Kaukasus. Fa.st
jeder Schritt auf der-
selben hatte Neues ge-
bracht, jede photogra-
phische Aufnahme das
Bild meist unbekann-
ter, ungesehener Hoch-
gebirgs- und Gletscher-
landschaften.
hii Aul nahmen wir
Abschied vom Fürsten Besingi-Schlucht.
234
Katyn-Tau
ÜLETSCHERS.
DUKCIl DTK VOKllEKdE NACH NaI/ISCIIIK.
von Besingi und zogen hinaus durch das Tal. Die Schhiclit, durch welclie
der Besingi -Tscherek die Jurakette durchbricht, wird auf einem in Zickzacks
an der linken Wand in den Felsen gesprengten Saumweg durchschritten.
Von seiner Höhe erscheint über der weit hinauf ziehenden Tallandschaft
ein Segment der eisigen Kette im Hintergrunde Besingis, und zu F"üssen
liegt die Schlucht, in welcher der Bach zwischen weissen Kalkfelsen und
grünem Buschwerk schäumt.
Jenseits des Defile tritt man in eine grüne Voralpenlandschaft, ein
coupiertes Terrain, in welchem man längs des Baches und über wellen-
förmige Rücken zieht, bis man in einen Urwald gelangt. Es sind diese
Vorberge — die schwarzen Berge - — aus jüngsten .Sedimenten bestehende,
den Hochofebiresketten voro^elawerte Falten, deren dunkle Waldung diese
Bezeichnung rechtfertigt. Den Bestand des Waldes bilden vorherrschend
Bergahorn (Acer Trautvetteri) und Buchen (Fagus orientalis), in welche sich dann
noch Ulmen und Ellern mischen. Tiefer Schatten. Bald reitet man durch
das trockene Bett eines Waldbaches, bald muss man durch dichtes Geäste
der Bäume sich durchwinden. Man muss immer acht haben, um nicht an
irgend einen Baumzweig zu stossen, und sich zur Zeit niederducken, um —
was noch die kleinere Unbill wäre — den Hut nicht zu verlieren. Dabei
ist es nicht leicht, die Pferde im letzten Augenblick so zu dirigieren, um
einen Anprall zu vermeiden. Die Pferde stolpern leicht über die weit-
ausgreifenden Baumwurzeln und Stein blocke, denen man zwischen den engen
Baumreihen oft nur schwer ausweichen kann. Stellenweise herrscht boden-
loser Kot, was bei steiler Neigung des Bodens, insbesondere im Abstiege,
ein sicheres Pferd und einen guten Reiter erfordert. Es wurde später Abend, bis
wir den Wald verliessen.*) W'ir übersetzten den Fluss und hielten die
Richtung auf eine grüne, niedrige Hügelkette ein. \n der Nähe einer, zeit-
weiligen Aufenthalten der Hirten dienenden Strohhütte, schlugen wir das
Zelt auf Wir bekamen Milch.
Mit Tagesanbruch waren wir auf dem Wege. Ein Nebeldunst lagerte
über der Gegend. Wir hatten das Hochgebirge mit der belebenden Alpen-
luft hinter uns. Später am Vormittage wird es dann drückend heiss; eine
Sirokkoluft weht, und durch die Dunsthülle stechen die Sonnenstrahlen.
Gegen Mittag waren wir in Naltschik. Eine höchst ermüdende Arbeit
wartete meiner mit dem Einpacken der Reiseausrüstung und der Samm-
lungen, die riesig angewachsen waren.
*) Im Walde entdeckte Prof. Lojka, ein unermüdlicher Sammler während der ganzen Reise,
eine neue Cryptogamenart, welche als Lecanora Loczyi Wain. n. sp. bestimmt wurde.
Das Dariki.Dkkii.k a\ der crlsimschen Heerstrasse.
Mit drei Teleoen fuhren wir dann durch die Steppe, diesmal nicht
vom Staube belästigt, sondern strömendem Regen preisgegeben. Die
grösste Sorge niusste dem Reisegepäck — den Sammlungen — zugewendet
werden, damit sie keinen Schaden erlitten.
Dagegen reisten wir bei fjrachtvollem Herbstwetter über die grusinische
Heerstrasse und konnten den noch mittags ganz nebelfreien, herrlichen
Schneedom des Kasbek bewundern. Dieser Anblick und das Dariel-Defile —
die wilde Durchbruchschlucht des
Terek — sind die Glanzpunkte
der Szenerien, welchen man aut
diesem Wege begegnet.
Von Wladikawkas folgt man
tlem Terek durch das sich ver-
engende, stellenweise reich be-
waldete Tal, in welchem der
Fluss die einander folgenden geo-
logischen Formationen durch-
schneidet, bis die Massen des
Urgebirges sich zusammen-
schliessen und die Strasse in
das Dariel-Defile eintritt. .Auf
einer Strecke von nahezu i 3 km
führt sie in kühner, bewunderungs-
werter Anlage durch eine Reihe
der wildesten Engen. Die i 500
bis 2000 m hohen Gneiswände
mit ihren Steilabstürzen und den
phantastischen P'ormen des Ge-
steins lassen oft nur Raum für
den in der Tiefe brausenden Bergstrom, indes die Strasse, in den F"elsen
gesprengt, sich emporwindet, durch Tunnels und Galerien, über Viadukte
geführt ist. .Szenen vcmi düsterer Grossartigkeit folgen einander in dieser
Felswildnis. Wenn man, wie ich in späteren Jahren einmal, nach Regen-
güssen und Gewitterstürmen, bei bewölktem Himmel durch diese Schluchten
wandert, wenn von allen Seiten aus den kurzen Spaltentälern und über das
Felsgeschröff der Talwände die Wasser zum Terek stürzen, wenn der hoch
angeschwollene Fluss in seinen Klüften tost und die Felstrümmer in seinem
Bette donnernd ilurcheinander schlägt, kein Lichtstrahl das unheimliche
Das Dariel-DefiU
Das Dakikl-Defile war keine Strasse für V()Lkerwa\deriin(;en.
Dunkel, das in den Klammen herrscht, erhellt — dann erst wird man die
erschütternde Grossartigkeit der Darielschluchten kennen lernen.
An einer Stelle, wo die Engen auf einen kurzen Talkessel sich
öHhen, sind auf hohem Felsbollwerke die Ruinen einer Burg sichtbar, welche
nach der georgischen Legende die Königin Tamara erbaut haben soll.
Es musste leicht sein, das DarielDefile gegen Invasionen nordischer
Barbaren zu befestigen und zu verteidigen, wie dies von den Beherrschern
der kaukasischen Länder und auch von den anwohnenden Bergstämmen
zu lokalen Verteidigungszwecken geschehen ist. Jedem aber, der durch
diese Engpässe ge-
zogen ist, wird sich
die Ueberzeugung
aufdrängen, dass
durch sie kein Weg
für Wanderungen
und Einbrüche von
Völkern führen
konnte und dieser,
wie in der Einlei-
tung betont wurde,
nach dem Osten
des kaukasischen
Isthmus , in die
Nähe des Kaspi-
schen Meeres ver-
legt werden muss,
dass dort die Porta Caucasica, die Pylae Caspiae der Völkerwanderungen
lao-en. Allerdings herrscht eine grosse Unsicherheit in den Berichten der
alten klassischen, byzantinischen und arabischen Schriftsteller, die Orte be-
treffend, auf welche sich ihre Bezeichnung Porta Caucasica bezieht. Einigen
derselben waren die Engpässe des Terek ohne Zweifel bekannt, aber für
Verkehrsstrassen für Völkerzüge können sie nicht gehalten werden.
Ueberraschend, mit der vollen Grösse einer mächtigen Hochgebirgs-
natur, wirkt dann nach dem Verlassen der Darielschluchten, wenn die Strasse
um eine Felsenecke biegt, der Anblick des weiten Talkessels von Stepan-
zminda, in welchem plötzlich in einer Oeffnung der westlichen Talwandung,
unvermittelt und isoliert, seine Umgebung hoch überragend, das schnee-
bedeckte Vulkanhaupt des Kasbek erscheint.
Tamara-Burg in der Durchbruchsschlucht des Terek.
Am Kasbek vorbei zur Passhöhe der Krestowaja Gora.
Kasbek von der grusinischen Heerstrasse.
Im baumlosen, rauhen Gebirgstale steigt nun die Strasse zur Pass-
höhe. Die Landschaft erinnert an die weiter westlich am Xordabhang der
Hauptkette gelegenen Ouertäler. Nur selten triftt man ossetische Hütten-
gruppen, die sich um alte, halbzerfallene Wachttürme scharen, und über
den Lücken der Bergwände im Nordosten erscheint der von hier gesehen
doppelgipflige Kasbek oder die Gipfel im südlichen Teile der Gruppe. —
Von den einförmi-
gen Hochflächen
der Krestowaja
Gora,"') welche die
.Strasse im 2379 m
hohen Krestowoi
Periwar'*) über-
schreitet, führt sie
mit herrlichen Nie-
derblicken in das
Tal der Aragwa
(Aragon Strabo.s).
Das Tal der .\ragwa.
•'■) Russische Bezeich-
nung für Kreuzberg.
**) Russisch=Kreuzpass.
An-' DER SÜnSEITK I1F.R GRrSINISCHEX HEERSTRASKE.
Die Farben der Landschaft auf Berg und Tal sind reicher geworden, das
Grün von Alpenmatten und tiefer unten von Tannen-Baumgruppen hat sich
auf das Gelände gelegt, zuerst nur stellenweise und zögernd, bis dichter Laub-
wald die Bergwände bekleidet. Im Talgrunde rauscht die Aragwa in ihrem Bette,
das sie sich in den Lavamassen, welche einst durch dieses Schiefergebiet flössen,
tief eingeschnitten hat; auf Hügeln stehen Burgruinen und alte Kirchen, und
inmitten von Obstgärten und Ackerfeldern liegen freundliche Ortschaften.
Weite Strecken trennen uns noch vom Ziele. Gebirgsketten über-
steigend, die verschiedensten geologischen Formationen querend, erreicht
man die alte Hauptstadt der georgischen Könige, Mzchet, und nach dem
Zusammenflusse der Aragwa mit dem Kur gelangt man — ein scharfer
Kontrast mit den zuletzt durchschrittenen südlichen Landschaften — in das
kahle, steinige Becken, in welchem Tiflis liegt.
Während der langen Fahrt auf sonniger, staubiger Landstrasse
konnte ich mich zuletzt des Eindruckes des Einförmigen, den die Landschaft
auf mich machte, nicht erwehren. Nach den grossartigen Szenerien des
eisigen Hochgebirges, durch welche die W^anderungen der letzten W'ochen
mich geführt hatten, konnte sich die Schönheit dieser Landschaften aller-
dings nur schwer geltend machen. Es ist oft die Frage aufgeworfen worden,
ob es lohnender sei, die grusinische Heerstrasse vom Norden oder vom
Süden kommend zu bereisen. Die Frage wird schwer zu entscheiden sein.
Gewiss steigern sich die Eindrücke bei dem von Tiflis Kommenden, der
am Schlüsse der Fahrt den Anblick des schneeigen Hochgebirges gewinnt
und die wilde Grossartigkeit der Darielschluchten auf sich einwirken lässt.
Dagegen wird der Reisende, der von Wladikawkas aus das Gebirge über-
schreitet, nach den rauhen Berggegenden des Nordens sich dem Reize der
F"arbenpracht südlicher, blühender Landschaften nicht entziehen können, und
das reiche, vielgestaltige Völkerleben, das dort pulsiert, wird sein ganzes
Interesse gefangen nehmen.
Ein altes Kulturvolk wohnt hier, in Kartlien, dem Herzen Georgiens.
Es sind die dem Kartwelischen .Stamme angehörenden Georgier. Die Kopf-
zahl der zur kartwelischen Völkerfamilie gehörenden Kaukasier beträgt nach
den neuesten russischen Quellen etwa 1200000.''')
*) Von diesen werden ethnologisch klassifiziert, als zur Gruppe der Georgier (Grusiiier
nach der russischen Bezeichnung) gehörend, nahezu eine Million Seelen gezählt, und zwar etwa
400 000 eigentliche Georgier, die im Gouvernement Tiflis, in Kartlien und Kachetien wohnen (ein-
schliesslich des kleinen, im Bezirk Zakatal ansässigen, einst dem Islam anhängenden Völkchens
der Ingiloen), 21 000 Berggeorgier, zu welchen 6500 Chewsusen, 9200 Pschawen und 5000 Tuschen
gehören; 425 000 Imeren, 76, 000 Gurier (im Gouvernement Kut.iis) und endlich die mohammedani-
Der kaktwei.tsche Volksstamm.
l'ntlurchdringliches Dunkel umhüllt auch die Urzeit der kartwelischen
V'ölkerfamilie, wie die aller kaukasischen Völkerschaften. Während der Ein-
führung des Christentums und der griechisch-byzantinischen Kultur wurde
das Reich der Georgier gefestigt, und allmählich hatte sich eine nationale
Kultur entwickelt. — Nach dem Zeitalter der vielgefeierten und vielbe-
sungenen kaukasischen Heldenkönigin Tamara folgte jedoch eine Verfallzeit
vom 13. bis zum 17. Jahrhundert und erst nach dieser traurigen Epoche
in der Geschichte Georgiens zeigen sich wieder die Anfänge eines nationalen
Kulturlebens, das dann im 18. Jahrhundert immer mehr erstarkt.
Die Kultur Georgiens darf nicht nur als ein Abglanz der altpersischen
und byzantinischen genommen werden, sondern sie entfaltete sich zu eigen-
artiger nationaler Blüte. Die Lebensgeschichte der Georgier, eines der
ältesten christlichen Kulturvölker Vorderasiens, lohnt, der Vergessenheit ent-
rissen zu werden, es ist die eines Volkes, welches trotz der Bedrängung
von selten des Islam treu dem Christentum blieb, von dem nur ein geringer
Bruchteil — etwa 50000 — abfiel. Auch in der neuesten Zeit hat sich
das Kulturleben der Georgier, wenn auch langsam, aber stetig, entwickelt,
wofiir die georgische Literatur des 19. Jahrhunderts, deren Stützen die
Lyriker Elias Tschawtschewadse, Akaki Zereteli und Raphael Eristawi sind,
die Erzählungsliteratur, die bescheidenen Anfänge der wissenschaftlichen
Tätigkeit Zeugenschaft geben. Allerdings hat sich diese kulturelle Ent-
wicklung und der Einfluss derselben immer nur in den von Georgiern be-
wohnten Niederungen am Ufer des Schwarzen Meeres und den Elusstälern
des Rion untl des Kur gezeigt. Die zu den Kartwelen gehörenden, aber
jedenfalls stark mit andern V^olkselementen vermischten Pschawen, Tuschen,
Chewsuren und Swanen, die in den Hochgebirgsgauen, wo ich ihnen auf
meinen Reisen begegnete, in wilder Abgeschlossenheit leben, sind von
diesen Kultureinflüssen unberührt geblieben.
In Tiflis hatten wir die Freude, Dr. Radde zu sehen, den ausgezeich-
neten Naturforscher, den unermüdlichen Reisenden in den kaukasischen
Ländergebieten, den genauen Kenner derselben und Schöpfer des höchst
interessanten Museums zu Tiflis.*)
sehen Georgier im Westen : Adscharen und Kobuletzen, die in den Bezirken Batuni und Astorin
wohnen. Zur zweiten Gruppe werden 215 000 IVIingrelen im Gouvernement Kutari gerechnet, zur
dritten das Völkchen der 2000 Köpfe zählenden Lasen, die sich im Bezirk ISatum und an der
Schwarzmeerküste ausbreiten, und zur vierten die in den Hochtälern des Ingur und Zchenis-zchali
wohnenden Swanen, 14 000 Köpfe stark.
'''•') Dr. Radde starb 1902 in Titlis im Alter von 72 Jahren. Siehe: Dr. Gustav Radde. Zu
«meinem siebzigsten Geburtstage von M. v. Dechy, in Petermanns geographischen Mitteilungen Bd. 48.
— 240 —
ÜBER DAS Schwarze Mb:er läxos dks Kaukasus.
Als wir nach einigen Tagen Batum mit dem Dampfer verliessen und
längs der Küste hinfuhren, blieb stundenlang die kaukasische Bergkette in
grösster Klarheit in Sicht. Mit dem Sinken der Sonne erglühten noch ein-
mal die höchsten Eisgipfel, bevor die Bergkette unsern Blicken entschwand.
Georgische Musikinstrumente.
D6chy: Kaukasu
Wohnhütten in einem Digor ier- Dorfe.
XVIII. KAPITEL.
Zu den Gletschern des Zeja- und Urueh -Tales.
. . . Die Geologie . . . liefcit ilcm Pliysiogeoijraplien
das M.iterial zu einem tieferen Formenverständnis.
A. Pencl<: Die Pliysioseograpliie.
Im lahre i8S6 wurde eine dritte Bergreise im Kaukasus unter-
nommen. HeiT Dr. iM-anz Schafarzik, Sektionsgeologe im Kgl. Ungar. Geo-
logischen Institute'") hatte sich auf meine Einladung der Expedition an-
geschlossen. Dem Reiseprogramm nach, sollten mehrere der auf den beiden
früheren Reisen berührten Punkte wieder besucht werden, um teils die
photographischen Aufnahmen zu ergänzen, teils an einigen Gletschern im
Adai-Choch-Massiv, am Elbruss und in .Swanetien die vorjährigen Be-
obachtungen mit neuen Daten zu vergleichen. Es sollten ausserdem das
östliche Ouellgebiet des Kuban, die Berglandschaften im Westen des Elbruss-
Massivs und das Daghestanische Bergland im Osten besucht werden.
Am i6. Juni verliessen wir Budapest und trafen über Odessa,
Schwarzes Meer und See von Asow am 24. abends in W'ladikawkas ein.
'■) Jetzt k. u. Bergrat und Professor am Polytechnikum in Budapest.
242
Wieder zum Zei-Gi.etschek.
Vier Tage dauerte auch diesmal der Aufenthalt in \\ ladikawkas, um alle
nötigen X'orbereitungen zu treffen und die Verteilung der Reise-
ausrüstung zu besorgen, und am 30. Juni waren wir wieder in St. Nicolai
im Ardon-Tale.
I. Juli. Ein herrlicher Tag brach nach dem Regenwetter der letzten
Woche an, es war, als ob die ganze Natur neu geschaffen worden wäre,
und als wir in der kühlen würzigen Morgenluft das waldige Tal empor-
stiegen und dann über die noch regenfeuchten Wiesen der Zei -Terrasse
wanderten, den prächtigen Gletscherhintergrund vor Augen, um den noch
leichte wei.sse Nebel spielten, da schlug das Herz froh und glücklich der
schönen Natur, den herrlichen Bergen entgegen.
Wir errichteten nahe am Gletscherende, auf dem alten Lagerplatze
das Zelt, und da es noch früher Nachmittag war, ging ich sofort zum
Gletscher, um an den im vorigen Jahre aufgestellten Signalen die Messungen
vorzunehmen. Die meisten Signalblöcke wurden vorgefunden und zeigten
einen Rückgang des Gletschers an.*) Auch einzelne Teile der nahe am
Gletscherende erbauten Mauer standen unversehrt, jedoch jetzt in grösserer
Entfernung vom Eise. Das Gletschertor hatte sich vergrössert, und mit
lautem Getöse entstürzten ihm die Wassermassen, um dann, in mehrere
Arme sich zerteilend, die mit Gerolle und Gesteinsblöcken übersäte, vor-
liegende Ebene zu überfluten. Die Temperatur des Wassers war um
6 Uhr 30 jNhnuten p. m 1,5" C. Das Ende der Gletscherzunge lag
nach einer Messung mit dem Ouecksilberbarometer in einer Höhe von
2064 (B. D.).
Am folgenden Tage (2. Juli) stiegen wir an der linken .Seite des
Gletschers bis zum Eisfall empor. Weiss blühende Rhododendron schmückten
die Talwände. Die Seracs des unteren Eisfalles boten ein herrliches Bild.
Mit photographischen Arbeiten, Höhenmessungen und Sammlungen wurden
hier einige Stunden verbracht.
Wir waren diesmal nicht die einzigen Menschen am Fasse des Zei-
Gletschers. Nahe bei unserm Lagerplatze befindet sich im Talgehänge
eine kleine, von vorspringenden Felsen gebildete Nische, in welcher ich
schon auf einer früheren Reise Schutz gegen Regen gefunden hatte. Vor
dem Eingange in diese Höhlung war aus Steinen eine Mauer aufgeschichtet
und der Raum von mehreren Ossen, Männern und Frauen, bewohnt. Es
war das > Grand Hotel et Etablissement des bains am Zei-Gletscherl Denn
■') Die Blöcke A, B und D zeigten einen Rückgang des Gletschers innerhalb eines Jahres
von 7 m, 4 m 50 cm und 6 m 60 cm an.
16»
— 243 —
CUKR KAMUNTA und DURCH DAS SSONGUTA-TAL ZUM URUCH.
diese Bergbewohner waren hierher gekommen, um in der reinen, kräftigen
Gletscherluft Heilung von Krankheiten zu suchen, als Hauptheilmittel Bäder
im eiskalten Gletscherbach benutzend. Ziegen versorgten die Gesellschaft
mit Milch. lün luftiger Aufenthalt ist es da oben, und eisig sind die
Muten, die dem Gletscher entquillen. Selbstverständlich laufen die guten
Ossen auch barfuss herum, und wer weiss, ob nicht schon längst eine
Korrespondenz zwischen ihnen und dem hochgelehrten Pfarrer Kneipp
bestand, die dieser nur der profanen Welt vorenthalten hat. Auch an
andern Gletschern der ossetischen Berge sollen Kranke oft viele Wochen
verbleiben, so im Skattikom-Tale, im obersten IVuch-Tale und am Karagom-
Gletscher.
Am Abend lagerten wir im Zelte vor der Kirche des Auls Zei. Im
strömenden Regen kamen wir gegen Mittag des nächsten Tages, des 3. Juli,
in St. Nicolai an. Rasch wurden noch alle meteorologischen Instrumente
beobachtet, sodann gepackt, und gegen Abend waren -wir im Bergwerke
Ssadon.
4. Juli. Der Reiseplan führte uns jetzt zu den Gletschern im
Hintergrunde des Uruch -Tales. Ich wählte wieder den Weg über den
Kamuntasattel, in der Hoffnung, einen Einblick in die nördliche Ab-
dachung des Adai - Choch- Massivs zu gewinnen. Leider wurde dies
durch Wolken, welche die höheren Partien des Gebirges bedeckten,
vereitelt. Vom Aul Kamunta setzten wir noch am gleichen Tage den Weg
längs des Ssonguta-Baches fort. Etwa eine halbe Stunde lang stiegen wir
von Kamunta steil bergab. Bei einer Häusergruppe machten die Leute
einen \^ersuch, uns zum Uebernachten zu bewegen. Nach der Besichtigung
des Innern eines dieser Häuser zogen wir es jedoch vor, trotzdem es Abend
war, weiterzugehen, um, wenn möglich, noch den Aul Machtschek zu
erreichen.
Der Weg wurde pittoresker. 13as Tal nimmt einen schluchtartigen
Charakter an. Das Gebiet, welches wir durchzogen, ist eine Fortsetzung
der Sandsteinzone von Kamunta. Spät, in finsterer Nacht kamen wir in
Machtschek (1303 m B. D.) an, wo wir gastfreundlich aufgenommen wurden
und ganz gut untergebracht waren.
Auch der 5. Juli war ein trüber Tag. Graue Nebel und Regen-
wolken hingen über den Bergen. Ich benutzte den Morgen, um einige
Typen, Männer und Frauen, zu photographieren. Interessant war der Be-
gräbnisplatz des Dorfes mit seinen Grabsteinen, welche teils die Form von
Kolonnaden, von kuppelbedeckten Säulen hatten, teils aber quadratische
— 244 —
Im Tale des Uruch nach Stvk-üigor.
Mauern bildeten, welche an den
vier Ecken mit kleinen Säulen
gekrönt waren und den Begräb-
nisplatz umschlossen.
Durch einförmige Landschaft
setzten wir den Weg fort. Unter-
halb des Auls Machtschek stösst
man wieder auf Granit. Der
FIuss hat sich hier, nordwestlich
von Machtschek, sein Bett ganz
in Granit eingegraben, und diesen
überlagernd, finden wir am rech-
ten Ufer die Sandsteine des
unteren Jura.
Von der Höhe einer Terrain-
welle, die der Fluss durchschnitten
hat, bietet sich der erste Blick auf
das Uruch-Tal. Ein steiler Abstieg
führt
Mädchen aus Ma. In-, h.k
den Ssongut (Aigamugi - den)
und einige Minuten später
zur Brücke über den Uruch.
Nun wendet sich unser Weg süd-
lich, das Tal des Uruch auf-
wärts. Man durchschreitet wie-
der eine Zone schwarzen Ton-
schiefers, welche die Fort-
setzung dieser uns von Ssadon
und Kamunta bekannten For-
mation bildet.
In Styr-Digor empfängt uns
mein alter Bekannter und Reise-
gefährte aus dem Jahre 1884,
Oäsen aus Machtschek.
— 245
Dkr Taxa-Gi.ktscher.
Chagasch Karagubajew, und geleitet uns in ein nahe von seinem Wolinhause
befindliches hölzernes Gebäude. Ein trockener, reiner Innenraum erwartet uns,
den Karagubajew rasch wohnlich zu machen versteht. Das Haus, sowie jenes
von Karagubajew, steht in der obersten Reihe am nördlichen Ende der Häuser-
gruppe, die sich etagenförmig an der Talterrasse von Styr - Digor erhebt. Ein
prächtiger Blick auf den Talhintergrund ist die Folge dieser Lage.
Der 6. [uli fand uns schon am frühen Morgen am Fu.sse jenes zirkus-
förmigen Bergrundes (Taimasivcek), an welchem wir 1884 am Wege zum
Schtulivcek vorbeigekommen waren. Wir traten in das kleine ebene Tal-
becken (1669 m B. D.) und folgten dem linken Ufer des Tanabaches, um
den Gletscher zu besuchen, welchem er entspringt.
Pfadlos führt unser Weg zuerst über Gerolle und dann an dem mit
dichtem Birken- und bichtenwald bestandenen. Bergrücken empor. In der
Höhe folgen saftiggrüne Wiesen, auf welchen Alpen- Glockenblumen,
die zarten violetten Blüten des Schnee-Enzian, gelbliche Mohnblumen, Stein-
brech, das reizende blauweisse Vergissmeinnicht und andere farbenreiche
Pflanzen den Blütenschmuck der Alpenmatten auch inmitten der ernsteren
Szenerie des Kaukasus hervorzaubern. Hoch hinauf am Gehänge der Tal-
wand, zwischen den Seitenmoränen, welche den Gletscher begleiten, entwickelt
sich diese reizende Alpenflora, in welcher viele Arten schon der nivalen
Region angehören. Bis nahe an die Eismassen des Tana-Gletschers reicht der
Wald, und über den Baumkronen wird der schneeige Hintergrund sichtbar.
Eine von Felstrümmern und Geröll bedeckte Fläche dehnt sich vor
dem Gletscherende aus. Der Tana-Zete*) ist ein Gletscher erster Ordnung
und setzt sich aus drei Zuflüssen zusammen. Einem mächtigen Gletscher-
tore entströmt der schäumende Bach. Die Zunge fällt steil (30 bis
35") ab, ist etwa 0,5 km breit und im unteren Teile ganz mit Schutt
bedeckt; dieselbe endigt in einer Höhe von 21 19 m (1992 m B. D.). Der
Gletscher liegt zwischen granitischen I<"elsmauern, welche bis hoch hinauf
abgeschliffen sind.
Nachdem eine photographische Aufnahme der Gletscherszenerie ge-
macht war, begann ich an dem nur schwach geneigten Eisfelde anzu.steigen.
Vom hohen Eiswall, welcher den Tana- Gletscher überragt, zieht etwa in
der Mitte de.sselben ein von zerschrundeten Pirnmassen umfluteter Fel.sgrat
herab, welcher seine Schneeregion teilt. Die Krönung des Eiswalls bildet
der Gipfel des Ziteli, indes Laboda weiter in der Ecke gegen Westen
sein Firnhaupt erhebt. Die Oberfläche des Tana-Gletschers zeigt schönes,
'■") Zete bedeutet im Ossetischen Gletscher.
— 246 —
UXWETTKR AM TaXA-GI,F.TSCIII;K.
reines Eis, ist wtmig von Gcrüll bedeckt und auch die Seitcninoränen sind
nur schwach entwickelt.
Am rechtsseitigen Gehänge, das ein leichtes Fortkommen gestattete,
wollte ich mich bis zu einem Felskopfe erheben, der dort vorsprang und
einen ausgedehnten Blick auf den eisigen Hintergrund des Gletschers, be-
sonders in sein westliches Zuflussgebiet, gestatten musste. Allein, trotz
des schönen Moreens hatte sich mit überraschender Schnelliekeit das Wetter
Der Tann- Gletscher.
verschlechtert. Die kleinen, zitternden, silbernen Wölkchen, welche, vom
Süden kommend, zuerst ihr Spiel um die höchsten Cjrate des Gebirges
trieben, hatten sich rasch zu Wolkenballen verdichtet, welche jetzt regungs-
los auf demselben lagerten. Die Luft selbst füllte sich mit grauem Höhen-
rauch. Das eisige Halbrund, das den Gletscher beherrscht, leuchtete in
gleissender Weisse durch das Halbdunkel, welches nahendem Unwetter
vorhergeht.
Wir kehren um. Doch kaum ist der von dichtem Birkengebüsch
bewachsene Riegel — eine alte Endmoräne — erreicht, als auch schon
der heranbrausende Sturm die wenigen, kurzstämmigen Kiefern, welche sich
Sonnenaufgang im Kauagom-Tale.
bis hierher vorgewagt haben, zu Boden drückt. Bald fällt auch der Regen
in Strömen. Das W'aldesdickicht gewährt einigen Schutz. L'eber die steilen
Bergwiesen stürzen schäumend die Wasser, und der stark angeschwollene Tana-
bach spielt mit den mächtigen Felsblöcken, die, losgelöst von den Bergwänden
in sein Bett gerieten. Wir
kamen noch früh am Nachmittage
nach Styr-Digor zurück, und ich
hatte Gelegenheit, einige Digor-
typen zu photographieren, dar-
unter einen rüstigen Alten, einen
V'erwandten des Hausherrn, ein
Hadschi, der den Turban des
Mekkapilgers trug und, wie die
Leute sagten, 90 jähre alt war.
Der folgende Tag — 7. Juli
— war einem Besuche des Kara-
gom -Gletschers gewidmet. Es
war noch dunkel, als wir an der
Ecke des Bergrückens empor-
stiegen, der von Styr-Digor
hinüber in das Gebiet des Kara-
gom führt. Als wir den Ueber-
gangspunkt erreicht hatten, be-
rührten die ersten Sonnenstrahlen
die eisigen Gipfel. Leblos und
kalt lag die Tiefe vor uns;
vom dunkeln Talgrunde hob sich
nur das weisse, gekrümmte Band
des Baches ab, und im düsteren Walddickicht lag die tote Ma.sse des
mächtigen Gletscherstromes.
Jetzo erhob sich die Sonne ....
Auf zum ehernen Himmel, zu leuchten den ewigen Göttern
Und den sterblichen Menschen auf lebenschenkender Erde. «
Odyssee III.
In der Höhe hüllten die schneeigen Gestalten sich rasch in eine Reihe von
Farbentönen, die in grosser Zartheit zwischen Rosa und Molett wechselten,
bis sich dann in immer steigender Intensität eine Lichtfülle über das Ge-
birge ergoss, welches stufenweise auch die beschatteten Partien aufhellte
und auf die kurz vorher noch so kalte Landschaft den glänzenden Lebens-
D i y o r i e r.
HAESC'HI im ST'YT^-DIGtOR
Das ÜisERSETZEN DER Bergbäche. — Wald und Alrenwiesen.
hauch des siegreichen Tagesgestirns warf. Lange standen wir still, in Be-
wunderung vor diesem herrHchen Schauspiel versunken.
Nur mit Mühe konnte man den Karagom-Bach übersetzen, um den
Pfad an seinem rechten Ufer zu erreichen. Das Wasser hat hier eine
Breite von etwa 20 bis 25 m. Es dürfte allerdings nur etwas mehr als
einen Meter tief sein, allein es ist so reissend, dass die Pferde nur mit harter
Mühe sich durch den Gesteintrümmer mit sich führenden, eisigkalten Bach
durcharbeiten können. Getrieben, werfen sich die Pferde in das stürmische
Wasser. Sie sondieren die Tiefe und eilen rasch bis gegen die Mitte. Man
hört und fühlt, wie sie zwischen den Felsblöcken des Baches sich durch-
arbeiten, oft in schwimmender Bewegung, sie kämpfen eine Minute im
Wirbel, der sie mitreisst, fassen jedoch wieder P^uss, um in gerader Linie
das Ufer zu gewinnen. Einem furchtsamen Reiter mag es bange werden,
insbesondere in der Mitte des Baches, wenn das Pferd in entgegengesetzter
Bewegung das brausend daherschiessende Wasser durchschneidet.
Am jenseitigen Ufer gelangt man in dichten W^ald, zumeist Eichten
und Birken, welche zum Teil auf alten Seitenmoränen stehen. Der Weg
windet sich durch Unterholz neben blühenden Crebüschen der Azalea
pontica. Hohe Moränenrücken entziehen das Gletscherende dem Auge des
Wanderers. Dann geht es eine Strecke nahezu eben über Rasenflächen,
die von Myosotis, Cirsium, Geranium, Alchemilla, Ranunculus und andern
artenreichen Alpenpflanzen besät sind. Auf einer kleinen, von herrlichen
Baumriesen umstandenen Wiese rasten wir. Köstliches Ouellwasser rieselt
in der Nähe.
hl der Stille des Waldes klingt die Axt; Digorier zimmern dort ein
Blockhaus ; es soll, wie man uns sagt, für Sommerfrischler bestimmt sein,
kranke Bergbewohner, welche gleich denen, die wir am Zei-Gletscher trafen,
durch Gletscherluft und Gletscherwasser gesunden wollen. Die Wahl des
Platzes macht übrigens dem landschaftlichen Sinne der Bergbewohner alle
Ehre. Nichts Reizenderes kann gedacht werden. Dichte Baumkronen
spenden erquickenden Schatten dem auf grünem Rasenpolster Ruhenden.
Der Blick fällt hinaus auf sonnenbeschienene, freundliche Tallandschaft, und
durch das Geäste der Fichten und Tannen schimmern die Eismassen des
Karagom-Gletschers.
Nur einige Schritte, und wir stehen am Rande des Waldes, und vor
uns liegt die Eisflut, eingebettet zwischen gezackten Felsgraten. Aus der
Höhe, aus den Firngehlden, welche die ganze Breite des talschliessenden
Bergwalles einnehmen, stürzen die Eismassen zersplittert und zerklüftet nieder
Dkr Kakacom-Gi.ktsciier.
und bilden einen mächtigen Gletschcrstrom, der tiefer unten in schwachem
Gefälle talabwärts zieht. Dieses stürmisch bewegte Bild krönt, am obersten
Rand auftauchend, eine Firnkuppe in makelloser Weisse und mit sanften
Linien. Die Atmosphäre war von einer ausserordentlichen Durchsichtigkeit,
und doch zeichneten die Linien sich weich und sanft, wie es bei feuchter
Luft, vor Eintritt von Regen der Fall zu sein pflegt. Auch das Licht,
welches die Landschaft umflutete, wirkte nicht blendend, sondern streute
Töne von grosser Farbenzartheit über Eis, Fels und Wald. Plötzlich türmten
sich in der Höhe mächtige Wolkenburgen auf; ein phantastisches Chaos,
düster und ernst, das dann lange regungslos blieb, ohne sich der Firnkuppe
zu nähern, die sonnenbeleuchtet und rein da oben thronte. So sah ich den
Karagom-Gletscher, wanderte über denselben bis an seinen riesigen Eisfall
und photographierte seine herrlichen Bilder.
Der Karagom-Gletscher gehört zu den grössten Gletschern des
Kaukasus ; derselbe breitet sich über eine Pläche von 40 qkm aus und er-
reicht mit seiner Firnregion eine Länge von 14 km. Man kann alle Er-
scheinungen der Gletscher, Mühlen, tiefe Klüfte, Gletschertische, bemerken
und die herrliche, grünlich-blaue Farbe des Eises bewundern. Der Gletscher
trägt keine Mittelmoräne, dagegen sind die Seitenmoränen bedeutend ent-
wickelt. Am linken Ufer dehnen sich grüne Wiesen aus, auf welchen
Herden weiden. Dort öffnet sich eine gletschererfüllte .Schlucht, welche
hoch hinauf bis an den Hauptkamm zieht.
Auf dem Rückwege vom Eisfalle wollte ich die steinige Seitenmoräne
vermeiden und am Gletscher bleiben, wir kamen jedoch bald in ein Labyrinth
LaCERI.KUKN TM KARACd.M-TAI.K.
o-rosser Spalten, die über unergründliche Tiefen sich öffneten, und es kostete
Arbeit, bis wir wieder an das rechte Ufer des Gletschers gelangten. Vom
Lao-er stiegen wir an den Hängen einer alten zum Teil schon bewachsenen,
etwa 150 m hohen Seitenmoräne zur Gletscherzunge nieder. Aus einem
weiten Gletschertore strömten die trüben Wasser. Grosse Schutthaufen
umgeben das Ende des Gletschers. Dasselbe liegt In einer Höhe von
1765 m (1742 m B. D.); die tiefste Grenze, zu welcher ein Gletscher an
der Nordseite des Kaukasus herabreicht. An einem riesigen Granitblocke
zeichnete ich mit roter Oelfarbe, weithin sichtbar, ein Kreuz, Namen des
Beobachters, Entfernung vom Eise — 12 m 15 cm — und Datum der
Beobachtung.
Am Gletscher und auf den Moränen wurden Granit mit Glimmer
und porphyrisch ausgeschiedenem Orthoklas, sowie dunkelbraune Felsitpor-
phyre gesammelt. Ein Diorit zeigte einen Gesteintypus mit Uebergängen
bis zum Amphibol-Granit. Zahlreich umherliegende Andesite gehören wahr-
scheinlich einer jener Andesiteruptionen an, die auf der ganzen Kette
zwischen Kasbek und Elbruss ziemlich häufig auftreten. Dieser Andesit
dürfte höher oben in der Firnregion zum Durchbruch gelangt sein
und die Gesteine wurden auf dem Rücken des Gletschers herabtrans-
portiert.
Es war ein schöner, genussreicher Tag gewesen und als wir abends
wieder am Zeltplatz eintrafen, herrschte dort geschäftiges Treiben. Unter
der Leitung Karagubajews:
».abwärts unter der Eiche bereiten Diener die Mahlzeit«.
Ilias XVIIL
Was nur diese Bergbewohner alles aus einem Schafe machen können I Und
nach der Ruhe, die während des Essens herrschte, wurde es immer leb-
hafter, und nach dem Schmaus erklang das Singen und Lachen der Träger
und Pferdetreiber.
Am 8. Juli wanderten wir talabwärts, vorbei an dem vom Bartü-Zete,
einem grossen Tal-Gletscher, erfüllten Seitentale, und erreichten den kleinen
Aul Dsinago, durch welchen ich schon vor zwei Jahren gekommen war. Die
Dorfbewohner waren diesmal sehr freundlich und boten uns ein Gläschen
selbstbereiteten Kornbranntweins an. Hinter Dsinago überschritten wn-
den Uruch. Hier nahmen wir von Karagubajew Abschied; diesmal hatte
er gastfreundlich seines Amtes gewaltet, und mein Versprechen, ihm seine und
Hadschis Photographie, welche ich aufgenommen hatte, zu senden, habe
ich getreulich gehalten.
Geologische Formationen im Urucii-Tale.
Die Wanderung- durch das l'riich-'Fal führt durch eine pittoreske
Landschaft. Die einander folgenden Formationen der Ivristallinischen Ge-
steine, der Tonschiefer und der Jurakalke, bringen ein abwechslungsreiches
Relief des Tales hervor, welches durch erodierende Kräfte morphologisch
weiter ausgestaltet wurde. Stellenweise engt das Tal sich schluchtig ein.
In bizarren Formen steigt die Jurakette auf. Leider wurde der letzte Teil des
[m Uiuchtale.
Weges im Regen zurückgelegt, und als wir uns Sadelesk näherten, begann
das Unwetter mit Donner und Blitz, Hagel und sintflutartigem Regen zu toben.
Wir waren froh, in Sadelesk — das nach meiner Barometermessung
in der Höhe von 1294 m (B. D.) liegt — unter Dach zu kommen. Wir
waren in einer zwar armseligen Hütte untergebracht, aber wir hatten einen
ausserordentlich warmen, gastfreundlichen Empfang gefunden, ohne Em-
pfehlung und ohne Vorzeigung unserer offenen Order. Ich erwähne dies,
weil ich nach den Erfahrungen der vorhergehenden zwei Reisen geneigt
war, die Gastfreundschaft im Kaukasus für eine ausschliesslich den moham-
medanischen Tataren, im Gegensatze zu den christlichen Bergvölkern, eigen-
Erosion im Urucii-Talk.
tümliche Tugend zu halten. Nun hatten wir aber in diesem Jahre überall
bei Ossen und Digoriern eine gastfreundliche Aufnahme und ein Bestreben,
der Ausführung unserer Reisepläne dienlich zu sein, gefunden, während wir
im weiteren Verlaufe unserer Reise im Karatschai noch den zügellosen
Charakter wilder, dem TVemden gegenüber unfreundlicher mohammedanischer
Völkerschaften kennen lernen sollten.
9. Juli. Der Niederstieg durch das Uruchtal führt von Sadelesk durch
enge, waldumstandene Schluchten, in welchen stellenweise eine reiche Vege-
tation sich entwickelt. Diese Talstrecke ist auch wasserreicher als die ent-
Uruch-Schlucht i.-\chschinta-Kom).
Sprechenden, meist trockenen und vegetationslosen Partien der andern Ouer-
täler. An den bewaldeten Bergwänden flattern Kaskaden, von allen Seiten
stürzen Bergbäche in den Uruch. Wenn es auch keinem Zweifel unterliegen
kann, dass dieses enge und tief eingeschnittene Ouertal seine Entstehung
und Richtung tektonischen Prozessen zu verdanken hat, so ist anderseits
die mächtig erodierende Wirkung des in seinem tief eingeschnittenen Bette
mit Geröll beladenen Gletscherflusses nicht zu unterschätzen. Die Erosion
setzte insbesondere jenen Talabschnitt auf ein tieferes Niveau, welcher ausser
Sandsteinen aus weichen Tonschiefern der unteren Juraformation besteht.
Der Saumpfad hebt sich, und an der engsten Stelle der Talschlucht über-
brückt ein natürliches Sprengwerk — die Teufelsbrücke — den am Grunde
Die Teufklsbrücrk im Uruch-Tale.
einer etwa 80 m tiefen, kaum 10 m breiten T'elsspalte tosenden Fluss. Es ist
dies der wild-romantischste Punkt des Weg-es. (Achschinta-Kom.) Von der
Brücke blickt man in die Tiefe der Felsenkluse, welche sich der Bach erodierte.
Ein herabfallender Stein brauchte vier Sekunden bis er an der Oberfläche
Vegetation in der Uruch -Schlucht.
des Wassers aufschlug. Die Vegetation, welche sich hier am üppigsten
entfaltete, überwuchert das Gestein mit Moosen und Flechten, umzieht
Stämme und Zweige der Bäume mit Schlingpflanzen und lässt ein dichtes,
grossblättriges Gebüsch entstehen.
Aus der Formation des Jurakalkes, in welcher wir bis jetzt wanderten,
gelangt man hinter dieser Schluchtpartie in ein waldiges Hügelland, welches
— 254
Durch die Vorberge ix die Terek-Eüene.
die Kalke der oberen Kreidezone bilden.*) Mächtige Buchttn forste (I'agus
Orientalis) werden dann durchschritten. Bodenlos ist oft der Kot. Tief
erodieren sich einzelne Wasserläufe ihr Bett im lehmigen Boden, im leicht
zerweichenden Tonschiefer, hii Bett eines dieser Bäche, des .Surchssu, fand
mein Reisegefährte einige mit Schwefelkies erfüllte, aussen noch ihren
prachtvollen Perlmutterglanz besitzende Ammonite. Nach diesen letzten,
immer niedriger werdenden Vorlagen des Gebirges folgt dann rasch
die Steppe.
In Mahomedansk, das wir nach einem langen Tagesmarsche
abends erreichten, blieben wir über Nacht; wir verweilten nur wäh-
rend der finsteren Stunden der Nacht dort, denn von Schlaf war keine
Rede, da es in dem Zimmer, wo wir hätten schlafen sollen, sobald das Licht
verlöscht war, von höherem Ungeziefer wimmelte. Kein Wunder, dass wir
um 3 L'hr morgens zum Aufbruche drängten, und einige Minuten nach 4 Uhr,
am 10. Juli, fuhren wir mit den von Alagir hierher beorderten Telegen durch
die Steppe dem Terek zu. Mit einer Troika fuhren wir, die andere
Telega nahm das Gepäck auf. W'ir wollten die Bahnlinie Wladikawkas-
Rostow bei der Station Elchetowo erreichen, um von dort zu unserm
nächsten Ziele, den Mineralquellen am Nordfusse des zentralen Kaukasus,
zu gelangen.
Noch sollte eine kurze Strecke vor Erreichen der Bahnstation ein Un-
fall uns aus dem schlaftrunkenen Zustande stumpfer Gleichgültigkeit erwecken,
in den wir verfallen waren, nachdem wir nach der elenden Nacht einige
Stunden lang in der Telega durchrüttelt worden waren. Die Gepäckstelega
brach plötzlich zusammen. In meilenweiter Entfernung war kein anderes
Gefährte aufzutreiben, und nur eine kurze Zeit trennte uns vom Abgang
des Zuges. Hätten wir ihn versäumt, so wären wir gezwungen gewesen,
I 2 Stunden auf der einsamen Station bis zum Abgange des nächsten Zuges
zu warten. Da gab es nur ein Hilfsmittel: das Gepäck auf unsere Telega
zu packen. Wir legten alle mit Hand an, und rasch gelang dies. Hoch
war das Gepäck nun in dem kleinen Karren aufgetürmt. Wir selbst er-
kletterten dasselbe. Ich erinnere mich nicht, wo sich mein Reisegefährte
unterbrachte. Ich thronte rückwärts in der Höhe, meine Beine baumelten
frei in der Luft, und es gehörte etwas Kunstfertigkeit dazu, sich in dieser
Lage zu erhalten, ohne zu Fall zu kommen, der selbst auf dem Lehmboden
*) Es gelang Dr. Schafarzik, sich hier in den Besitz einer Reihe von Kalksteinen zu setzen,
die reich an Versteinerungen waren.
— 255
7x DKN Radeorten am Norufusse des Kaukasus.
der Steppe unangenehm gewesen wäre. Was die wohl zu Hause gesagt
hätten, wenn man unsern Einzug in die Bahnstation Elchetowo gesehen hätte!
Und als wir beiiuem im Coupe untergebracht waren, drängten sich
mir die Erinnerungen an die letzten Wochen im Hochgebirge auf, an dessen
weltentrückte Abgeschiedenheit, an die primitiven Sitten und Hilfsquellen
seiner Bewohner, all dies in verhältnismässiger Nähe einer der grössten Er-
rungenschaften der europäischen Zivilisation, der Dampfmaschine.
Stephanoceras Liechteiisteinii, nov. sp.*)
*) Neue Species aus der Sammlung von Versteinerungen. S. Bd. III. Geologische
Ergebnisse.
'P EBEP^DA- ÖCHLUCHT
Kuban-Tal vor Chumara.
XIX. KAPITEL.
Die Mineralquellen am Nordfusse des Kaukasus.
Durch die Teberda zum Kluchor-Pass und nach dem
Karatschai.
»Je grösser und eindringender die Kenntnis der
einzelnen Züge im Naturleben, der geologisclien und
meteorologisclien Verhältnisse, der so überaus reichen
Formen der Pflanzen- und Tierwelt auf der Erde
und im Meere, desto stärker, weiter und tiefer
wird auch die Liebe zur Natur.
Birse: l>k- KiitwickUmu ,les Xaturgefühls.
Es ist ein flachwelliges Hügelland, aus welchem die aus fünf
isolierten, kegelförmigen Bergen bestehende Gruppe des Beschtau sich er-
hebt.''') Diese Berge, deren höchster Gipfel, der zweikuppige Beschtau,
1400 m erreicht, geben der Landschaft um Pjätigorsk das Gepräge. Ueber
einem Untergrund von eocänen Mergeln, die an der Oberfläche durch dilu-
viale und alluviale Gebilde verdeckt sind, bauen sich die Beschtauberge mit lichten
Kalksteinen und Trachyten auf. Der Bodenbeschaftenheit nach, sind wir noch
immer in der staubigen, stellenweise sonnenverbrannten, kurzgrasigen Steppe,
wie sie sich im Norden längs der ganzen zentralen Kette des Kaukasus
hinzieht, und erst vor Pjätigorsk fahren wir durch ein Wäldchen, dessen
Grün dem Auge des von der kahlen Steppe Kommenden wohl tut.
*) Besch = fünf, und tau = Berg im Tatarischen.
Dechy: Kaukasus. 17
Die GkurrE hes Beschtai' und die Mineralquellen.
Die klimatischen X'erhältnisse, insbesondere die grössere Feuchtig-
keit innerhalb des Gebietes des Beschtausystems begründen den auffallen-
den Unterschied im Vegetationsleben desselben, im Vergleiche zu jenem
der angrenzenden Steppe. Diese macht selbst in den kurzen Phasen der
Blüteentwicklung den Eindruck des Einförmigen. Um so mehr er-
freut die kleine Waldzone um Pjätigorsk, und angenehm fallt das saftige
Grün der VViesenflora auf Das Studium der lokalen Flora bietet
hier an den Bergen des Beschtausystems, welche als isolierte Er-
hebungen über die umliegende Oberfläche emporragen, dem Botaniker
hohes Interesse.
hl den Wäldern, deren Zone sich bis zur Höhe von iioo m er-
streckt, stehen Eichen, Buchen und Birken als herrschende Holzgattungen.
Dazwischen kommen Bäume vor, die in einer ihren Arten entsprechenden
vertikalen Verbreitung, insbesondere an den sanfteren nördlichen Abhängen
stark übergreifend, bald das Gehölz der Ebene, bald den Typus der Nieder-
waldungen bis zu jenem der alpinen Hölzer repräsentieren, darunter zum
Teil viele dem Kaukasus eigene Spezien.
Pjätigorsk liegt in der Höhe von 530 m am Südfusse des nahezu
1000 m hohen Maschuka-Berges, einer isolierten Kuppe, um welche sich
der Podkumok-Bach windet. Die hübsche Hügellandschaft von Pjätigorsk,
eine grünende Oase in der umgebenden Steppe, erhält durch den Anblick
der am Rande des Gesichtskreises erscheinenden kaukasischen Schneekette
einen grossartigen Abschluss. Leider war das Wetter während unseres
Aufenthaltes in Pjätigorsk, wenn auch nicht schlecht, so doch kein für Aus-
sichten günstiges. Eine drückende Schwüle lag über dem Ort, die Luft
war von Staub fast undurchsichtig, der Himmel eintönig grau und die
fernen Berge blieben uns verhüllt. Wir sehnten uns wieder nach frischer
Bergluft und eilten weiter nach Kislowodsk.
Die in kurzer Entfernung von einander liegenden Badeorte Pjätigorsk,
Dschelesnowodsk, Essentucki und Kislowodsk verdanken den Mineralquellen
dieses Gebietes ihr Entstehen.*) hi der Ihngegend gibt es noch eine An-
zahl verschiedener Quellen ; die meisten derselben liegen am Rande der
oberen Kreidezone oder auf eocänem Gebiete, die Quelle von Kislowodsk,
*) Alle diese Quellen sind sowohl ihrer Temperatur, wie auch ihrer Zusammensetzung
nach sehr verschieden. Pjätigorsk besitzt heisse Schwefelquellen mit einer Temperatur von 30 bis
47° C. Dschelesnowodsk hat eisenhaltige Wasser von 13 bis 5 1° C. Die zahlreichen Quellen
von Essentucki sind alkalische kalte Wasser mit einer Temperatur von 10 bis 15° C. und der
»Narsan« genannte Brunnen von Kislowodsk ist ein eisenhaltiger Säuerling von 14° C.
— 258 —
VOX KlSLciWODSK INS HOCllGEi;iR(;K.
die am weitesten !^eg-en Süilen vorgeschoben ist, steigt jedcjch bereits auf
dem der unteren Kreide auf.
Das Auftreten dieser Quellen hängt mit den Bruch- und Spaltungs-
linien des Gebirges zusammen, wie denn auch eine sehr bestimmte lineare
Verteilung der Thermen in jenen Hauptrichtungen zu konstatieren ist,
welchen die Gliederung des Gebirges selbst folgt. Dagegen steht dieses
Thermensystem, trotz des im Süden und relativ nahe liegenden Elbruss,
eines ehemals in grossem Massstabe tätigen vulkanischen Herdes, in keinem
direkten Zusammenhange mit dem Eruptivphänomen, und die Wirkungen
der Vulkanität erstreckten sich nicht auf diese Ouellwasser.
Am Wege nach Kislowodsk geht das steijpenartige, fiachwellige
Terrain langsam in eine breite, vom Podkumok durchströmte und von
niedrigen Hügeln gebildete Talformation über, deren Grund zum Teil be-
grünt, jedoch vollkommen baumlos ist. Aus dem mit quaternären Gebil-
den bedeckten eocänen Gebiete gelangt man ansteigend in die Formation
der oberen Kreide, deren Hügel vor Kislowodsk und diesem zugekehrt
steil abbrechen. Jenseits dieses Abfalles folgt das Terrain der untercreta-
ceischen Sandsteine, in w^elchen Erosion eine kesseiförmige Talweitung
schuf. hl ihrer Mitte breitet sich Kislowodsk aus. In der Höhe von
900 m, dem Hochgebirge näher, weht dort auch schon eine frischere Luft
als in Pjätigorsk, doch ist mit Ausnahme der Anlagen, Gärten und Alleen
des Ortes selbst die landschaftliche Lage eine geradezu unschöne. Die
Umgebung ist monoton in ihren Formen, ohne alle Vegetation und ohne
Wald, und nach keiner Seite bietet sich ein freier Ausblick, nirgends treten
anziehende Objekte in Sicht. Auch Elbruss ist von Kislowodsk nicht sicht-
bar und man muss die im Süden aufragende Jurakalkkette des Bermamut
besteigen, um den Anblick des höchsten Kaukasusgipfels zu gewinnen.
Am Morgen des 17. Juli fuhren wir in einem guten Wagen, von einer
Troika munterer Tatarenpferde gezogen, das Podkumok-Tal aufwärts, wieder
dem weltentrückten, einsamen Gebirge entgegen. L^nser nächstes Ziel war
das Kuban-Tal und eines seiner bedeutendsten Seitentäler, das der Teberda,
welches wir bis auf die Höhe der wasserscheidenden Hauptkette verfolgen
wollten. Der Aul Abukowa ist die letzte Ansiedlung auf unserm W^ege.
Erst jenseits der scheidenden Bergzüge, schon Im Kubangebiete, sollten
wir wieder bewohnte Ortschaften antreffen.
Der orographische Grundzug des Gebietes, welches wir durchziehen,
ist der eines Tafellandes, welches durch kleine canonartige Gräben und
Erosionsfurchen durchschnitten ist. Diese durch die Täler der Kuma, des
17*
— 259 —
Das Tafelland zwischkx IMai.ka und Kuban.
Podkumok und der Malka entwässerte Tafelzone neigt sich gegen Nord-
osten, dem Bergzuge entgegen, welcher die Wasserscheide zwischen dem
Schwarzen und Kaspischen Meere bildet. Derselbe beginnt in der Axe der
Elbrusskegel und trennt, weiter gegen Norden streichend, die eben an-
gegebenen, dem Terek tributären Täler vom Musssysteme des Kuban.
Ueber die Plateauhöhen dieser, der unteren Kreide angehörenden Sand-
steinformation führte unser Weg.
Abends, nach neunstündiger Fahrt, gelangten wir südöstlich von dem
Kumbaschi genannten, etwa 2200 m hohen Berge an den nach dem Kuban-
gebiete abfallenden Rand der Hochflächen, welcher nach meinen Messungen
an dieser Stelle 2027 m (A. D.) erreicht. Mit uns war ein heftiges Ge-
witter herangezogen, das Hagel und Schnee brachte. Nachdem das Ge-
witter ausgetobt hatte, schlugen wir unmittelbar am Plateaurande das Zelt
auf, und trotzdem es noch immer etwas regnete, versuchten wir zu kochen.
In der Nähe unseres Lagerplatzes war ein Kosch und auf der Kubanseite
weideten zahlreiche Schafherden.
Am 18. Juli brachen wir erst nach 10 Uhr auf, da die hierher be-
stellten Pferde nicht früher angekommen waren. Das Tafelland fiel, soweit
sichtbar, der ganzen Ausdehnung entlang nach Südwesten, an einzelnen Stellen
mit klippigen Steilwänden, ab.
Bis an den Plateaurand konnte man nur weiche, tonige Sandsteine be-
obachten, hier aber, am steilen, gegen Süden gerichteten Abhang, veränderte
sich mit einem Schlafe das ganze geologische Bild. Es zeigten sich rot-
0000 "->
braune Tonschichten, und unter denselben waren bräunlich-weisse, eben-
flächige Kalksteine sichtbar, die bloss unter einigen Graden nach Nord ge-
neigt waren.
Das hügelige Waldgebiet, in welches wir im Abstiege gelangen, ge-
hört der Sandsteinformation an. Die Jurakalkkette, welche vom Ardon bis
zum Bakssan in allen nördlichen Ouelltälern des zentralen Kaukasus zu so
mächtiger Entwicklung gelancrt, fehlte hier, westlich vom Erhebungszentrum
des Elbruss, gänzlich. Der tektonische Aufl^au des Gebirges, der Lauf der
Flüsse in diesem Gebiete ist ein ganz verschiedener.
Am Abend, nach einem langen Tagemarsch, als wir uns der engen
Mündung des Mara-Tälchens, dessen Bache wir gefolgt waren, näherten,
erblickten wir vor uns das breite Tal des Kuban. Die Talland.schaft bot
ein pittoreskes Bild, welches in wärmere Farbentöne getaucht war, als sonst
die Nordtäler des zentralen Kaukasus. Der Talgrund bildet eine wellen-
förmige, zum Teil begrünte P^läche, durch welche der Strom rauscht. Die
— 260 —
Wkchskl I1KR Gksteixsartex im Tehi-'.roa-Tai,?:.
Häusergruppen von Chumara und, entfernter davon, der Aul Ssetinskü sind
sichtbar. In der Mitte der Talflucht erhebt sich ein turmähnliches Hügel-
gebilde, an dem der Muss vorbeischiesst. An den Talwänden steht dichter
Laubwald. Darüber ragt eine mit Zacken, Zinnen und Türmen besetzte
Eruptivkette auf. Aus der berne schauen verblauende Berge herein. Der
Abendsonnenschein umspielt jetzt das rötlich-braune Gestein dieses Fels-
baues und erglüht später noch an den grünlich gefärbten Zacken und
Nadeln der Trachytkette, während in der Taltiefe schon die Schatten des
Abends lagern.'-')
Vor Chumara liegen hügelförmig geschichtete alte Moränen und am
Fusse der Tal wände ziehen sich von Glazialschutt bedeckte Terassen hin.
In der Nähe erscheinen mächtige Sandsteinbänke mit schwachen nördlichen
Einfällen, welche etwas weiter gegen Süden bei Ssetinskü in Konglomerate
übergehen.
Die Nacht wurde in Chumara, in einer früheren Militärkaserne ver-
bracht, nach meiner Messung 837 m (A. D.) hoch gelegen.
Im spitzen Winkel trifft sich der aus Südwesten kommende Kuban,
der Hauptquellfluss, mit der vom Süden niederströmenden Teberda. Der
von den Ouellbächen des Elbrussmassivs gebildete Kuban führt graue und
bedeutendere Wassermengen als die klare, weissliche Teberda. Die Ufer
der Teberda werden von gelblich-braunen Sandsteinen gebildet, über welche
dann eruptive Grünsteine gelagert erscheinen. Während vor den auf einer
kleinen ebenen Talfläche gelegenen ärmlichen Hütten des Aul Ssetinskü
statt der Grünsteine wieder die Sandsteinformation durchbricht, treten südlich
hinter der Ssetinskibrücke (1064 m A. D.) plötzlich meist grüne und rote,
breccien- und konglomeratartige Gesteine und vorwiegend arkosenartige
.Sandsteine auf. Diese Konglomerate besitzen noch Einschlüsse von Frag-
menten kristallinischer Schiefer, von Granitstücken und weiter südlich
auch noch von lebhaft rot oder rotbraun gefärbten Feldspatporphyren.
Der Wechsel im Gestein, insbesondere die zum Teile demselben ent-
sprechenden scharfen Zacken, Zähne und Türme der Felsbildungen am
Talgehänge, sowie deren lebhafte, verschiedenartige Färbung, machen
den Weg durch die Teberda zu einem abwechslungsreichen. Erst
in der Nähe des Aul Teberdinsk (1-03 m A. D.) werden diese
Formationen von kristallinischen Schiefern, Glimmerschiefern und Gneisen
unterlaeert.
*) Diese Ketten bestehen anscheinend aus Eruptivgesteinen.
— 261 —
Das TF.nERDA-T.M. v.v.i Teberdinsk.
Eingeborene aus Teberdinsk.
Während des Auf-
enthaltes in Teberdinsk,
führte ich langwierige
Unterhandlungen über
unsere Weiterreise, Ziel,
Pferde und Träger untl
machte dann noch eine
photographische Auf-
nahme von drei der an-
gesehensten Bergbewoh-
ner des Auls.
Teberdinsk liegt in
einer ebenen, baum-
losen Tahveitung, deren
Boden mit diluvialem
und alluvialem Gestein-
schutt aufgeschüttet ist,
worin sich der Fluss
tief eingeschnitten hat.
Hinter dieser Talstufe beginnt das Tal sich wieder zu verengen. Der
Weg führt höher oben durch dichten Birkenwald, schon mit Kiefern
untermischt, in welche sich dann die Riesenstämme der Tannen mengen.
Immer mehr
nimmt nun die
Landschaft
den Charakter
eines alpinen
Hochgebirgs-
Tales an. Die
schönen Tan-
nenwälder,
das saftige
Grün der Mat-
ten, der rau-
schende Bach,
hochaufstre-
bende Fels-
im Teberda-Tai. hörner über
262
Alpine Hociigeiurgslandschaft in der Teberoa.
dem Falgehänne und, in einer Lücke desselben, im Süden der Anblick firn-
bedeckter Gipfel geben ihr dieses Gepräge. Im Nadelholz liegt die stilleWasser-
fläche eines kreisrunden Teiches, eines alten Moränensees. Unweit de.sselben,
am andern Ufer der Teberda, in einem einsamen Hause schlugen wir unser
Hauptquartier auf Die Seehöhe dieses Punktes beträgt 1322 m (A. D.).
Erst am 23. Juli, nach drei langen Regentagen, setzten wir unsere
Reise talaufwärts fort. Wir hatten beabsichtigt, den wasserscheidenden
Kamm der Hauptkette am Kluchor-Pass zu überschreiten, in das südliche
Tal des Klytsch, eines Ouellflusses des Kodor, niederzusteigen und über
Die Teberda und die Gipfel und Gletscher im Amanaus-Tale.
den Nachar-Pass nach Utschkulan im Karatschai zurückzukehren. Allein,
schon hier musste ich mich dem Starrsinne der Teberdaer beugen. Sie
erklärten, es sei unmöglich, mit Tragtieren diesen Weg, insbesondere die
Ueberschreitung des Nachar-Pa.sses, auszuführen, und sie wollten sich um
keinen Preis herbeilassen, als Träger des Reisegepäckes zu dienen. Alles
Zureden, alle Versprechungen waren umsonst, und es blieb nichts übrig, als vom
Kluchor-Passe wieder zurückzukehren und dem Gebiete von Karatschai über die
Utschkulan von der Teberda trennenden Ouerjoche des Gebirges zuzustreben.
— 263 —
DiK Teüerda-Sciii.uciit,
Durch Wälder, welche aus verschiedenen Laubhülzern, Buchen,
Weissbirken und höher oben schon aus Kiefern und Nordmann -Tannen
bestehen, und dann über grünes Wiesenland führte drei Stunden lang der
Weg. In einer Höhe von etwa 1450 m tritt die Teberda in eine wieder
erweiterte Talsohle, welche sie zum Teil überflutet und von welcher sich
ein besonders schöner Anblick des eisigen Hintergrundes — die Gipfel mit
den sie umschlingenden Gletscherströmen im Seitentale des Amanaus — bietet.
Bis hierher hat die Teberda eine senkrecht auf die Achse des Haupt-
kammes ziehende Richtung eingehalten. Nun ändert sie diesen Lauf und
strömt durch ein längentalartiges, gegen Südost streichendes Tal. Aus
dem im .Süden sich öffnenden Amanaus-Tale dringt ein bedeutender Ouell-
fluss der Teberda. Am Zusammenfluss der beiden Bäche liegen grosse,
alte Moränen, aus Graniten, Gneisen, Porphyren, Amphiboliten bestehend
und von Glazialschutt bedeckt, einst die Mittelmoränen der aus dem
Amanaus- und dem Kluchor-Tale (südöstlicher Zweig der Teberda) nieder-
ziehenden Gletscher, die sich hier vereinigten. Die Teberda dringt aus
einer Enge, welche fast senkrecht aufragende, zum Teil baumbestandene
Gneismauern bilden. Der schmale Pfad steigt zur Linken an diesen
Wänden empor. In der Tiefe, in felsiger Klüse tost mit dumpfem Donner-
ton der Bach. Nach etwa einer Stunde erweitert sich dieses Taldetile der
Teberda und in einer Höhe von etwa 1 700 m empfängt den Wanderer ein
lano-credehntes Wiesenhochtal, dessen Bergwände mit Laubwald und Nadel-
hölzern bedeckt sind. Bei einer Hüttengruppe öffnet sich links ein
Seitentälchen, aus welchem der einem bedeutenden Gletscher entströmende
Buulgenbach tritt. In der Höhe erscheint das Gebirge, das zwischen den
beiden Ouellflüssen
der Teberda sich ein-
keilt. Es sind schwarze
Felswände mit steilen
Abstürzen, an welchen
nur wenig .Schnee haf-
tet. Die Gipfel, unter
welchen eine Dru-ähn-
liche Nadel auffällt,
waren leider zum Teil
in Wolken gehüllt.
Nach einer weite-
ren Stunde, während Mündung des Buulgcn-Tales.
264
Der See Tumanlv-Gel in der Teüerda.
der wir mit Ausnahme der allerletzten Strecke kaum gestiegen waren, stehen wir
am Ufer eines runden Bergsees ; Tumanly-Gel.*) Es ist ein typischer Moränen-
see, und die ihn umgebenden Tahvände und der Talboden haben das morpho-
logische Aussehen einer Moränenlandschaft. Bewaldete Hänge senken sich von
beiden Seiten zu ihnen herab, indes in der Hintergrundsferne schon geformte
Felsberge, zum leil schnee- und gletscherbedeckt, sich erheben. Es ist ein
reizendes Bild, das hier im Kaukasus, bei dem nahezu gänzlichen Mangel
an Seen, eine überraschende Wirkung ausübt. Denn dem Kaukasus fehlen
nicht nur die grossen Seebecken der Voralpen, sondern auch die höher im
Der Kluchor-Gletscher.
Gebirge gelegenen Seen, welche, wie die Seen des Engadin, Silvaplana,
Sils und St. Moritz oder der Thuner und Brienzer .See und noch so viele
andere, in der xAlpenwelt berückend schöne Landschaftsbilder hervorzaubern.
Selbst den kleinen Hochgebirgsseen, wie solche zahllos in den Alpen liegen,
begegnet man im Kaukasus äusserst selten.
Ein scharfer Anstieg führt später auf eine höhere Talstufe, den flachen
Boden eines typischen glazialen Trog-Tales. An der oberen Grenze des
Nadelwaldes, unter einem der letzten Vorposten desselben, einer einsam
dastehenden Tanne, Hess ich um 6 Uhr abends abpacken und das Lager
aufschlagen. Die Seehöhe dieses Punktes, nach einer Messung mit dem
Ouecksilberbarometer, beträgt 2072 m (B. D.). Sie gibt uns zugleich auch
die obere Grenze für die Baumregion.
*) Gel = See.
265
Der l'JSSKE UNTERHAI.IS DES Kl.rc'HOR-PASSES.
Mit Tagesanbruch des 24. Juli siml wir wieder unterwegs. Steil
steigen wir an den I längen durch dichtes Gebüsch trockener Rhododen-
dron empor. Auf einer Hochfläche liegt ein Kosch, und eine kleine Schaf-
herde weidet auf kurzgrasigem, mit Steinblöcken bedeckten Boden, wo
Ranunkeln, Caret und Potentillen sich zeigen. Die Umgebung ist wild und
einförmig, doch bald darauf erschliesst sich gerade im Süden der Einblick
in eine vom langgestreckten Eisstrome des Kluchor- Gletschers erfüllte Tal-
schlucht, die lange in Sicht bleibend, immer wieder den Blick auf sich
zieht. Die Vegetation wird jetzt spärlicher und erstirbt mit dem Aufsteigen
vollends. Trümmermassen und Geröll mehren sich, und das nackte
Gestein —
Gneise und
Gneisgranite
— haben die
Alleinherr-
schaft gewon-
nen. Es ist
jener wilde
und öde Ter-
raingürtel der
Hochtäler,
welcher sich
oft zwischen
die grünende
Welt derTiefe
und die eisige
Eissee unterhalb des Kluchor-Passes. Recrion der
Höhe Itgt.
Diese eröffnete sich dann hier, wie mit einem Zauberschlage, mit all
ihrer eigenartigen, majestätischen Schönheit. Auf der obersten Stufe
des Tales, in einer Höhe von 2690 m (2664 m B. D.), ganz nahe
unterhalb der liöchsten Zinken des Kammgrates, liegt die stahlblaue
Fläche eines Bergsees ausgegossen. Ein abbrechender Gletscher
hängt an dem umschliessenden Bergrund, unter welchem schult- und
schneebedeckte Gehänge bis an sein Ufer reichen. Seitwärts zieht ein
breites Eirnfeld in langsamer Steigung zur Passhöhe des Kluchor. Auf der
Seeflut aber schwimmen Schneeplatten und Eisblöcke, eine herrliche Er-
innerung an die Eisseen der Alpen. Während unseres Aufstieges hatte
266
Sturm am Kluchor-Pass.
sich der Himmel langsam verdüstert ; die Sonne war unsichtbar geworden
und ein kalter Ton lagerte auf der Landschaft, der den polarartigen
Charakter derselben noch mehr zur Geltung brachte.
Durch weichen Schnee watend, gelangten wir zur Passhöhe des
Kluchor. I'Ls war 9 Uhr. Weite Schneegefilde dehnen sich im Umkreise
der breiten .Sattelhöhe aus, in welcher bizarre Felsmassen aufragen. Doch
die Landschaft, die mit ihrer weissen Hülle im Lichte eines klaren Tages
blendend glänzen muss, hatte eine graue I*"ärbung angenommen; immer
dichter wurde die Nebelhülle der Berge, und über ihre Abhänge und Grate
brauste der Sturm.
Die Höhe des Kluchorpasses beträgt 2816 m. Die Temperatur der
Luft war auf 3,2" C. gesunken. Die kristallinischen Gesteine der Haupt-
kette sind schon vom Eissee an von Granitporph\ren und andern eruptiven
Gesteinen durchsetzt. Sowohl diesseits, wie auch jenseits der Sattelhöhe
treten solche bis 2 m mächtige Diabas-Grünsteingänge im Granit auf,
Zeugen jener Gewalten, die weiter im Osten, nördlich der Hauptkette, die
den Kaukasus beherrschenden Vulkanriesen aufvvarfen.
Um Mittag waren wir wieder bei unserer Lagerstelle, wo in grösster
Eile zusammengepackt wurde, da es jetzt zu regnen begann. In einer
Stunde waren wir am Tumanlysee, in einer weiteren -Stunde am Kosch an
der Oeffnung des Amanaus-Tales, dessen Felsnadeln uns jetzt im Nebel-
wallen noch wilder und steiler erschienen, und um 8 Uhr nachts trafen wir wieder
im Stand(]uartier ein — im ganzen ein langer, aber interessanter Tagesmarsch.
25. Juli. L'eber die vom Hauptkamme gegen Norden ausstrahlenden
Bergzüge, welche zwischen den oberen Talgebieten der Teberda und des
Kuban streichen, wollte ich jetzt nach Utschkulan, dem am Kuban gelegenen
Hauptort des Karatschaigau, gelangen.
Im Osten öffnet sich auf das Teberda -Tal das kleine Seitentälchen
des Eptschik-Ssu, durch welches unser Weg führt. Eine üppige Vegetation
umfängt uns hier, welche, wie es scheint, der von hohen Wänden um-
schlossenen, geschützten Lage ihr Entstehen zu verdanken hat. Später
folgt Laubwald und dann eine Weideregion, begrünte Talterrassen, die
immer wieder mit vegetationslosen, steinigen Stufen abwechseln. Wir waren erst
um 10 Uhr vormittags aus der Teberda aufgebrochen, und die Hitze auf dem oft
sehr steil ansteigenden Wege wurde drückend. Der Himmel war bewölkt,
kein Lüttchen regte sich und es herrschte eine beängstigende Gewitterschwüle.
Von einzelnen Punkten boten sich hübsche Blicke auf die rechte
Talwandung der Teberda, sonst war der Weg höchst einförmig. Wir be-
— 267 —
Über dkx Teberda-Dout-Pass.
nötigten 4Y2 Stunden bis wir den Uebergangspunkt im Ouerrücken er-
reichten, welciier zwischen der Teberda und dem Dout -Tale streicht. Die
Höhe des Passes beträgt 3033 m (B. D.) nach einer Messung mit dem
Ouecksilberbarometer, es waren daher 1 700 m im Anstiege von der Teberda
zu überwinden gewesen. Die Passhöhe liegt höher als der im Hauptkamm
eingeschnittene Kluchor-Pass. Die von der Hauptkette nach Norden ausstrah-
lenden Ouerrücken erheben sich zu relativ bedeutenden Höhen, bilden schmale
Kämme und zeichnen sich durch die steile Neigung der Hänge auf beiden
Seiten aus. Das Gestein, welches wir auf der Teberdaseite bis zur Passhöhe vor
uns hatten, war Glimmerschiefer, aber unmittelbar nördlich davon — in geolo-
gischer Beziehung von ganz besonderem Interesse — liet die Grenze zwischen
den kristallinischen Schiefern und den roten und braunen Konglomeraten,
denen wir im Teberda-Tale nördlich des Aul Teberdinsk zuerst begegnet sind.
Als wir die Passhöhe erreichten, war jede F"ernsicht verdeckt, und
auch auf den umliegenden Höhen lag dichter Nebel. Es wurden die In-
strumente beobachtet und dann sofort der Abstieg in das Dout -Tal an-
getreten. Wir waren jedoch kaum einige Schritte abwärts geeilt, als plötz-
lich die Grathöhe der uns gegenüberliegenden Wand des Dout -Tales sicht-
bar wurde und über der Wolkenschicht, welche alles deckte, bergähnliche
F"ormen erschienen, die im ersten Augenblicke kaum von derselben zu unter-
scheiden waren, bald aber immer mehr sich abklärten. Atemlos stürmte
ich zurück, die Höhe hinan. Das Schneegebirge, das dort hoch über die
Wolkenburgen ragte, einsam und in gewaltiger Grösse, war Elbruss, der
Minghi-Tau. Es ist nur der westliche Gipfel sichtbar, und zwar nur der
unter der höchsten Spitze liegende Kratereinbruch, der, von hier gesehen,
die Eorm von zwei, mit dunkeln Felsen bepanzerten Erhebungen annimmt,
welche auf der mächtigen Firnbasis des Gebirges ruhen.
Erst um 4 Uhr 30 INIin., nachdem ich auch versucht hatte, die Er-
scheinung photographisch festzuhalten, verHessen wir wieder die Höhe. Nun
stürmten wir zwei Stunden lang durch Gräben steil abwärts und, aus einem
engen Steindefile tretend, sahen wir plötzlich die Hütten, welche den Aul
Dout bilden, vor uns. Es ist ein, nach meiner Barometermessung 1S3S m
(B. D.)hoch liegendes, ärmliches Dorf, in trostlos öder Umgebung, nahezu ohne
alle Vegetation, ohne Baumwuchs. Nach allen .Seiten trifft der Blick nur
nackte Gesteinhänge: ein einförmiges, beinahe hässliches Landschaftsbild.
Unsern Kosaken hatte ich als Quartiermacher vorausgeschickt; allein,
als wir in Dout anlangten, konnte er nichts anderes als einen, neben einem
Viehstall gelegenen, fensterlosen, feuchten Raum anbieten. Da, wie man
— 268 —
Ünv.K HKX Dout-Utsciikulax-Pass.
sich rasch überzeugen konnte, in dem elenden Dorfe kaum etwas Besseres
zu finden war, Hess ich abpacken und die nötigen Vorbereitungen zur Be-
reitung des Abendmahles — wir hatten tagsüber fast nichts gegessen —
treffen. Ich selbst stellte sofort die Instrumente auf, da ich, wenn nur
möglich, abends um 7 Uhr zu beobachten trachtete. Zuerst las ich wie
immer das Ouecksilberbarometer, System Gay-Lussac, ab, entdeckte jedoch
zu meiner grössten Bestürzung, dass Luft in die Ouecksilberröhre gedrungen
war. Dies drückte auf die auch sonst nicht sonderlich gute Stimmung des
Elbruss vom Dou t-Utschkulaii-Pass.
Abends noch mehr. Zum Glück hatte ich diesmal zwei Ouecksilberbarometer
mitgenommen, und so konnten die Beobachtungen noch immer an dem
andern, einem Fortinbarometer, vorgenommen werden.
26. Juli. Von Dout hat man abermals einen schmalen, steilen Scheide-
rücken zu überschreiten, um jenseits die Ortschaft Utschkulan am Kuban zu
erreichen. Der Weg führt wieder an der Grenze zwischen Glimmerschiefer
einerseits und Konglomeraten und roten, tonig-sandigen Schiefern anderseits.
In tektonischer Beziehung bot das linke, steile Talgehänge mit seinen stark
Anblick dks Elbruss.
gefalteten Schichten bei Dout ein höchst interessantes Bild, das sich um so
schöner entwickelte, je höher wir an der gegenüberliegenden Talwand
emporstiegen. Die Gegend, in welcher wir wanderten, war in landschaft-
licher Beziehung womöglich noch einförmiger als die am Tage vorher durch-
zogene, da sich von keinem Punkte eine Aussicht bot und der Rückblick
auf das Tal des Dout-Baches nur ödes Steingehänge traf. Dagegen trat
uns, als wir nach 2V2 Stunden die Passhöhe erreicht hatten, wieder Elbruss
in überraschender Grösse entgegen, ein herrlicher und ergreifender Anblick.
Die Höhe des Dout-Utschkulan-Passes beträgt nach meinen Messungen
2567 m (B. D.), ist also niedriger als der Dout -Teberda-Pass. Ich erklomm
eine südlich des Ueberganges sich erhebende Kuppe und photographierte
von dort aus das Elbrussbild.
Der Abstieg führte durch in den Wänden tief eingeschnittene Gräben.
Auf mitderer Höhe dehnen sich begrünte Weideterrassen aus, auf welchen
zahlreiche Kosch sich befanden. Die gegen Utschkulan geneigte Abdachung
des überstiegenen Ouerrückens ist weniger steil als die Doutseite. Während
des Abstieges bleibt Elbruss immer in Sicht. Um die Gipfelhöhe hatten
sich weisse Nebelstreifen geschlungen, die jedoch bald wieder zerflatterten,
und noch zur Mittagszeit ragte der eisumhüllte Vulkanriese unbewölkt in
das dunkelblaue Firmament.
In der Taltiefe wurden die Hüttengruppen von Utschkulan sichtbar,
und am frühen Nachmittage, 3'/o Stunden nach dem Verlassen der Pass-
höhe, hatten wir sie erreicht. (1427 m.)
Aul Chursuk.
XX. KAPITEL.
Nordwärts um den Elbruss.
Ks ragt iler hcihe Elborus,
So weit der Himmel reicht.
Der Frühling blüht an seinem Ftiss,
Sein Haupt ist schncefjebleiclit.
Mirza Schafty.
Das Elbrussmassiv wird mit der wasserscheidenden Hauptkette durch
einen kurzen, südlich streichenden Kammzug verbunden, welcher recht-
winklig auf dieselbe stösst und dort eine scharfe Ecke bildet. An den
westlichen Abhängen des Elbrussmassivs und dieses Verbindungszuges, so-
wie an der nördlichen Abdachung des Hauptkammes entspringen die Bäche,
welche den ösdichen und bedeutendsten Ouellfluss des Kuban, den Ullu-kam
nähren, der eine kurze Strecke nördlich von Utschkulan sich mit dem
gleichnamigen, aus dem Süden strömenden Ouellbach vereinigt und den
Kuban bildet. Etwa 8 km vor der Einmündung des Utschkulan nimmt
derselbe den gleichfalls von dem VVestgehänge des Elbruss niederziehenden
UUu-chursuk-Bach auf In diesem Ouellgebiet des Kuban beabsichtigte ich
vorzudringen und, das Ullu-kam-Tal bis an seinen Ursprung verfolgend, den
— 271
Das Volk der Karatschaek.
das Elbrussmassiv mit der Hauptkette verbindenden vergletscherten Kamm-
zug zu übersteigen, der im Osten das Firngebiet des Asaugletschers über-
ragt, um zu den Bakssanquellen und nach Urussbieh zu gelangen.
Utschkulan, der Aul, den wir am Abend des 26. Juli erreicht hatten,
ist Hauptort des Karatschai-
Gaues. Die Berglandschaften
im östlichen Ouellgebiet des
Kuban werden \on moham-
medanischen Tataren be-
wohnt, Stammverwandten der
weiter im Osten, in den Tälern
des Bakssan, Tschegeni und
Tscherek sesshaften Bergtata-
ren. Es ist einVolkvon patriar-
chalischen, aber rohen Le-
bensgewohnheiten. Die Klei-
dung, sowohl für Männer als
Frauen, ist dieselbe wie bei
den Bakssantataren, mit wel-
chen sie auch in Sitten und
Gebräuchen viel ähnliches
haben. Sie sollen vor drei-
oder vierhundert Jahren, ver-
eint mit den Bakssantataren,
aus der Krim gekommen
sein und nach kürzeren und
längeren Aufenthalten an ver-
schiedenen Orten sich in
den hohen Gebirgstälern der von ihnen jetzt bewohnten, damals menschen-
leeren Gegend niedergelassen haben. Viehzucht bildet die Hauptbeschäf-
tigung der Karatschaier und verschafft ihnen Nahrung. An zahlreichen,
auf den Gebirgsmatten liegenden -Kosch wird sie in gleicher Weise wie
bei den in den nördlichen Ouertälern ösdich vom Elbruss lebenden
mohammedanischen Tataren getrieben. Wo der dürftige, wenig ertrag.s-
fähige Boden es erlaubt, wird er bestellt, und 1 lolzschlag und Hinabflössen
auf dem Kuban gibt vielen Karatschaiern einen geringen Erwerb.
Am Morgen des 27. Juli verliessen wir den Aul Utsch-
kulan, wanderten bis zum nahen Zusammenfluss des Utschkulan mit
Karatschaifiauen aus Utschkulan.
272
WkICKRINC DKK ClUKSLKKi; ÜllER GLETSCHERPÄSSE ZU GEHEN.
dem Ullukam und dann, uns in das Tal des letzteren wen-
dend, nach dem Aul Chursuk (1479 m B. D.)- In einer Lücke
der Talwande erhob Elhruss sein blendendweisses Haupt.
Ich hatte schon früher
am Abend unsern Ko-
saken nach Chursuk ge-
schickt, um zur Ausfüh-
rung unseres Reisepla-
nes Pferde und Trag-
tiere für die Talreise
und die genügende An-
zahl Träger für den
Gletscherübergang zu
werben. Als wir in
Chursuk eintrafen, fan-
den wir vor dem Ge-
meindehause die ganze
Dorfeinwohnerschaft ver-
sammelt, erhielten aber
sofort die unerfreuliche
Mitteilung, dass nie-
mand willens sei, uns
auf der geplanten Tour
zu begleiten. Die Berg-
bewohnergaben an, den
Weg nicht zu kennen,
und als ich mich erbot,
die Leitung der Kara-
wane zu übernehmen, er-
klärten sie die Ausfüh-
rung eines solchenUeber-
ganges für unmöglich.
Alle Mittel der Beredsamkeit, Vorstellungen und Geldanerbieten verfehlten
ihre Wirkung. Nur zu bald hatte ich mich überzeugt, dass nicht so sehr
wirkliche Bedenken, als Unlust, uns zu begleiten, die Ursache der Weigerung
war. Die unter einem ohrenbetäubenden Lärm geführten Verhandlungen
dauerten mehrere Stunden, blieben aber leider ohne Erfolg, und da das
Wetter schön war und ich die goldene Zeit nicht ganz verlieren wollte, so
Dechy: Kaukasus. ^^
— 273 —
Karatschaer aus Utschkulan.
Ix PAS HOCIITAI. DES Ul.I.UKAM,
sammelte ich rasch entschlossen einen Trui)p Leute, um wenigstens den
Talhintergrund zu besuchen.
Um 3 Uhr nachmittags zogen wir dem Ulki-kam-Bache entlang, gegen
Süden. Wir befanden uns hier ganz im kristallinischen L'rgebirge. Das
Gefälle des Tals ist in seinem unteren Teile nur gering, und in erweiterten
Talpartien oder auf weniger geneigten Halden der Seitenwände sieht man
sorgfältig gepflegte Ackerfelder und Heuschläge. Dann schliessen sich die
Bäume, meist Weissbirken und Kiefern, zu au.sgedehnten Waldbeständen
aneinander.
Nach zweistündiger Wanderung verengt sich das Tal. Mit steilen
Felsen erheben sich zu
beiden Seiten die Tal-
wände, zwischen welchen
ein hoher bewaldeter
Riegel die ebene Tal-
sohle schliesst. Der Rie-
gel ist zweifelsohne eine
alte Endmoräne des
Ullukam- Gletschers der
Eiszeit. Rechts hat der
Bach in tiefer Rinne
seinen Weg eingeschnit-
ten. Darüber erscheint,
in Wolken gehüllt, glet-
schertragendes Gebirge.
Nachdem wir diese Bar-
rikade hinter uns hatten, war die Wanderung durch das einsame I loch-
tal, das stellenweise noch immer schöne W^eidegründe bietet, einförmig.
Eine Reihe von Seitentälern öffnet sich auf dasselbe. Erst bei einbrechender
Dunkelheit, fast fünf Stunden nach dem Verlassen von Chursuk, kamen wir
zu mehreren in der Höhe von 2224 m (A. D.) liegenden Hütten. Von den
Hirten wurden wir freundlich aufgenommen, und in einer kleinen niedrigen
Hütte bezogen wir unser Nachtquartier. Ein Karatschai-Fürst, der sich uns
hier vorstellte, half den Abend kürzen. Draussen war es sternenhell und
alles versprach für morgen einen schönen Tag.
hl der Frühe des 28. Juli ging es weiter talaufwärts; vorerst, nach
kurzem Steilanstiege, schon jenseits der Grenze der Fichtenwälder, in eine
höhere Talstufe, in die Region der Alpenwiesen. Man gelangt dann in
Riegel im Uilukam-Tal.
274
DKR CHf)T|l.TAl'-Gl.ETS(llKR UND SEIXK UMRANDUNG.
ein ebenes Talbecken, dessen ßoden mit Gerolle und stellenweise mit
Rhododendrongebüsch bedeckt ist, und in welchem zwei Bergbäche zusammen-
treffen. Der linke Zufluss kommt aus der Oeffnung der von den Berg-
bewohnern Chotjutau genannten Schlucht, welche wir, steil an den Talwänden
ansteigend, umgingen. In der Höhe traten wir in einen Kessel, der sich
plötzlich öffnet. Fast kreisförmig erhebt sich über eine zum Teil geröllbcdeckte,
zum Teil etwas begrünte, von mehreren Wasseradern durchzogene Fläche ein steil
Das Bergrund des Chotjutau-Gletschers.
abfallendes, von gezähnten Felsbändern durchzogenes Bergrund. Von dessen
F'irnlagern wird der stark zerklüftete Gletscher genährt, der unten in das ihn
kreisförmig umschliessende Felsgehänge gebettet ist. Ich nannte ihn
Chotjutau-Gletscher. Die Szenerie ist malerisch, ohne jedoch, sei es in
den Formen der Berggipfel, sei es in der Ausdehnung der Fisbedeckung,
bedeutend zu werden, wie man es bei der Nähe des Elbrussmassivs vor-
aussetzen könnte; denn der vor uns liegende Bergwall gehört zum Elbruss-
gebirge und die sichtbare F'irnkuppe zu seinen westlichen Gipfelhöhen. Die
Nähe des V'ulkanriesen wird auch schon durch .Andesitströme angedeutet,
Das glaziale Trii(;tal des Ulluosen.
welche im Chotjutaukessel mit den Graniten und Gneisgraniten des Grund-
gebirges in unmittelbarer Ueberlagerung sichtbar werden, und die Felsab-
brüche in der Höhe dürften alte Kraterreste sein. Der Kesselboden liegt
nach meiner Messung- 2700 m (A. D.) hoch.
Im südöstlichen Talast, nach welchem wir später wanderten, sehen wir
ein Becken, dessen Flachboden vollkommen eben auf das Haupttal mündet
und mit seinen Tahvänden, an welchen die korrespondierenden Terrassen
deutlich erkennbar sind, die typische Form des glazialen Trog-Tales zeigt.
Ein das Tal erfüllender grosser Gletscher zieht mit sanftem Gefälle in das-
selbe — der Ulluosen-Gletscher ; aus zwei Zuflüssen zusammengesetzt, trägt
er auf seinem Rücken reinen Eises eine breite, schwarze Mittelmoräne ; das
Ulluosen-Gletscher,
Nährgebiet liegt schon an den Firnmulden, welche die Hauptkette und die
Ecke des von ihr zum Elbruss ziehenden Bergzuges bilden. Die Berg-
bewohner bezeichnen die Firnhöhen dieses Gletschertales mit dem Namen
Asau, also mit jener Bezeichnung, welche die Bakssantataren dem jenseits
im Osten gelegenen Gletscher, welchem die Baksanquellen entspringen,
geben. -Schon diese Namensbezeichnungen scheinen zu beweisen, dass Ueber-
gänge über diese Gletscher in das Bakssangebiet auch den Karatschaiern
bekannt sein müssen.
Gegen Abend trafen wir wieder in Chursuk ein, wo wir uns im
Gemeindehause einquartierten. Da ich durch die Weigerung der Berg-
bewohner, uns auf Gletscherwegen nach dem Bakssantale zu begleiten,
gezwungen wurde, diesen Plan fallen zu lassen und nur den soeben
Festgkiiai.tkx i\ Ciil'ksuk.
geschilderten Ausilug in den Hintergrund des Ullukam-Tales zur Ausführung
bringen konnte, hatte ich an die Stelle des ersten Planes eine Umwanderung
des Elbrussmassivs im Norden bis nach Urussbieh im Bakssan-Tal gesetzt,
welche mir die Gelegenheit bieten sollte, seine nördliche Abdachung kennen zu
lernen und in geologischer Beziehung lohnende Aufschlüsse versprach.
Für den folgenden Tag waren die Lastpferde und die Treiber be-
stellt. Am frühen Morgen waren wir wach und hatten bald darauf unsere
Betten, welche wir auf dem Boden der Gemeindestube ausgebreitet hatten,
eingepackt und das Reisegepäck fertiggestellt. Es hiess vorerst, dass drei
Pferde bereit seien und die übrigen von den Weideplätzen bald kommen
würden. Bald gab es aber keine Pferdetreiber, bald wurde die zugesagte
Bezahlung, trotzdem sie die höchste war, die man bis jetzt im Kaukasus
gefordert hatte, zu gering gefunden, dann kamen wieder Leute, die das
Gepäck auf das Gewicht prüften, und endlich waren auch die angeblich
schon vorhandenen Pferde verschwunden. Die ganze Zeit tobte vor dem
Hause eine aufgeregte Menge, wie es schien, in strittigem Meinungsaus-
tausche, laut schreiend, begleitet von lebhaften Gestikulationen. Der uns
begleitende Milizsoldat war, wie immer in solchen Fällen, von keinem Nutzen,
der Starschina hatte schon längst seine Ohnmacht eingestanden und wusste
keine neuen Lügen mehr zu erdichten, bis endlich gegen Mittag Ruhe ein-
trat, die Menge sich verlief, uns unserm Schicksale überlassend. So sassen
wir denn, trauernd ob des verlorenen schönen Tages, ohne Ahnung, wie
uns aus der unleidlichen Situation zu ziehen, irritiert durch das Gefühl
unserer Ohnmacht, auf unsern Gepäcksballen, die in der Stube umher-
lagen. Der Hunger — wir hatten seit frühem Morgen nichts gegessen —
machte sich geltend, und wir mussten endlich unsere Gepäcksäcke wieder
öffnen, um unser Mittagsmahl zu bereiten.
Nach längerer Zeit kam wieder der Dorfälteste, nach unsern Wünschen
fragend. Es klang dies beinahe wie Hohn. Meine Drohung, mit Rück-
lassung meines Gepäckes unter Aufsicht des Milizsoldaten nach Batal-
patschinsk, dem Wohnsitze des Pristaws — allerdings zwei Tagereisen! —
zu wandern und das Gebahren der Chursuker in gebührendes Licht zu
setzen, schien nicht ganz ohne Wirkung zu bleiben, denn er beteuerte nun,
nach allen Himmelsrichtungen auf die Weideplätze geschickt zu haben, um
Pferde zu beschafi'en. In diesem Augenblicke traten zwei Bergbewohner
mit dem Gemeindeschreiber ins Zimmer. Der eine, der schon früher die
Menge haranguiert hatte und den ich Mita nennen hörte, ergriff die offene
Order des Kubangouverneurs, welche ich in Händen hatte, schleuderte sie
— 277 —
Durch das Chursuk Tat, Pj.bkuss kntgegen.
zu Boden und schrie mir ins tiesiclit, ich mÖL^e mich nun überzeugen, wie
viel Achtung dem Befehle des Gouverneurs in Chursuk geschenkt werde.
Ich glaube, dieser Ausbruch der Zügellosigkeit des Karatschaiers war unser
Glück. Dieser hatte das Zimmer verlassen, und der Gemeindeschreiber,
der das Papier vom Boden aufgehoben hatte, schien dem Dorfältesten Vor-
stellungen zu machen, welche Polgen es haben könnte, wenn ich gezwungen
wäre, nach solchen Vorkommnissen nach Batalpatschinsk Berichte zu senden.
Man Hess uns wieder allein, und nach einiger Zeit kam dann der Starschina
mit dem Schreiber und einigen Bergbewohnern, welche nach genauer Durch-
sicht des Reisegepäckes sich verpflichteten, uns am nächsten Tage in der
von mir angezeigten Wegrichtung mit Pferden bis nach Urussbieh im
Bakssan - Tale zu begleiten.
An einem trüben Morgen — um 7 Ihr des 30. Juli — verliessen
wir Chursuk. Wir waren froh, dem Karatschai den Rücken zu wenden,
trotzdem eine drei bis vier Tage währende Wanderung durch gänzlich un-
bewohntes Hochgebirge uns bevorstand, bis wir das Bakssan -Tal zu er-
reichen hoftten, und wir uns in Anbetracht der Anzeichen schlechten Wetters
auf nasse Biwaks in hohen Lagen gefasst machen mussten.
Am linken Ufer des von steilen Talhängen eingefassten Ullu-Chursuk-
Baches zogen wir aufwärts, in streng östlicher Richtung. Die Talflucht des
Ullu-Chursuk-Baches, welcher den Gletschern des Elbrussmassivs entspringt,
sowie die Täler der andern, dem gleichen Ouellgebiete entstammenden
Bäche haben eine längentalähnliche Bildung, indes wir während der Wande-
rungen im Ouellbezirke des Kuban gesehen haben, dass die der kaukasischen
Hauptkette enteilenden Zuflüsse — Teberda, Dout, Utschkulan — ihren Weg
durch (Hiertäler nehmen. Dass die dem Elbrussmassive entströmenden
Wasser von dieser Richtung abgelenkt werden, deutet klar darauf hin, wie
im Gebiete der Eruptivmassen des Elbruss der tektonische Aufbau des Ge-
birges ein verschiedener wurde.
Drei Stunden lang stiegen wir das enge, noch mit Eichten- und
Kiefernwaldung bestandene Tal empor, bis wir zu einem stattlichen Kosch
mit grossen Sennhütten, gelangten. P'lbruss war lange sichtbar geblieben,
die schwarzen Kraterabstürze hoben sich scharf von der schneeigen Hülle
ab. Zur Rechten zog ein weites Schneeplateau in massiger Steigung zur
Gipfelhöhe empor. Aber dem Berge nahegerückt, zeigt sich alles schon in
bedeutender Verkürzung, und der Anblick entbehrt jener Grossartigkeit,
macht nicht jenen beherrschenden Eindruck, welchen derselbe bietet, wenn
Elbruss von entfernteren und höheren Standpunkten erschaut wird.
— 27S —
Im Noruwkstkn i.ÄNf.s des Im.i'.kissmassivs.
Bei den Sennhütten vereinigen sich die beiden Bäche, welche den
L'Ihi-Chursuk bilden. Der aus Süden kommende Bach entsprinot dem
grossen Kjukurtly - Gletscher, welcher von den westlichen Flanken des El-
bruss niederzieht.
Wir verfolgten den nördlichen (Juellbach, Iiitjuk-tjube-kol. Die Weo--
richtung bog später scharf gegen N. N. O. ab und führte — ohne jeden Steg
— durch einen tiefen Erosionsgraben, immer im Bereiche des kristallinischen
Grundgebirges, welches nackt und zerklüftet ansteigt.
Elbruss vom Nordwesten.
Gegen 2 Uhr erreichten wir auf unserer Elbrussumwanderung die erste
Passhöhe mit 2996 m (B. D.) unter den Wänden des Ssadyrlar-Baschi.
Uns gegenüber, im Südosten, dehnte sich das langgestreckte Firnplateau
des Elbruss aus, weite, stellenweise zerrissene, wenig ansteigende Eis-
flächen, welchen das niedrig erscheinende, kegelförmige Gebilde des
Gipfelstockes aufsitzt — alles zum Greifen nahe. Ich wüsste mich
keiner Szenerie in den Alpen zu erinnern, welche sich mit dem Anblicke
vergleichen Hesse, welchen das Elbrussmassiv, von hier gesehen, darbietet.
Es mahnt mehr an die Bilder norwegischer Fields als an die steil an-
Der Burun-tasch-Pass.
strebenden Linien unserer Alpengipfel oder der Hauptkette des Kaukasus
und ihre wechselvolle Umwallung. Unser Standpunkt war eine längs des
Elbrussmassivs hinziehende Hochfläche, welche am ostlichen Rande dann
plötzlich abfällt. Stellenweise war diese von Gruppen hochalpinen, phanero-
gamen Kräuterwuchses bedeckt. Es erscheint mir bemerkenswert, dass hier
an der Nordseite des Elbruss die hochalpine Vegetation eine bedeutende
Höhe erklimmt. Durch eine Lücke der im Norden aufsteigenden Berg-
wände erblickte man zwei einander folgende Eelsketten, von welchen die
erste, näherliegende eine gezackte Gratlinie zeigte, die zweite, höhere eine
Dolomiten ähnliche Krönung besass und an die Sellagruppe in Tirol erinnerte.
hides ich die histrumente ablas und dann am nördlichen Gehänge
emporstieg, um von höheren Standpunkten aus zu photographieren und zu
zeichnen, hatte Schafarzik eine kleine geologische Exkursion in der Richtung
eesfen das Elbrussmassiv anoetreten. Wir trafen um s Uhr wieder zu-
sammen und stiegen dann in einem gegen Norden zur Schlucht des
Tschimart-kol-Baches ziehenden Graben sehr steil abwärts. Nach einer kleinen
Stunde gelangten wir zu einem armseligen Kosch. Als Unterkunft diente
den Hirten ein aus Holzstangen bestehendes Gerüste, über welches einige
Fetzen eines undefinierbaren Stoffes geworfen waren. In der Nähe schlugen
wir das Zelt auf. Die Seehöhe unseres Lagerplatzes betrug 2602 m (B. D.).
Die Nacht im Zelte war kalt — das Minimalthermometer zeigte am
Morgen — i" C. Wir waren früh wach, wärmten uns mit heissem Tee,
was bei unsern Leuten länger währte, als bei uns — ■ sie müssen auch
ausserhalb des Zeltes mehr gefroren haben als wir — , so dass die Karawane
sich erst um 7 Uhr (31. Juli) in Bewegung setzte.
Trostlos öde war alles rund um uns her, bis wir nach einem pfad-
losen Anstiege von i'/2 Stunden wieder die Grathöhe erreichten. Wir
standen jetzt auf dem vom Elbrussmassiv sich gegen Norden loslö.senden
Bergzuge, der das Ouellgebiet des Ullu-Chursuk vom Malkaflusse trennt, also
die Wasserscheide zwischen Kuban und Terek bildet. Die Höhe des
Burun-tasch-Pass genannten Ueberganges beträgt 307 2 m (31 lömB.D.). W^ieder
lag das Elbrussplateau vor uns; von seinen Höhen zog eine Reihe von Gletschern
hinab. Das langgestreckte Gletschergebilde vor uns, der Ullu-tschiran,'^') birgt
die höchste Malkaquelle. Indes ich photographierte, mass Schafarzik die
Höhe des Gletscherendes mit 2914 m (A. D.). Die Gletscher an der Nordseite
des Elbrussmassivs endigen alle in bedeutender Höhe, und auch die Schnee-
*) Tschiran im Tatarischen gleich Gletscher.
Dkk Vfk(;i.etsciiekun(;stvi>u.s dks I'Xp.rl'ssmassivs.
grenze liegt mit etwa 3450 m sehr hocli. Hier haben sich zu den
kHmatischen Verhältnissen, welche, wie an anderer Stelle schon bemerkt
wurde, eine Verschiebung in Bezug auf die Höhe der Gletscherenden an
der nördlichen und südlichen Abdachung des zentralen Kaukasus bewirkt
haben, noch topographische Faktoren gesellt, Terrainbildungen, wie sie der
Tektonik der hier zur Entfaltung gelangten Eruptivmassen entsprechen.
Die unzähligen schwarzen, pechsteinartigen und roten, perlitischen Trachyt-
blöcke, welche Schafarzik auf der Endmoräne vorfand, entsprechen der
Trachytformation, in welche diese Gletscher gebettet sind. Granitstücke sah
man nur in untergeordneter Menge.
Von dem eisigen Walle, dessen Höhen schon in Wolken gehüllt
sind, dringen hinter dem Ullu-Gletscher noch drei Gletscher hinab, und
ganz im Osten fliesst aus weiten Firnreservoiren eine breite Eismasse
nieder, welche über zerklüfteten Felswänden abbricht. (Kyngyr-Ssyrt-
Gletscher.)
Hier an der nördlichen Abdachung des Elbrussmassivs, die ich jetzt
überblicken konnte, fand ich eine wertvolle Ergänzung meiner Beobachtungen
an den Gletschern seiner Südseite im Bakssangebiete und am Firnplateau,
welches ich bei der Ersteigung des Elbrussgipfels überschritt. Im Elbruss-
massiv ist der geologische Aufbau und die durch die späteren vulkanischen
Eruptionen erfolgte tektonische Ausgestaltung, dem es sein Entstehen ver-
dankt, weiteren gebirgsformenden Einwirkungen wenig ausgesetzt gewesen,
so dass der geologische Aufbau auch endgültig das morphologische Bild be-
stimmt. Eine mächtige Eisdecke hat die konvexe Plateauoberfläche des
Massivs schützend umhüllt. Dieses weit ausgedehnte Firnplateau ist nun
das Nährgebiet der Gletscherströme, welche dem Elbrussmassiv entfliessen.
Erst wo die Firnmassen den Rand der Plateauhöhen des Elbruss überfluten,
bilden sich am Gesteinsgehänge des mächtigen Sockels die Begrenzungen,
welche die einzelnen Gletscherströme überragen und voneinander trennen.
Wir sehen also in der Vergletscherung des Elbrussmassivs eine Aehnlichkeit,
eine Uebergangsform zwischen dem Inlandseis Skandinaviens, der arktischen
Gebiete und dem alpinen Vergletscherungstypus. Statt der Muldenform
der Firnbecken, die das Nährgebiet eines einzelnen Gletscherindividuums
bilden, statt der schon in der Firnregion durch diese überragende Fels-
grate getrennten Gletscher, wie solche die Alpen und auch der Kaukasus be-
sitzen, dessen V^ergletscherungstypus mit dem der Alpen analog erscheint,
ist das Firnplateau am Elbruss das gemeinsame Sammelgebiet der Schnee-
massen, welche die nach allen Richtungen abfliessenden Gletscher ernähren.
— 2«! —
Das OUELl^GEBIET DER MaLKA.
Mächtige Lavaströme liegen ausgegossen an den Hängen, an welchen auch
die Eismassen niedergleiten.
Die Wegrichtung im Abstiege wendet sich jetzt östlich. Die Höhen
waren schon längst in dichte Wolken gehüllt. Bald beginnt mit Regen und Hagel
ein Unwetter, welches aber nicht lange anhält. In der .Seehöhe von 2564 m,
am Kajaeschik-Fass (von unsern Leuten Baschil-Tau genannt), wird eine
niedrige Bergwelle überstiegen. Weit sieht man durch das Tal, das unter
uns liegt, hinaus. Dort windet sich der Flu.ss — es ist die Malka — in
Trachytwände im Malka-Tal.
schöner Biegung um vorspringende Ecken , welche das tafelförmige
Gebirge, das sich gegen Norden zu ausdehnt, bildet. Die Plateau-
höhen brechen mit Steilwänden ab, oft mit grünen Hängen bis an den
Fluss herantretend.
hnmer dem gletscherbedeckten Wall des Elbrussmassivs entlang zogen
wir der Tiefe zu. Die Landschaft wird freundlicher, der Talgrund weitet sich
und wird stellenweise begrünt. Vm Mittag sind wir bei der Vereinigung
von zwei Bächen, Malkazufiüssen, angelangt. Die Talwände, welche in
ihrer nördlichen Fortsetzune immer weiter auseinandertreten, sind von
TRACHVTWÄNnF, l'NO EklirVRAMIDEN IM OÜERSTEN MAI.KA-TAL.
bizarren Felspartien durchbrochen. Die Uferwände der Malka zeigen hier
an mehreren Stellen säulenförmig' abgesonderten Trachyt. Dann findet sich
wieder unmittelbar unter Trachytiagern ein weisser quarzitischer Sandstein
oder ein diabasartiges Gestein, und auch Ouarzporphyr wurde anstehend
beobachtet. Wo dieser Ouarzporphjr mit einer Lage glazialen Schuttes
bedeckt ist, hat sich mm diircii PIrosion imd Verwitterung eine Reihe
von Erdpyramiden gebildet.
Am rechten Malkaufer waren wir auf das Grundgebirge in Form
von kristallinischen Schiefern gestossen, das erst in einiger Entfernung von
Erdpy raniiden im Malka-Tal.
einem vom Elbrussmassive in nordöstlicher Richtung zum Malkatale hinab-
ziehenden, mächtigen Trachytlavastrome unterbrochen wird.
Um 4^*2 Uhr haben wir weit ausgedehnte, begrünte Hochflächen er-
reicht, auf welchen Schafe und Rinder weiden. Bald kommen wir zu einer
armseligen Sennhütte, welche uns als Bakssankosch bezeichnet wird. Es
ist ein Hirte aus dem Bakssantale da, auch die Herden gehören dahin.
Die Wasserscheide zwischen den Bächen Malka und Ullu-Chursuk, also
zwischen den Systemen des Terek und des Kuban, bildet auch die Grenz-
scheide zwischen den Völkerschaften — den Karatschaiern und den Baks-
santataren — , welche westlich und östlich derselben leben.
283
NACim.ACKR IN DFK HÜTTK EINES SCHÄFKKS \()M BAKSSAN-TaLE.
Da es wieder regnete, zogen wir es vor, von der Hütte Besitz zu
ergreifen und unser Zelt nicht aufzuschlagen, obgleich das, was ich Hütte
nenne, auch hier nur aus einem einfachen, aus einigen Stäben errichteten
Holzgerüste bestand, über welches Reste einer Burka und anderes
Zeug gebreitet waren. Am Boden lag etwas trockenes Gras und
Reiser, mit welchen auch rund herum eine Art Wall aufgeschichtet
war. Vorne stand die so erstellte Hütte dem Wind und Regen
offen. Die Seehohe dieses Lagers beträgt nach meiner Messung
2336 m (A. D.).
Am Abend wurde das Wetter besser, und ich gab Befehl, früh aufzu-
brechen. Um 6 Uhr morgens waren wir reisefertig, das Gepäck sollte auf die
Pferde geladen werden — aber die Pferde erschienen nicht. Statt derselben
war der Pferdetreiber gekommen, mit der trotzig vorgebrachten Forderung, es
möge ihnen der Lohn ausbezahlt werden, sonst würden sie die Reise nicht
fortsetzen. Ich hatte die ähnliche Geschichte aus dem Jahre 1884 im
Tscherek-Tale noch nicht vergessen. Ich wies den Mann ruhig, aber energisch
mit seinem Begehren ab, sicherte ihm nochmals die ausbedungene Bezahlung
nach Beendigung der Reise in Urussbieh, im Hause des Fürsten Ismael zu
und forderte ihn auf, die Pferde zu beladen. Aber die Pferde kamen nicht,
imd das vor der Hütte aufgestapelte Gepäck blieb unberührt liegen.
Stunde um Stunde verstrich; es war 8 Uhr geworden. Höhnisch lächelnd,
lungerte der führende Pferdetreiber um die Hütte herum. Es musste ein
Ende gemacht werden. Gebieterisch forderte ich den Milizkosaken, der uns
zu unserm Schutze beigegeben war, auf, die Pferde einfangen und zur
Weiterreise beladen zu lassen. Ich drohte, nach Urussbieh zu wandern
und meinen Gefährten beim Gepäck zurückzulassen, auf Kosten der Pferde-
treiber Pferde von Urussbieh zu bringen, wodurch sie ihres Lohnes ganz
verlustig gehen würden, und setzte hinzu, dass sie einer strengen Bestrafung
seitens der russischen Behörde entgegenzusehen hätten. Aber jetzt ergrift
auch der Milizkosak die Partei der Pferdetreiber, stellte sich dicht vor mich
hin und legte drohend die Hand an seinen Kindschal. Nun ergriff Schafarzik
den Revolver und trat an meine Seite, fest entschlossen, dem meuternden
Soldaten bei der eerinesten Aneriffsbeweeunof eine Kupfcl in die Beine zu
jagen In diesem Augenblicke der höchsten Aufregung, in welchem wir beide
bereit waren, einen Angriff mit unsern Waffen abzuwehren, erschien plötzlich
ein zweiter Hirte aus dem Bakssantale, der mich als den Bruder« seines
Herrn, des Knjas Ismael Urussbiew erkannte, sofort auf den Kosaken mit
Entrüstung eindrang und dann bemüht war, sichtlich zu unsern Gunsten
— 284 —
Die canoxakiii.k l'i.ATEAi'LANnscHAFT IM Maeka-Gkuietk.
mit einem Ungeheuern Wortschwall und unter ohrenbetäubendem Lärm auf
die Leute einzuwirken. Ich entfernte mich; der andere Bakssanhirte brachte
zuerst ein Pferd, machte sich mit dem Gepäck zu schaffen, dann halfen
auch die andern Treiber und Träger mit, die Pferde zu bepacken, und —
eine halbe Stunde später waren wir unterwegs.
Durch mehrere Gräben auf und ab zogen wir eine Zeit lang vor-
wärts. Die Umgebung wird wieder rauher, wilder. Noch einen Weide-
platz trafen wir, auf welchem eine kleine Schafherde sich munter umher-
tummelte, von grimmigen Hunden bewacht, die heulend auf uns zustürzten.
Dann stiegen wir an steinigen Wänden steil und pfadlos empor. Um
lo Uhr ist die Hohe eines Bergrückens erreicht, welcher vom 3905 m hohen
Balyk-Baschi nach Norden ausstrahlt. Unser Uebergangspunkt liegt nach
meiner Messung 2884 m (A. D.) hoch. Auf dieser Gebirgsrippe wurden
alte eruptive Gesteine, namentlich Diabase, Diorite und Porphyre, be-
obachtet.
Wir standen am Höhenrande eines fast kreisrunden, sich gegen
Süden senkenden Beckens, welches dort von einer Bergmauer begrenzt ist, die
wieder unsern Weg kreuzt. Im Rückblick, im Norden, hat sich eine Fernsicht
eröffnet, welche im Gegensatze zu der uns umgebenden Oede um so freund-
licher wirkt. Weit hinaus schweift der Blick auf Ketten von Vorbergen,
schon in duftiger P'erne verblauend. Dorthin zieht die canonartige Plateau-
landschaft, welche wir im Durchblick durch die Flucht des Malka-Tales schon
am vorhergehenden Tage erschaut hatten. Die tafelförmigen Hochplateaus,
von tiefen Rinnen durchschnitten, konnten jetzt in ihrer Gesamtheit über-
sehen werden. Ihre Höhen sind oft phantastisch mit Zinnen und Türmen
gekrönt. Weite Flächen deckt das Grün der Matten. Die lebhafte Färbung
des Gesteins wirkt im Panorama noch bis zu unserm schon etwas fernen
Standpunkte.
Es sind diese Landschaften, welche wir zuerst auf unserer Wanderung
von Kislowodsk nach dem Kubangebiete an ihrem westlichen Rande durch-
zogen hatten und von denen wir jetzt Abschied nehmen, höchst interessant
und durch ihren P^ormenreichtum, ihre Farbenfülle und eine gewisse ernste
Grösse fesselnd. Auf weite Ausdehnung hin liegen hier Berglandschaften
gänzlich unbewohnt, in weltentrückter Einsamkeit. Nur auf den grünenden
Flächen trifft man zur Sommerzeit Herden. Ein oder zwei Schäfer mit
ihren mächtigen Hunden sind die Wächter. Sie ziehen von Weideplatz
zu Weideplatz. Ihr schwankes Haus ist rasch abgebrochen und rasch wieder
aufgestellt. Das Brausen der Welt da draussen dringt nicht in die Ruhe
— 285 —
Ueber di;\ K^■RTVK•PASS.
und Stille dieser Bergeinsamkeit, und auch heute noch wird hier ein Schäfer-
leben geführt, das in seiner Primitivität gewiss dem vor tausend Jahren
geführten gleicht.
''Eine Trift auch erschuf der hinkende Feuerbeherrscher
Im anmutigen Tal, durchsch wärmt von silbernen Schafen,
Hirtcngeheg und Hütten zugleich und schirmende Ställe.«
(Ilias Will)
Steil stiegen wir in den Kessel hinab, dessen teils mit Geröll, teils
mit kümmerlichem, braungrünem Graswuchs bedeckten Boden ein klares
Bächlein durchrauscht. Am linksseitigen Gehänge zwischen Blöcken traver-
sierend, kamen wir zu der vor uns aufstrebenden Bergwand, an welcher
wir in Zickzacks empordrangen. Um I27i Uhr sind wir auf der Höhe.
Die umgebende Szenerie hatte sich nicht verändert. Zu unsern
Füssen im Norden lag ein ödes Hochtal, von felsigen, zu keiner bedeuten-
den Höhe sich erhebenden Bergwänden umschlossen. Jensehs desselben jedoch
steht eine in die Wolken ragende Bergmauer. Es ist der Hauptkamm des
Kaukasus, die grosse Kette mit ihren Firngipfeln und Felshörnern, mit den
von ihr ausstrahlenden Gratzügen, in der Höhe schneebedeckt, in ihren
Faltungen mächtige Eisströme eingebettet, an ihrem Fusse, in ihren Gründen
Matten und Wälder. Es war ein ebenso grossartiges als schönes, mit
seinen Gegenstäzen wechselvolles Panorama, welches von diesem Stand-
punkte sich erschloss. Die Wolken, die sich in den eisbedeckten Ein-
schartungen gelagert hatten, die Nebel, welche um die F"irnpyramiden
flatterten, sie störten die Entzifferung der topographischen \'erhältnisse, sie
störten aber nicht die .Schönheit des Bildes.
L^er Einsatdung, welche den Uebergang aus dem vielgegliederten
IJerglande im Norden des Elbruss, aus dem Malkagelände nach dem Bakssan-
'Pale und seinem Hauptorte Urussbieh vermittelt, glaubte ich den Namen
Kyrtyk-Pass, nach dem Tale an seiner Südseite, beilegen zu dürfen. Die
Höhe des Passes beträgt 3242 m (3225 m B. D.) Lufttemperatur um i Uhr
p m. 5 " C. Der Ouerrücken, in welchem er liegt, besteht aus Muskowit
führendem roten und weissen Granit.
Der nördliche, oberste Ouellbach des Kyrt\k tliesst zuerst östlich,
später tritt er in einen schon begrünten, sich weitenden Talabschnitt, auf
welchen das im Westen gelegene, den Hauptquellfluss führende Hochtal
mit einer schönen Gletscherszenerie sich öffnet. Das Tal wendet sich dann
gegen SSO. welche Richtung es bis Urussbieh beibehält. Im west-östlichen
Abschnitte des Kyrt\ktales erscheint Glimmerschieter, welchen, das nord-
östliche Gehänge bildend, ein Ouarz-Trachyt durchbricht. Mit der süd-
Gedi.ogisciiios \üm 1\.\ rtvktal.
Abstikc; nach Urussbikh.
südöstlichen Abschwenkung des
Tales werden dann die Glim-
merschiefer, denen der Trachyt
kurz vor dem Buge wieder
Platz machte, von hochkristalli-
nischen Gesteinen, Gneisen und
Gneisgraniten, abgelöst.
Nach der grünenden Wei-
tung, die einer Herde schöne
Weideplätze bot, verengt sich
das Tal, senkt sich mit starkem
Gefälle und nimmt wieder ein
steiniges, einförmiges Aeussere
an. Vor seinem Ausgange
wird ein schluchtiges Defile
durchschritten, in welchem der
Bach wiederholt übersetzt wird.
Aus der Enge tretend, stehen
wir auf einer kleinen Terrasse,
welche steil in das vor uns
liegende Bakssan-Tal abfällt. Nur wenig unter uns liegen, am Tal-
gehänge klebend, die Hütten des Aul Urussbieh. Der Bakssan, in meh-
rere Arme geteilt, durchflutet den Talgrund, und uns gegenüber schnei-
det sich in den hohen, nur am Fusse grün bewaldeten, oben gezackten
Bergwänden die enge Oeffnung des Adyrssu-Tales ein, und über derselben
ragen die eisigen Höhen auf, vom Abendlichte vergoldet.
Ich bin wieder in l'russbieh.
Kyrt)'k-GIetscher.
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Das Seitental des Adyl-Ssu (Bakssantal).
XXI. KAPITEL.
Zu den Gletschern des Bakssan-Tales.
Es besteht eine enffe Bcziehuiif^ zwischen der
Kunst, die das Schöne sucht, und der Wissenschaft,
die das Scliöne nicht üliersehcn kann.
Friedr. Ratzel.
In Urussbieh fanden wir bei Fürst Ismael dieselbe gastfreundliche
Aufnahme wie in den vorhergehenden Jahren. Es war Abend geworden,
als wir eintrafen, und es tat wohl, wieder unter Dach zu sein. Man hatte
rasch den Samowar gebracht, und der heisse Tee, die Panacee des Kaukasus-
wanderers, machte die Runde, als nach dem ersten Glase Ismael an mich
herantrat, mir eine Bitte vorzutragen. Er erzählte folgendes : Vor zwei
Tagen sei einer der Bewohner Urussbiehs bei der Arbeit im Felde zu-
sammengestürzt und bewusstlos in sein Haus im Aul getragen worden. Seit
jener Zeit liege er einem Toten gleich leblos da, mit geschlossenen Augen,
zusammengepresstem Munde, und alle Versuche, ihn zu erwecken, seien ver-
geblich gewesen. Nun bat mich Ismael, wenn es mir nicht zu viel Mühe
verursache, den Mann noch heute Abend anzusehen, vielleicht finde sich
in meiner Apotheke ein Mittel, um ihn zum Leben zurückzurufen.
Der la'Rdi'ÄisciiK Reiskxuk (;ilt im Osten als Arzt.
Im fernen Osten gilt jeder europäische Reisende als Arzt, Hakim.
Schon wahrend meiner ersten kaukasischen Reise hatten sich die Eingeborenen
in den Dörfern, aber auch Hirten in den Kosch welchen wir begegneten, wieder-
holt um ärztlichen Rat an mich gewandt. Besonders häufig waren Fieber-
kranke insbesondere auf den Weideplätzen im Gebirge, und die Bitten um
Verabreichung von Chinin nahmen mit jedem Jahr zu. Ich hatte auf der
ersten Reise eine kleine Handapotheke mit, die ich vor meiner Himalaja -Ex-
pedition in Kalkutta gekauft hatte und die mir ausgezeichnete Dienste leistete.
Namentlich war mir ein kleines medizinisches Büchlein, welches mit der
Apotheke abgegeben wurde, sehr nützlich, weil es in klarer praktischer
Form Anweisungen zum Erkennen der am häufigsten auftretenden Krankheits-
erscheinungen und zur Verabreichung der entsprechenden Medikamente gab.
Im folgenden Jahre hatte ich ausser dieser Handapotheke einen grösseren
Koffer, in welcher auch diese Platz fand, als Arzneikoffer mitgenommen,
der insbesondere grössere Quantitäten der gebräuchlichsten Arzneimittel,
hauptsächlich Chinin und Verbandzeug, enthielt. So nahm dann meine
ärztliche Praxis in erstaunlicher Weise zu. Es gab absolut keine Möglich-
keit, mich derselben zu entziehen, denn eine Weigerung, dem Kranken ein
Arzneimittel zu verabreichen, wäre von den armen Bergbewohnern als Hart-
herzigkeit ausgelegt worden. Ich fasste übrigens meinen Beruf ernst auf
Ich gab mir alle Mühe, den Kranken genau zu befragen, in gewissen Fällen
Maximalthermometer einzulegen, suchte eine Diagnose aufzustellen und
studierte in jedem einzelnen Falle mein medizinisches Handbuch. Der Fall
aber, den mir Ismael vortrug, stellte, wie es schien, höhere Anforderungen
an meine ärztliche Wissenschaft, als die meisten der Erkrankungen, denen
ich bis jetzt begegnet war und für welche immer einige der gebräuchlichsten
Mittel verordnet wurden, die, wie Chinin, Doverpulver, Laudanum, Zinkwasser,
Ipecacuanha, wenn sie auch nicht immer die Krankheit vertrieben, jedenfalls
oft eine vorübergehende Besserung erzielten und keinen Schaden anrichteten.
Nach der Mitteilung Ismaels nahm ich sofort mein medizinisches Buch zur
Hand, um nach einem Krankheitsfall, wie ihn Ismael beschrieb, zu suchen und
mich schon im vorhinein zu informieren. Auch das ärztliche Kapitel in dem
von der königl. geographischen Gesellschaft in London zum Gebrauche für
Forschungsreisende herausgegebenen Handbuch wurde durchstudiert, aber kein
ähnlicher Fall unter den angeführten Erkrankungen gefunden. Nun musste
der Kranke jedenfalls besichtigt werden und wir machten uns auf den W^eg.
In den Auls der kaukasischen Berge ist das Haus des Reisenden
immer von einer Menge Neugieriger belagert, die, wenn sie nicht den
Dechy; Kaukasus. 19
— 289 —
.Mkim'. ärztliche Praxis. — Ein despekatkr Fall.
Wohnraum selbst fiillcn, in welchem Falle sie zumeist nach längerer oder
kürzerer Zeit, mehr ()(_lc;r weniger unzart zum Verlassen desselben auf-
gefordert werden müssen, gewiss draussen oft stundenlang verweilen, um
sich ja nicht einen günstigen Augenblick entgehen zu lassen, in welchem
vielleicht der Reisende sichtbar wird, oder doch Zeugtm irgend eines Vor-
ganges zu sein, sei es im Innern, sei es ausserhalb des Hauses. Benötigt der
Reisende aber irgend einer Dienstleistung, so greift er einfach einen oder
mehrere aus der Zahl der Gafter heraus, ilie sie dann auch in den aller-
meisten Fällen wie bons enfants willig erfüllen. Als wir aus dem Hause
traten, waren in einem Augenblick Leute da, die, der eine die Handapotheke,
der andere den Arzneikofler, trugen, während ein dritter sich der Bücher
bemächtigte, und als wir uns schon bei finsterer Nacht in das Haus des
Kranken begaben, war es ein langer Zug, der sich, auf den schmalen Stegen
zwischen ditn Dorlluitten ansteigend, aufwärts bewegte.
Wir traten durch die niedere Türöffnung in das Haus. Das Innere
erhellte nur schwach das Licht, welches von einem Fett enthaltenden offenen
Gefäss aufflackerte. In der Mitte des Raumes lag auf der Erde auf
einem niedrigen Gestell der Kranke, mit Decken und Tüchern bedeckt.
Einige Frauen und Kinder sassen zusammengekauert auf der PIrde. Die
Leute waren \-or der Türe geblieben, nur Ismael und zwei oder drei Männer,
die von seinem Hause mit uns kamen, waren eingetreten. Ich besichtigte
den Kranken. Er war totenbleich, fast bläulich, Augen und Mund waren
geschlossen und konnten nicht geöffnet werden. Der Körper fühlte sich
eiskalt an, kein Puls, kein Herzschlag war hörbar. Die Glieder waren starr
und konnten nicht bewegt werden. Der Fall ging über meine Kräfte. Ich
stand einen Augenblick ratlos da. Die anwesenden Männer hatten sich ein
wenig zurückgezogen; es herrschte eine atemlose Stille. Ich wechselte
einige Worte mit meinem Reisegeftihrten. Dann kam mir (;in Gedanke.
In meiner Handapotheke befand sich ein Flakon ^ Eau de luce , und dem
medizinischen Ratgeber nach sollte es in verzweifelten Fällen, wenn bei
starken Fieberanfiillen ein collaps, d. h. ein rapider Verfall der Kräfte ein-
tritt, verabreicht werden. Die Maximaldosis war, glaube ich, 15 Tropfen.
Ich Hess mir die Handapotheke geben, entnahm ihr das Flakon, ein Tropf-
flaschen, und füllte in dasselbe das Doppelte der Dosis, 30 Tropfen. Dann
erklärte ich Ismael, dass man dem Kranken den Mund öffnen müsse, um
ihm das Arzneimittel einzuflössen. Die Zähne waren fest zusammengepresst;
Ismael schnitzte zwei Holzstäbe und mit der Hülfe eines andern gelang es ihm,
das Gebiss zu trennen und zu öffnen und die zwei Holzstäbe an den .Seiten
— 290 —
Der SriiKiNToiK KRWAciri' ziM Lki;i:x.
einzuführen, um ein Schliessen zu verhindern. Sobald mir die OeHnung
gross genug schien, schüttete ich die Flüssigkeit in den Rachen. Im
nächsten Augenblick schon griff der Kranke mit der Hand nach dem Hals,
ein Zucken des Gesichtes, wie von einem Schmerzgefühl, folgte, und er
schlug die Augen auf. Eine Bewegung des Staunens, der Ueberraschung,
welche in einem mehrstimmigen Alla il alla illaha Ausdruck fand, ging
durch die Reihe der Zuschauer, pflanzte sich fort zu den bei der Tür-
öffnung in grösster Spannung Stehenden, und die Ausrufe der Menge, welche
vor dem Hause sich angesammelt hatte, wurden hörbar, immer starker,
immer lauter.
Da ich die Tropfen des Eau de luce, einer stark riechenden, äther-
artigen Flüssigkeit, absichtlich nicht mit Wasser gemischt hatte, um ein um
so kräftiger wirkendes Mittel verwenden zu können, nahm ich an, dass die-
selbe dem Kranken, der wiederholt nach dem Hals griff, ohne aber einen
Laut hervorbringen zu können, einen brennenden Schmerz verursache, und
Hess etwas Oel, das die Leute irgendwo auftrieben, einflössen. Der Kranke
hielt die Augen offen; ich verordnete ihm etwas Tee mit einigen Tropfen
Kognak löffelweise zu verabreichen und sandte beides sowie auch .Spiritus,
um, falls sich Schwächezustände einstellen sollten, Herzgegend, Gesicht
und Schläfen einzureiben. Dann verliess ich das Haus. Ismael und die
Männer dankten mir.
Auf der Strasse ging ein
Murmeln der Bewunde-
rung durch die Menge.
Die Alten drängten sich
an mich, um mir die
Hand, sich tief beu-
gend, zu drücken.
Am andern Mor-
gen, als ich vor die
Türe trat, fand ich
den Hof voll von Leu-
ten, Kranken und Ge-
sunden, welchi- das Mit-
tel, das sie für ein Le-
benselixier zu halten
schienen, zu erlangen
hofften, wenn nötig, Bakssantatarin am Webstuhl.
— 291 -
Grosse Nachkrage nach meixkm Lkiskxsei.ixikk.
kaufen wollten. Ich konnte leider den Wünschen der armen, leichtgläubigen,
einfältigen Leute nicht entsprechen. Viele zogen mit schweren Herzen
wieder heim. Unser Scheintoter aber war auf dem Wege der Besserung,
hatte gegessen, getrunken und auch die Sprache wieder erlangt. Als ich
später zu ihm kam, sass sein Weib vor der Haustüre am Webstuhl:
»drehend die zierliche Spindel mit purpurfarbener Wolle«.
Odyssee VI.
und fertigte ein neues Kleid für den Auferstandenen.
Zu mehreren Kranken musste ich noch am Vormittage, der Bitte
Ismaels willfahrend. Alles, was ich verordnete — gerade in ernsten Fällen
konnte ich ja nichts als X'erhaltungsmassregeln geben, den Organismus
stärkende Mittel raten — , wurde mit Dank und mit allen Anzeichen grössten
Vertrauens in meine Wissenschaft, voll Hoffnung auf eine sichere Wirkung
entgegengenommen.
Niemals, weder früher noch später, habe ich einen solchen Erfolg
meiner ärztlichen Praxis erlebt, wie diesmal. Der Fall war in der Tat ein
ausserordentlicher, und jeder professionelle Heilkünstler hätte sich des Er-
folges rühmen können. Ein Mann liegt nahezu drei Tage leblos, starr,
leichenkalt da, man hätte ihn wahrscheinlich schon einen Tag später be-
erdigt, und der Inhalt einer kleinen Phiole, die ich gefüllt hatte, gibt ihm das
Leben prompt wieder. Das hätte auch bei andern als den wilden Moham-
medanern des Kaukasus seine Wirkung nicht verfehlt. Später kam es mir
noch oft vor, dass die Bergbewohner sich um Arzneimittel bewarben und
ich nicht recht wusste, was ihnen zu geben. Waren es Fälle, in welchen
mir ein gelindes Brechmittel oder ein Purgativ, wenn auch nicht immer nötig,
so doch unschädlich erschien, und ich die Bitten der Leute um eine Arznei
nicht abschlagen konnte, so gab ich ihnen das eine oder das andere, und
dann war insbesondere das Brechmittel dasjenige, dessen Wirkung zu
grösstem Staunen hinriss. Die Wirkung eines Pulverchens, welches sich
meist rasch in so gewaltiger Weise äusserte, erfüllte die Eingeborenen mit
Bewunderung, trotz der bangen Minuten, die oft der Explosion vorangingen,
die sie aber sichtlich gerne ertrugen, und Hess sie fest an die Heilkraft des
Mittels glauben.
Begehrter noch als Arzneimittel war von selten der Eingeborenen
Tabak, insbesondere die Swanen, die in ihren kurzen kleinen Holzpfeiten
alles mögliche Kraut rauchten, waren für die kleinste Gabe, ein Pfeifchen
wirklichen Tabaks, ausserordendich dankbar. Aber auch die höhergestellten
Persönlichkeiten des Landes nahmen gerne die angebotene Zigarette, in der
292
DiK cKSTKRRiaciiisc'iiK ViR( nxiA -Zk ;ARRi': IM Kaukasus.
sie etwas einer AuszeiclinunL;' gleichendes sahen, wenn auch ich tUeselbe
rauchte, hn vorigen jähre konnten wir allerdings den Fürstlichkeiten etwas
Besseres oder wenigstens für den Kaukasus eine no\'. sj). von Rauchmaterial
bieten: es waren dies österreichische Virginia-Zigarren. Mein vorjähriger
Reisegefährte, Prof. Lojka hatte die einzige Bedingung für seine Teilnahme
an der Reise gestellt, dass ich ihm gestatte, einige hundert Virginia-Zigarren
mitzunehmen. Dieselben wurden zu je hundert Stück in Blechbüchsen ver-
lötet, und noch jahrelang erhielt sich in den weltabgeschlossenen Hochtälern
des Kaukasus, schon in Form der Ueberlieferung, die Erinnerung an jene
langen, dünnen Glimmstengel, aus welchen vor dem Anbrennen zuerst der
durchlaufende Strohhalm herausgezogen werden musste, etwa, wie ich sechzehn
Jahre nach der Reise von Freshfield und Genossen immer wieder, als ein-
zige von ihrer Reise zurückgebliebene Erinnerung, von dem staunenswerten
Appetit erzählen hörte, mit dem die Engländer wiederholt am Tage ihre
Mahlzeiten abgehalten hätten, staunenswert, — weil im Gegensatze zu den
Bergbewohnern, welche selbst auf dem Marsch tagsüber nichts zu essen
pflegen und nur eine, wenn auch ausgiebige Mahlzeit, zumeist abends, halten.
Eintritt ins Tal des Ad\l-Ssu.
— 293
In das Tal des Adyl-Ssu.
Am 3. August wanderten wir das Bakssantal aufwärts. Die schöne
Partie, welche es dort bietet, wo im Süden das Tal des Adylssu sich
öffnet, entzückte auch diesmal. Der .schäumende Bach, der dem Tale ent-
eilt, die herrlichen Baumgruppen, welche es umstehen, und — von den
felsigen Steilwänden als Kulissen umrahmt — der edel geformte, dem
kaukasischen Hauptkamme angehörende Hintergrund ; dies alles vereint sich
hier zum Bilde einer der schönsten Berglandschaften. Wir treten in das
Tal, welches sich mit einer kleinen, nahezu ebenen Fläche öftnet, durch
welche der Bach dahinschiesst. Dieselbe ist bald durchschritten; dann
wendet sich der Pfad längs der linken Talwand, rasch ansteigend, und führt
später oft durch dichten Nadelwald. Nach dieser ersten .steilen Stufe ge-
langt man wieder auf eine ebene Strecke, wo, aus zwei Talästen kommend,
die Bäche sich vereinigen. Links vom Wanderer zieht das Adyl genannte
Haupttal in die Höhe. Man kann weit hinein blicken. Der Talboden ist
mit riesigen Gesteinstrümmern bedeckt. .Stürmisch schie,s.st der trübe Berg-
bach, in mehrere Arme zerrissen, dahin. Geknickter Wald weist auf
die Taten der Lawine. Alles spricht hier von Zerstörung. Nur in der
Höhe zieht in ruhigen Linien die schneeige Kette. Drei grosse Gletscher-
ströme senken sich in den Talgrund: der Kajacha-, der Baschkara- und der
Dschankuat-Gletscher. Ihre Enden liegen zwischen 2350 m und 2750 m.
Der alte Moränenwall an der Gabelung des Tales stammt aus Zeiten ihrer
früheren Grösse. Eine Gipfelreihe, in welcher Baschkara-Tau 4129 m,
Ullukara-Tau 4302 m und Bscheduch-Tau 4271 m erreichen, umsteht
diesen gletscherreichen Zweig des Adyl-Tales.
Der westliche Talzweig, der senkrecht auf den Haujjtkamm stösst,
ist schluchtartig geschlossen. Doch über dem waldigen Vorgrund ist auch
hier der Hintergrund sichtbar, mit seinen kühnen Formen in Fels und Eis
ein packendes Bild, das leichte Nachmittagsdünste mystisch umschleiern,
ohne es dem Blicke zu entziehen.
In diesen westlichen Talzweig, aus welchem der Schcheldy genannte
Bach strömt, lenken wir unsere Schritte. Wir haben viel Zeit mit photo-
graphischen Arbeiten verloren. .Schon dämmert der Abend, und die Nacht
droht rasch hereinzubrechen. In der Dunkelheit muss man später am
steilen Gehänge der linken Talseite bald durch Buschwerk, bald durch
das Geäste eines dichten Waldes sich den Weg bahnen. Es ist dies nicht
leicht, insbesondere, wenn der Wald auf ansteigendem Terrain steht. Man
muss acht haben, dass man sich nicht im Gezweige am Boden verfängt
oder mit dem Kopf gegen die Aeste stösst. Mit den Händen muss
~ 294 —
Der SciICHF.LDV-GLK'rSCIIER.
man Gestrii|)i) und Zweige zurücktlrängen, die dann nur zu oft dem Nach-
folgenden ins Ciesicht schlagen, was nicht eben angenehme Rekriminationen
hervorruft. Neben einem Kosch, an steiler Berghalde, schlagen wir das
Zelt auf. (2223 m B. D.) Ismaels Sohn, Naurus, ist mit uns. Nur seinem
Drängen, beim Kosch zu übernachten, haben wir nachgegeben, als wir noch
in dunkler Nacht weiterwanderten. Jetzt bereuen wir es nicht, denn herr-
licher Eiram labt uns müde Wanderer.
4. August. Die linke Talwand, an welcher wir hinziehen, tritt
zurück. Ein mächtiges Gletschergebilde wirft sich in den Talgrund, welches
Der westliche Talzweii
Advlssu-Talcs.
dessen ganze Breite, bis hoch an die Talwände hinan, erfüllt. Die Eis-
masse flutet, olien zu beiden Seiten von vorspringenden b'elsecken ein-
geengt, nieder und breitet sich dahinter wieder aus — wie eine Riesen-
schutt- und trümmerbedeckt. In hohen steilen Eiswänden bricht die Gletscher-
masse rundherum ab. Dem Gletschertore (2208 m) entströmen brausend
die trüben Wasser. Ich sah keine deudich wahrnehmbare End- oder Grund-
moräne. Alles wies darauf hin, dass der Gletscher bedeutend im Vor-
rücken war. Kein Gletscher, den ich je gesehen habe, hat mir die Mög-
lichkeit bedeutender erodierender Kraft so nahe gelegt, wie der Schcheldy-
Gletscher. Der Eindruck, den diese mächtige Eismasse auf uns machte,
wurde noch dadurch erhöht, dass in der Taltiefe ein Dämmerlicht herrschte,
Wandekunc über den Schchei.dv-Gletscher.
Der Schcheldy-Gletscher.
SO dass man die Grössenverhältnisse nicht klar erkennen konnte und nichts
den düstern Anblick erhellte. Um so prachtvoller war es anzuschauen,
wie an den Firnflächen, welche, von pittoresken Felszacken durchbrochen,
die Höhe des Gratzuges bilden, der Adyl von Schcheldy trennt, und an
den Eiszinnen, die aus dem Talhintergrunde hervorblicken, die Morgen-
strahlen der Sonne ein zartes Rot entzündeten,
»die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte«.
Odyssee IX.
Zu immer grösserer Helle steigerte sich das Licht, es glitt hinab
an den felsigen Talwänden, bis es auch auf der weiten Gletscherfläche er-
glänzte. Nur das Ende des Schcheldy-Gletschers, die sich noch einmal auf-
bäumende und dann abbrechende Eismasse, blieb lange in unheinflichem
Dunkel liegen, beschattet von der Talwand.
Ueber den trümmerbedeckten Rücken des Schcheldy-Gletschers, der
im unteren Teile sehr wenig geneigt ist, zog nun unsere kleine Karawane.
Mächtige Seitenmoränen begleiten den Gletscher; ein Chaos von Riesen-
blöcken liegt im Räume zwischen Gletscher, Seitenmoräne luid Talgehänge,
296
Dil'. Firnregion des Schcheldv-Gi.etscuers.
gewiss zum Teil Reste eines grossen Bergsturzes. Durch dieses lilock-
gewirre, oft über einzelne derselben kletternd und kriechend, dringen wir
vorwärts, wenig ansteigend. Wie Pygmäen sehen die Leute häufig neben
den gigantischen Felsblöcken aus.
Um lo Uhr sind wir auf der obersten Terrasse des Gletschers
(2701 m A. D.) angelangt; wir stehen in seiner Firnregion, die nun offen
vor unsern staunenden Blicken liegt. Fin sich in den kühnsten Formen
aufbauender Berggrund umschliesst sie. Felsige, mit Eis bepanzerte Wände,
ragen in die Hohe. Die Firnmassen, welche alle Einbuchtungen, alle
Höhlungen an diesen Mauern bedecken, sind chaotisch zerrissen, zerklüftet
und bilden von allen Seiten steil niederziehende Hängegletscher, welche
sich mit dem grossen Eisstrome vereinigen, der mit seinem F"irngebiete
eine Fläche von ungefähr 28 qkm bedeckt. In der Höhe der Mauern
bilden pittoreske Fels-
zacken, eisige Firnschnei-
den die Krönung. Zur
Rechten erhebt sich über
den aus Osten niederzie-
henden Firnmassen die
Eiskuppe des Schcheldy-
Tau (4320 Meter). Der
schön geformte Gipfel,
der sich am andern Ende
der grossartigen Berg-
dekoration mit einem
Diadem von Felszacken
aufschwingt, ist Tscha-
tyn-Tau (4363 m). Weit
blickt man zur Linken in
das östliche Firnbecken
des Schcheldy - Glet-
schers, wo eine tiefe
Einsattlung in das mit
spitzen Felshörnern aus-
gipfelnde Bergrund ein-
schneidet.
Bewundernd stehen
wir vor der Grossartig- Oestliches Firnbecken des Schcheldy-Gletschers.
— 297 —
15K()i!Acii'rr\(;KN am Asau- und Teksskdl-Gletscher.
keit dieser Nalurschö|)hino-, von welcher keine Worte eine würdige Vfir-
stellung gtiben, von welclier auch die aufgenommenen Photograpliien nur
(in farI)loses, den Riesendimensionen nicht entsprechendes Bild gewähren
kimnen. 1 Her ist es, wo der Kaukasus die Alpen schlägt. Nichts in tlen
Alpen kann sich diesen höchsten Regionen des Kaukasus gleichstellen, in
welchen Fels, l'"irn und Kis in den herrlichsten Bildungen, in unsäglicher
W'iklheit und in mächtiger Grosse aufstreben. Nur aus dem fernen Hima-
laja schweben mir ähnliche Bilder vor Augen. Wer je unter den Süd-
wänden des Kangtschendschunga, wie ich, im Banne seines Anblickes ge-
standen hat, den mag dort, wie hier, das (iefühl überkommen, sich zu
beugen vor der Grosse und der Schönheit der Schöpfung.
Die geologischen Verhältnisse dieses Gebietes entsprechen dem,
aus hochkristallinischen Gesteinen aufgebauten Hauptkamme, in welchen
diese Ouertäler eingeschnitten sind, und auch die Moränen des Schcheld)-
Gletschers bestehen aus Gneis - Granit oder diesem sehr nahe stehenden
Gesteinsarten.
Den folgenden Tag verbrachten wir an den Elbruss-Ciletschern, welche
dem Bakssantale tributär siml. \'orerst lenkten wir unsere Schritte zum
Talgletscher des Bakssan, zum Asau-Gletscher. Die 1SS5 an seinem Zungen-
ende errichteten Mauern wurden nicht mehr vorgefunden, der Giletscher war
im Vorrücken begriffen und muss die Signale zerstört haben. Die Photographien,
von gleichen Standpunkten wie in den Jahren 1884 und 1S85, auch 1886
genommen, bestätigten dies. Dagegen zeigten die Signale am I laupt-
gletscher der Ter.sskolschlucht einen, wenn auch geringen, Rückzug von
etwas über einen Meter an.
hiteressant ist es, dass beide Gletscher, sowohl der Asau- als der
Tersskol-Gletscher, dem Firnplateau des Flbruss entströmen, also demselben
Nährgebiete entstammen und dennoch in Bezug auf ihre Bewegungser-
scheinungen verschiedene Resultate zeigen. Allerdings darf nicht übersehen
werden, dass der Asau-Gletscher auch noch vom Hauptkamme andere Zu-
flüsse erhält, indes der Tersskol-Gletscher ganz den Firnreservoiren des
Elbrussmassivs seinen Bestand verdankt.
Auch meinem Gefährten Schafarzik war an den Bergwänden im
Asau- und Tersskolgebiete der säulenförmig abgesonderte, überall gleich
Orgelpfeifen auf granitischer Ihnerlage ruhende Trachyt aufgefallen, der
uns 1884 im ersten Augenblick wie Basaltsäulen erschienen war. An einigen
Punkten sich über die Schutthalden zu ihnen emporarbeitend, konnte er
aus unmittelbarer Nähe sehen, dass die Säulen immer normal zur Ab-
— 298 —
WlliliKRSKHEN DES ELKRUSSOTPKKLS.
kühlungstlache gelagert sind, und zwar die untersten senkrecht auf die
Oberfläche des Granites, die zweite Partie senkrecht auf die bereits ab-
gekühlten untersten Säulen, die dritte auf die zweite, und so fort, was
dann in grösserer Entfernung von der Basis zu scheinbar regelloser Lagerung
der Säulen führt.
Während unseres Aufenthaltes im Kosch Asau war ich an einem klaren
Morgen auf eine der im Süden sich erhebenden Höhen geklommen, um
den Anl)lick des Elbrussgipfel zu gewinnen. Welch herrliches Wiedersehen !
In erhabener Majestät schwingt der Vulkanriese, alle überragend, sich stolz
^^^^^N^^^^K ^^^^^^^^H
^*^3SJ*^'^WIfei^E'*^^^i^
Der Elbruss von Südosten.
in die Lüfte. In unbeflecktem Eirnweiss, mit funkelndem Neuschnee um-
hüllt, erschien er mir wie eine V'ision aus nordischen Regionen. Alle
Einzelheiten meiner Ersteigung wurden in meinem Gedächtnis wach, und
mit dem Eernrohr suchte ich die Richtung unseres Anstieges festzustellen.
Nie sah ich Elbruss grösser, erhabener, schöner als an diesem frühen, kalten
Morgen.
Nachdem wir unsere Aufnahmen und .Sammlungen an den Gletschern
im obersten Bakssantale beendigt hatten, kehrten wir nach Urussbieh zu-
rück. Aber dort sollte uns kaukasisches Ungemach ereilen. Eine von
Wladikawkas nach Urussbieh dirigierte Kiste mit Provisionen, Ersatz des
299
ZÜCEI.I.OSTOKKTT DER EiNOKüOKKNEN IN URTSSniKH.
Packmaterials für Sammlungen und ])hoti)^Taphische Platten, welche alle
verbraucht waren, war nicht eingetroffen. Boten, welche wir nach Naltschik
sandten — der Ortschaft, wo der Kreisvorsteher wohnt und wohin die Kiste
von W'ladikawkas geschickt wurde — , brachten keine Mitteilung über ihren
X'erbleib.*) Ohne dieselbe wäre die F"ortsetzung der Reise wissenschaftlich
resultatlos verlaufen. Schon hatten wir Zeit verloren, und es blieb nichts
anderes übrig', als selbst nach Naltschik zu reiten, eine Rückkehr war aber um
so mehr au.sgeschlossen, als bei der bemessenen Reisezeit meines Ge-
fährten der in das Reiseprogramm vom Beginn an aufgenommene Plan
eines flüchtigen F^esuches des Berglandes von Daghestan und der Naphtha-
quellen von Baku nicht mehr hätte zur Ausführung gelangen können. So
war ich gezwungen, wenn auch schweren Herzens, den geplanten Ueber-
gang nach Swanetien aufzugeben und von den Bergen und Gletschern des
zentralen Kaukasus Abschied zu nehmen.
In Urussbieh hatte sich seit meinen früheren Besuchen vieles ge-
ändert. Mohammed, der hochgewachsene Bruder Ismael Urussbiews, dem
ich 1884 die kurze, blaue, pelzgefütterte Jacke verdankte, die mir im
nächtlichen Abstiege vom Elbrussgipfel so treffliche Dienste geleistet hatte,
war durch Meuchelmord gefallen. Es hie.ss, dass Eamilienzwist hieran teil
gehabt habe. Fürst Ismael Urussbiew hatte diesbezüglich Auseinandersetzungen
mit den Behörden gehabt und schien seinen Einfluss im Dorfe verloren zu
haben, er, der einzige Kaukasier, der Interesse und Verständnis für die
Absichten und Wünsche des Reisenden besass, mit Wissbegierde den Arbeiten
zusah, sie zu fördern trachtete und selbst gerne an der Lösung mancher
Frage mithalf. Jedenfalls hat Ismael durch sein sympathisches Wesen,
durch schöne Gastfreundschaft, der oft nur die Verhältnisse eine engere
Grenze steckten, sich die dankbarste Erinnerung derjenigen gesichert, die
unter seinem Dache geweilt haben. Um so mehr bedauerte ich, dass ge-
rade dieser Mann seines Einflusses und der Oberhoheit über seine Stammes-
genossen \'erlustig gegangen war. Wir hatten zur Genüge erfahren, wie
die Befehle der Behörden im Karatschai missachtet wurden. Jetzt wurden
sie auch in Urussbieh nicht befolgt, und die Zügellosigkeit der Eingeborenen
trat auch hier hervor. Wir mussten kämpfen, bis wir Pferde erhielten,
um talauswärts zu ziehen. Nach drei Reisetagen waren wir in Wladikawkas.
•■■') Trotz aller Versicherungen des Chefs der Gouvernementskanzlei in Wladikawkas, der
die Kisten allerdings, wie es sich später ergab, pünktlich mit der entsprechenden Order nach Nalt-
schik dirigiert hatte, wurde so, durch die Fahrlässigkeit eines dortigen Beamten, die Ausführung
meiner Reisepläne behindert und der Erfolg unserer Arbeiten geschädigt.
Ein Stkp:ikzl'g durch 1)p:n Nokufl'ss des Dac;iikstan.
Ein Streifzuo- durch den Nordfuss des Daghestan sollte uns am
Schlüsse der Reise noch an das Kaspische Meer führen. Zuerst kostete
es eine endlose Fahrt auf rüttelnder Tarantass durch die Ssunndschasteppe,
um nach Grosny zu gelangen, dann folgte eine Reihe von Reittagen,
welche uns über Weden, Botlich und Chunsach nach der Bergfeste Gunib
brachten. Die Berge des nördlichen Daghestan sind kein Feld für den
Hochalpinisten, aber ihre charakteristische Steinwelt ist besonders interessant
für den Geologen, und mit den Erinnerungen an die Kämpfe der Russen
gegen die Bergvölker, die sich an diese Landschaften knüpfen, werden sie
immer ein höchst interessantes Reiseziel bilden. Für das Verständnis des
Aufbaus des kaukasischen Gebirgsystems, des äusseren Reliefs in den
ösdichen Teilen desselben, war der kurze Streifzug auch für mich höchst
belehrend.
Mit der Herrschaft der Rus.sen ist hier Sicherheit imd ( )rdnung ein-
gezogen. Das nördliche Daghestan ist den Reisenden offen, und kann
ebenso wie die grusinische Heerstrasse nach Tiflis oder die nordkaukasischen
Badeorte, ohne jede Schwierigkeit besucht werden. Mit PLmpfehlungen aus-
gerüstet, wird man im nördlichen Daghestan auf sicheres Fortkommen
rechnen können und wird an jedem Abend die schönste Gastfreundschaft
bei den russischen Kreischefs finden, der auch wir dankend gedenken.
Ja, die meisten Reisenden werden kaum ahnen, dass oft nur eine Tage-
reise weiter, im weltabgeschiedenen Hochgebirge, inmitten uralter Völker-
schaften, aller Hilfsquellen entblösst, die für das Leben und das Fortkommen
der Reisenden nötig sind, in pfadloser, den Eindringling abschreckender
Hochgebirgswildnis, wie ich dies in späteren Jahren erfahren sollte, jeder
Schritt erkämpft w^erden muss.
Durch die heisse staubige Steppe fuhren wir von Temir-Chan-Schura
nach Petrowsk an das Ufer des Kaspischen Meeres. Ein Dampfer der
kaspischen Merkur -Kompanie brachte uns nach Baku, in die Stadt der
Petroleumquellen und der ewigen Feuer.
Tiflis — die alte Cyrus-.Stadt — ist immer ein interessanter Ruhe-
|)unkt für ein bis zwei Tage. Ein mehrtägiger Ausflug wurde noch den
transkaukasischen Sommerfrischen Borschom und Abastuman gewidmet. Auf
die schöne Vegetation von Borschom folgte ein Einblick in die Oede des
armenischen Hochlandes bei Achaltzich. Von Abastuman fuhren wir über
das Gebirge nach Kutais. Bei hellem Wetter erschliesst sich auf der Höhe
des Ueberganges ein prächtiger Anblick der Kaukasuskette. Der Nieder-
stieg durch tropenartigen Vegetationsreichtum ist überraschend.
lli:iMKKISK CUKR KOXSTAXTIXl H'EL, AtIIEX L'NI) KoRKU.
In Batum nahmen wir den Lloyddampfer, der uns längs der reichen
Slidküste des Schwarzen Meeres nach Konstantinopel führte. Nun brachte
uns jeder Tag der Heimat näher.
Noch zwei Besteigungen führten wir aus. Die eine auf den Seras-
kierturm in Konstantinopel, die andere auf den Olympus bei Brussa. Die
erste zu Fuss, die zweite Ijis nahe unterhalb des Gipfels zu Pferde. Die
Erinnerung an beide ist mir wert geblieben.
Lieber Athen und das kleine Paradies von Korfu reisten wir weiter
heimwärts; mein Reisegefährte nach P'iume, um nach nahezu viermonatlicher
Abwesenheit in Budapest einzutreffen, ich nach Priest, von wo ich in un-
unterbrochener Fahrt nach dem Atter-See fuhr, glücklich im Wiedersehen
meiner Pamilie, im Anblick unserer Alpen, die den müden Kaukasusreisenden
"Tüssten.
Kliabdocidaris caucasica nov. sp."'")
*J Versteinerung aus dem Bakssantale. Siehe Bd. 111: Geologische Ergebnisse.
Lager im Tale des Advr-Ssu.
XXII. KAPITEL.
Aus dem Bakssan-Tal über den Adyr-Mestia-Pass
nach Swanetien.
Der grossartige Cliarakter einer Gegend ist
vorzüglich dadurch bestimmt, dass die eindruck-
reichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die
Seele treten, dass eine Fülle von Idcon und Ge-
fühlen gleichzeitig erregt werden.
A. V. Humboldt: Kosmo.s.
Die F"ort.setziinL;- meineir l'"oi-schungen führte mich 1 887 wieder nach
dem Kaukasus. In Charkow traf ich mit Herrn Dou^-las W. Freshfield zu-
sammen, dem ersten Reisenden, der in die Gletscherwildnisse des für un-
nahbar gehaltenen kaukasischen Hochgebirges gedrungen war und als erster
seinen Fuss auf die Gipfel des Eibruss und Kasbek gesetzt hatte. Herr
Freshfield brachte seinen alten Führer Frangois Devouassoud aus Chamonix
mit, der mit ihm vor nahezu 20 Jahren die Reise im Kaukasus ausgeführt
hatte. Mit Devouassoud waren noch sein Bruder Michel und sein Xefle
Josef Desailloud gekommen. Den grössten Teil der Reiseausrüstung, da-
runter zwei Zelte, Schlafsäcke, Decken, Packkisten, Satteltaschen, Kon-
serven, Instrumente, photographische Kamera und Platten, hatte ich
besorgt. Mehreres, unter anderm einen Messti.sch für toi)Ograj)hische
Aufnahmen, brachte Herr Freshfield aus England mit. i\m Bahnhofe in
— 303
Dil-: Ti-:rekki;i:ne im Norden des zentralen Kaukasus.
Charkow war unser gesamtes Reisegepiick ausserordentlich angewachsen
und ziihhe mehr als 30 Koffer, Kisten und Säcke, abgesehen von zahl-
reichem Handgepäck, welches wir in solchen Mengen und in einem solchen
Volumen im Waggon mit uns nahmen, wie dies auf den Bahnen ausser-
halb Russlands undenkbar gewesen wäre.
Am frühen Morgen des 19. Juli wurden die Hügel um Pjätigorsk
sichtbar. Das ferne Schneegebirge war umwölkt. Der Kaukasus tritt hier mit
seinen Vorbergen in die Steppe, wie die Alpen sich der lombardischen
Ebene nähern. Aber hier fehlen die Kulturen und Campanili ; nur mit
Schilfdickicht bestandene Flussufer, weite Flächen mit Malven und wilden
Sonnenblumen sind sichtbar, und hie und da, auf den in denselben auf-
ragenden Hügeln, die Ruinen einer primitiven Bergfestung oder der Tumu-
lus irgend eines vergessenen Kriegers. So müssen die Alpen den Römern
erschienen sein, als Gallia Cisalpina noch eine neu eroberte Provinz war
Einen Tag verbrachten wir in W'ladikawkas mit offiziellen Besuchen
vmd den letzten Einkäufen für unsere Ausrüstung. Am 21. Juli fuhren
wir von Kodarewskaja in rüttelnder Telega nach Naltschik, wo wir in
einem schmutzigen Bauernhause ein schlechtes Unterkommen fanden. Hier
trafen wir Hamsat Urussbiew, meinen Begleiter auf meiner ersten kauka-
sischen Reise, mehrere Chefs der Bergtataren, den über 2 m hohen Riesen
von Besingi und meinen alten Gastfreund aus Tschegem. Der Bezirkschef
von Naltschik stellte einen kabardinischen Milizsoldaten zu unserer Ver-
fügung, ein dienstfertiger Mann, der drei Wochen lang bei uns blieb.
Am nächsten Morgen war die Schneekette von Naltschik klar sicht-
bar; Koschtan-Tau zur Linken und Dych-Tau zur Rechten nehmen domi-
nierende Stellungen ein. Nach Dych-Tau folgt im langen Eiswall der
Dschangagipfel.
Den Vormittag verbrachte ich wieder mit dein Umpacken und
Sichten eines Teiles des Gepäcks und der Provisionen — nach den Worten
Freshfields eine riesige Aufgabe, bei welcher ich angeblich grossen Enthusias-
mus, Ausdauer und Geschicklichkeit entfaltete, während bei ihm — P^resh-
held — das Gegenteil der Fall war. Ich glaube, ich verdiente eine solche
Charakterisierung meiner Tätigkeit nicht, wenigstens von Enthusiasmus
verspürte ich wenig, aber die Sache musste eben gemacht werden.
Am Vormittag fuhren wir über die Steppe zum Bakssanposten und
weiter nach dem Kabardaerdorfe Ataschukin. Gegen Abend schien die
Atmosphäre zu leuchten; die Entfernungen waren klar und weich in der
Farbe, wie oft in der römischen Campagna. In der Ferne bietet der
— 304 —
Wieder in Uklsskikh.
Kasbek, eine schlanke Pyramide reinen Schnees, hoch über ihren Nach-
barn im Osten einen herrlichen Anblick.
Wir übernachteten wieder im Hause des Kabardaerfürsten Ataschukin,
bei dem ich schon früher die gastfreundlichste Aufnahme gefunden hatte.
Ein schweres Souper wurde uns nach Landessitte erst um Mitternacht vor-
gesetzt. Für uns müde und hungrige Reisende war dieses lange Warten
eine starke Zumutung, und ich hatte alle Mühe, Freshfield, der seinem Un-
willen in Worten Luft machen wollte, zu beruhigen und ihm wiederholt vor-
zustellen, dass wir als Gäste uns eben fügen müssten.
23. Juli. Es ist ein langer Tagesritt nach Urussbieh, den wir erst
um 9 Uhr antreten konnten, da unsere zahlreiche Karawane nicht eher fertig
war. Am Nachmittage ereilte uns ein starker Regenguss. Wir waren noch
weit vom Ziele, als die Nacht hereinbrach. Der Mond war durch die
steilen Bergwände verdeckt, und nur die Sterne flimmerten hell am klaren
Himmel.
Es war i i Uhr Nachts, als unsere Karawane von den Pferden stieg,
um die Brücke über den Bakssan zu überschreiten und, die einzelnen Rinnen
des Kyrtykbaches übersetzend, das Dorf IVussbieh betrat. In Anbetracht
der späten Stunde wurden wir ziem-
lich rasch im alten, für Gäste be-
stimmten Hause untergebracht.
Es ist aus vielfachen Ursachen
leicht, im Kaukasus aufzustehen, und
am nächsten Morgen waren wir früh
wach. Am Schlüsse des Tales erhob
1 )ongusorun sein breites Schneehaupt
in einen wolkenlosen Himmel.
Während Preshfield die Er-
müdung der langen Eisenbahnfahrt
von London nach Wien und Wladi-
kawkas und des gestrigen Rittes von
30 Meilen in einem Spaziergange
auf die Kyrtykhänge abzuschütteln
suchte und im Dorfe alte Be-
kanntschaften von vor 19 Jahren
auffrischte, auch einen ziemlich
reichlichen Nachwuchs konstatieren
konnte — , war ich mit den um-
Dechy: Kaukasus.
Kleine Bakssan t.itarin
(Familie Urussbiewj mit ihrer Dienerin.
VkRIIAXDLUXGEN mit I5AKSSANTATAKKX.
Ständlichen Verhandlungen, betreffs des Transportes unseres Gepäcks über
die Hauptkette nach Swanetien, beschäftigt. Die Tataren wünschten natürlich,
class wir den Dongusorun - Pass als Uebergang wählen sollten. Wir waren
jedoch fest entschlossen, einen
■^_ von europäischen Reisenden un-
betretenen Gletscher - Pass im
Hintergrunde des Adyrssu-Tales
zu versuchen. Ein, wie es schien,
sehr annehmbarer Kompromiss
wurde endlich abgeschlossen.
Ein Teil des Gepäckes sollte,
auf Esel geladen, über den
Dongusorun-Pass nach .Swanetien
geschickt werden, und sechs
Träger waren einverstanden das,
was übrig blieb, über den
Adyr - Pass nach Mestia zu
tragen. Dieser Beschluss wurde
jedoch erst nach einen ganzen
Tag währenden Diskussionen er-
zielt. Früh am folgenden Morgen
begann der Streit aufs neue ;
diesmal war es die genaue Zu-
weisung der Lasten, welche in
Frage stand. Ein sehr beweis-
süchtiger Tatar brachte eine
Wage zum Vorschein und wog
die Last eines jeden Mannes mit
vermehrter Sorgfalt. Endlich,
um Mittag, nachdem ein Extra-Träger noch bewilligt worden war, konnten
wir aufbrechen.
Steile Zickzacks brachten uns in das Tal des Adyrssu, dessen
Szenerie ganz das Gepräge einer Alpenlandschaft trägt. Pur mehrere
Stunden folgten wir dem schäumenden Gletscherstrome durch schöne
Fichtenwälder, welche reizende Vistas auf schneebedeckte Berge, grünendes
Gehänge und bachdurchrauschten Talboden umrahmen. Die Seitenzüge des
Hauptkammes sind hier, wie in den penninischen Alpen, von grosser Höhe.
Im Kammzuge, östlich des Ad\Tssu, zwischen diesem und der westlichen
Lastesel mit Treiberjungen.
Im Talk dks Advr-Ssu.
Abzweigung des Tschegem-Tales, erheben sich drei Gipfel von 4200 bis
über 4500 m Höhe. Die Gletscher sind ausgedehnt und die Pässe an ihrem
Ursprünge sehr hoch Heide aber, Gipfel und Pässe, sind weniger steil als
gewöhnlich im Kaukasus.
Die Oeffnung des Adyrssu-Tales mit UUu-Tau-tschana im Hintergrunde.
Nach einem stetigen Anstiege erreichten wir eine Terrainwelle —
keine alte Moräne, sondern eine natürliche Erhebung — , hinter welcher
zwischen steilen, mit Fichten und Buchen bestandenen Talwänden, eine
breite Fläche sich ausdehnt. Der kurznarbige Grasboden ist vom Bache
verwüstet und von Geröll übersät. An ihrem jenseitigen Ende, am
307
SZKXERllL IM OBERSTEN AdVRS.SU-TaLE.
Mange nahe zum Gletscher, stieg der Rauch aus dem Kosch eines Schaf-
hirten empor. Dort wollten unsere Träger die Nacht verbringen. In einem Hain
von zwerghaften Buchenstämmen schlugen wir unsere Zelte auf (2500 m A. D.).
h^s war eine liebliche Lage. Der Abend war schön, und wir hatten Zeit,
ihn zu geniessen. Der von Urussbieh sichtbare Gipfel des Ullu-Tau-
tschana (4203 m) stand gerade im Süden, ein breiter Wall mit von beiden
Flanken niederströmenden Gletschern."') Nach einer tiefen Einsenkung er-
heben sich dunkle Felsmauern, mit abbrechenden Eisfeldern, in der Hohe
Ullu-Tau-tschana im Advrssu-Tale.
von scharfen, steil sich aufschwingenden F^irngraten gekrönt, die dem Rerg-
zuge angehören, der im Lazga-Tau und im Tscheget-Tau-tschana gipfelt.
l'Usere Urussbiehträger, welche, einmal ausserhalb ihres Dorfes, sich
als gute Kerle erwiesen, gruppierten sich mit grösster Bereitwilligkeit zu
einer photographischen Aufnahme und bildeten dann einen Kreis um das
Lagerfeuer. Wie gewöhnlich im Kaukasus, gab es auch hier keine Hütte,
welche sich mit den Chalets oder Sennhütten der Alpen vergleichen Hesse.
Ein niedriger Wall, einige .Stangen sowie Decken aus .Schaffellen genügten
•"■■) Früher irrtümlich für Adyrssu-Basch gclialten (siehe S. 97).
Lackr im Advrssu-Tale.
den Schafhirten als Unterstand. Der Sonnenuntergang- war herrlich. Das
Souper war zufriedenstellend. Der Kaimak, die dicke Sahne der Tataren,
o-emischt mit eno-lischer l-"ruchtmarmelade, war mehr als ent : nach der
Lagerplatz im Adyrssu - Tale.
Meinung Freshfields, viel zu gut für unsere Alpenführer, welche am
nächsten Tage mehr oder weniger krank waren.
26. }uli. Um i'üni' Vhv morgens machten wir uns auf den Weg
gerade am Gletscher hinauf. Sein Ende reicht bis zu 2488 m.
Fre.shfiekl und ich wanderten zuerst über Moränen und über das sich er-
309
Anstieg zum Ah.vk-MI'.stia-Pass.
hebende lüs voran, an einem schönen Wasserfall vorbei, welcher von einem
hohen Schnceplateau, westlich vom Adyrssu-Basch, niederrauschte.
Die Träger frugen, wie der graue Mann — Freshfields Haare sind
frühzeitig gebleicht — über die Berge kommen werde. Als man dann zu
schlüpfrigen Schneehängen gelangte und zu einem Kamine zwischen Fels
und lüs, erhielten sie eine praktische Antwort, welche sie vollkommen be-
friedigte. Die höchsten Felsen, einer Kanzel gleich, am Rande riesiger
i'irnfelder, boten ein weites Panorama fremdartiger Schneelandschaften,
welche ich durch die Photographie festhielt. Wir waren so recht im Herzen
eines weiten Bassins schimmernder tiletscher. Noch fern, hinter einer Reihe
von P'irnwellen, zeigte eine breite Depression die Lage unseres Passüber-
ganges an, dem wir zustrebten. Zur Rechten (S.W'.) erhoben sich in
prachtvoller Schneeumhüllung die feinen Eisspitzen der sattelförmigen Gipfel-
höhe des Ulhi-Tau-tschana, und an ihn gelehnt der spitz ausgipfelnde Zug
des Tscheget-Tau ; links (S.O.) ziehen Schneehalden und zerklüftete P'irn-
terassen zur breiten felsdurchbrochenen Gipfelkrone des Baschil-Tau (4171 m)
empor. Die zwei Gipfel des Elbruss erhoben sich schon hoch über die
vorliegenden Gratzüge.
Unser Pass liegt im Südosten, so dass wir von da an von der im
allgemeinen südlichen Richtung, in welcher wir am Gletscher aufgestiegen
waren, abbogen. Wir hatten das Seil angelegt. Wäre der Schnee von
guter Beschaflenheit gewe.sen, so hätte der Marsch zur Passhöhe wenig
Mühe gemacht. Dies war nicht der P'all, und wir sanken den ganzen Weg
tief in weichen Schnee ein. Die schwer beladenen Träger stampften tüchtig
hindurch. Der letzte Hang war steil, aber der Firn war wenig zerklüftet.
F"reshfield führte hier eine Strecke lang und bahnte die P'ährte im Schnee.
Dafür schüttelte ihm dann einer der Träger die Hände, mit den bewun-
dernden Ausrufen: Dschigit, Dschigit! '■')
Die Höhe des Adyr-Mestia-Passes war eine breite Plateauwelle, und
wir wanderten eine .Strecke lang über die Schneeflächen bis zur Kante des
Abfalles, bevor wir anhielten. Der Ausblick gegen Süden und Westen war
von überraschender Grossartigkeit. Der Standpunkt erinnerte an den Col du
Geant, den Blick gegen Savoyen gewendet. Uns gegenüber erhob sich eine
riesige Kette, von Eis und Firnschnee starrend, welche annähernd dem Zuge
der Chamoni.x-Aiguilles entsprechen würde. Diese Nebenkette (höchster
Gipfel: Sswjetgar 4109 m) kam an Höhe tlem wasserscheidenden Haupt-
kamme gleich, war ausserordentlich steil und ihre Klippen waren zum Teil
*) Im .Sinne eines Helden, sonst auch Räuber, Bandenfühler, ta|)ferer Krieger.
Al'SSlCHT VOM Am'Rssu-rASS.
von abbrechenden HänL,'-er.letschern bedeckt, zum Teil von einer Riistunor
zart geschmiedeter lMrn])latten umschlossen. Sie endete im Südwesten mit
einem kühnen ilunkeln Felshorn (Margjan, 3568 m), einem Wall steil auf-
strebender, wild zerrissener Gneiszacken entragend, hinter welchem in der
Ferne der lange, schneebedeckte Zug der Leilakette erschien. Zu unserer
Linken lag ein weites Firnbassin, das höchste Reservoir des Leksyr- Glet-
schers. Swanetiens begrünte Bergwelt im Süden brach nicht den eisigen
Ring, der die Aussicht vom Adyrssu-Pass umschloss, und die fernen Tiefen
der Rionlandschaft blielien unsichtbar.
Eine kurze Zeit blieb ich in Bewunderung der herrlichen Eisland-
schaften versunken und wechselte mit Freshfield Ausrufe des Entzückens.
Dann aber folgte die für mich wichtigste Arbeit — die photographischen
Aufnahmen. Es war nicht leicht zu erreichen, dass der Apparat während
der Exposition fest stehen blieb, da die Stativfüsse im weichen Schnee
immer wieder einsanken. Die kleinste Veränderung in der Stellung des
Apparates, und wäre es auch nur ein Millimeter, gibt ein unscharfes Bild.
Der Reisende, welcher nach stundenlangem, mühsamem Anstiege auf diesen
eisigen Höhen .Stativaufnahmen mit einer Kamera machen will, meist mit
Kälte und bewegter Luft kämpfend, benötigt ein hohes Mass von Ruhe,
Geistesgegenwart und Kraft zur Beherrschung der ungünstigen Verhältnisse,
unter welchen er arbeiten muss. In den letzten Jahren ist die Verwend-
barkeit von Aufnahmen mit sogenannten Handapparaten durch die gesteigerte
Empfindlichkeit der jetzt zur Verfügung stehenden photographischen Platten
und die hohe Lichtstärke, welche bei der Fabrikation von photographischen
Objektiven erreicht wurde, sehr gefördert worden. Wenn auch die Formate
der Aufnahmen meist klein sind, stellt die Anwendung solcher Handapparate
zu Momentaufnahmen an den Reisenden viel geringere Anforderungen, und
das Arbeiten damit ist viel müheloser — insbe.sondere auf exponierten
Punkten, in Kälte oder Sturm — als mit den grösseren Kameras, welche
auf Stativen verwendet werden und vor der Aufnahme eine genaue Ein-
stellung des Objektes auf der Visierscheibe erfordern. Nachdem die photo-
graphischen Aufnahmen beendet waren, wurden die (Juecksilber-Barometer
und Thermometer abgelesen. Die Temperatur der Luft war 6" C. Die
Höhe des Passes beträgt 3751 m (3733 m B. D.).
Wir hatten vom Lager sechs Stunden auf die Passhöhe gebraucht.
Die drei Alpenführer waren krank und in einem Zustande grösster Er-
schöpfung angelangt. Es trat bei ihnen auch nach längerer Ruhe keine
Besserung ein und sie konnten keine Nahrung zu sich nehmen.
— 311 —
Ar.sTiEi; CiiKR pkn Leks\k-Gletscher.
Zu unscrn Missen zog ein weiter Gletscherstrom, breiter als das
Mer de GIa(;e, und erfüllte das riesige Becken zwischen uns und der im
Süden aufragenden Kette. Es war der Leksyr-Gletscher, damals namenlos; wir
nannten ihn Gwalda-Gletscher. Niemand hatte ihn je gesehen, ihn bewundert.
Wir stiegen unter den Klippen des LHlutschana und der Lazga über
Firngehänge und über steile Flächen Lawinenschnees abwärts. Ueber eine
breite Lücke in der östlichen Umrahmung des Gletschers erhoben Tetnuld
und Gestola ihre eisigen Gipfelhrste. Aus der Firnregion des Leksyr-
Gletschers tretend, eröffnet sich der tiefere Teil des mächtigen Eisstromes,
im Westen überragt von den Massen des Tschatyn-Tau und vom doppel-
gipfligen Uschba — ein herrlicher Anblick.
Der Gletscher war breit, ziemlich eben und zeigte Gletschertische,
Mühlen und alle die bekannten F"ormationen der Eiswelt im grossen Mass-
stabe. Die Felsgehänge an seinem rechten Ufer prangten in einem köst-
lichen Grün — ein wunderbarer Farbenkontrast mit dem Weiss des sie
umgebenden Schnees und Eises. Sie müssen dort beliebte Weideplätze
der Steinböcke und wilden Bergziegen sein, nach welchen unsere Bakssan-
tataren vergeblich spähten.
Von Westen zieht ein grosser Eisstrom, ein Zufluss unseres Gletschers,
aus einem Firnbassin, welches die Grösse des F'irnreservoirs des Talefre-
Gletschers besitzt, und die vereinigten Eismassen wenden sich plötzlich im
rechten Winkel und fliessen durch eine Oeffnung der im Süden streichenden
Kette abwärts, den Wäldern Swanetiens zu. Wir verHessen hier den Gletscher
und wanderten über sein linkes (östliches), begrüntes llfergehänge. Flächen
von weissen und cremefarbigen kaukasischen Rhododendron waren in voller
Blüte ; der Rasen war das Bett von Anemone narcissiflora, Ranunculus,
Gentianen, gelben Mohnblumen, dem bläulichen Vergissmeinnicht und blass-
roten Gänseblümchen — ein Blumcnstrauss von höchster Ueppigkeit in den
Schoss ewigen Frostes geworfen.
Das Gehänge wurde steiler und klippig, so dass wir es vorzogen,
wieder auf dem Gesteinschutt abzusteigen, der den Gletscher bedeckte.
Es war ein mühsames Marschieren über denselben, bis wir nach Ueber-
kletterung des griesigen Gehänges auf die Höhe einer Moräne gelangten,
die alt genug war, um mit Gesträuch bedeckt zu sein, dabei geschmückt
mit wilden Rosen, Lilien und Rittersporn.
Unser Weg wurde jetzt \()n einem tiefen Graben unterbrochen,
durch welchen ein Bach floss, der einem Gletscher entströmte, welcher in
der Kette zu unserer Linken verborg-en lieoft. Um uns den Umweg- zu er-
LACEK XAIIK \I>M ICnde DKS TSCIIAI A.M -("iir/ISI i ikks.
sparen, den eine Unigehuny iles Cirabens in der Möhe erfordert hätte,
kehrten wir wieder auf den Ciletscher zurück. Das Ende des gigantischen
Eisstromes kam endlich in Sicht; ein schmaler Steg lief längs der Bergseite
oberhalb desselben. Die Sonne ging schon unter, als wir etwa eine Stunde
später an eine Stelle kamen, welche zum Lagerplatz geeignet war. Seit
Tagesanbruch hatten wir nirgends einen Fleck PLrde gesehen, gross genug,
um darauf ein Zelt aufzuschlagen.
Eine alte Moräne, etwa hundert Meter oberhalb der jetzigen Ober-
fläche des Eises und überwuchert mit Unterholz, Kräutern und Pflanzen,
umschloss mit dem Gehänge der Talwand hier ein kleines Tälchen. Wasser
war zur Hand, und da die Dämmerung nahte, waren wir froh, sofort unsere
Zelte aufschlagen zu können und zündeten unser Lagerfeuer an. Die Träger
schnitten mehrere Armvoll Gräser und Zweige, schütteten sie in die Höhluno-
des Bodens neben unserm Zeltplatze, hüllten sich in ihre Burkas und
fielen in einem schwarzen Haufen, Köhlern gleich, auf die Erde. Ich sorgte
für ein gutes Abendessen
aus unsern V^orräten, und
dann richteten wir unser
Nachtlager in den Zelten.
Ein lautes Plätschern
auf der Zeldeinwand weckte
uns vor Tagesanbruch. Ein
schwerer Regenguss fiel,
und unsere Begleiter hatten
sich unter den Schutz eines
nahen Fichtenhaines zurück-
gezogen, von wo ihr Feuer
pittoreske Strahlen aut den
finsteren Wald warf.
Als der Morgen heran-
brach, hatte sich der Himmel
aufgeklärt, und die ersten
Objekte, welche unsern
Augen begegneten, waren
die Türme des Uschbagip-
fels, welche mit prächtigen
Abbruchen sich über den
Firnen eines fremdartigen Uschba und Tsehatyn-Tau mit Tschalaat-Gletschcr.
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In das Tal tikk Mui-cifara.
Gletschers erhoben, der geo-en uns in steilem und geschlungenem Laufe
abfiel; damals namenlos, ungekannt und ungesehen, nannten wir ihn
Mestia- Gletscher. Er ist jetzt in t\ci\ Karten als Tschalaat- Gletscher ein-
geführt. Infolge der Steilheit der allgemeinen Neigung seines Bettes
dringt er tiefer im Tale herab, als der grössere Strom des Lek.syr-
Gletschers. Kr erreicht in der Tat bei 1628 m den tiefsten Punkt unter
allen Gletschern des Kaukasus auf beiden Seiten, indes der Leksyr-Gletscher
mit 1734 m endigt. Nicht viele Jahre zurück, müssen die Enden der beiden
Gletscher sich berührt haben. Die Gesteine der Moränen, welche der
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Mestia und die Leilakcttc. g||
Gletscher von seiner Umgebung herabbringt, sind Gneisgranite, Syenite,
mit feinem Korn, bestehend aus Feldspat und x'\niphibolit sowie Pegmatite
mit Ouarzeinschlüssen.
Nach einem kurzen Abstiege führte ein nahezu ebener Pfad durch
Unterholz und Gebüsch, reich an wilden Rosen von den zartesten Tönen
und reifen Himbeeren Am Bache angelangt, war es unmöglich, die
stürmischen Wasser zu übersetzen. Wir mussten daher in der Höhe auf
dem linken Ufer bleiben und wanderten dort über hügelige Heuschläge
und sonnige Matten, unterbrochen von tiefen Schluchten, in welchen riesige
Gräser und Blumen wucherten, hinab in das Haupttal der Mulchara. Die
Uschbagipfel, selten ausser Sicht in der swanetischen Landschaft, erschienen
Nach Mestia, Latal i'xd Retscho.
wieder über den niedrigen GratzUgen, und die lange Linie der Gletscher
an der Leilakette gaben einen schönen Hintergrund für die siebzig Türme
von Mestia, welche sich jenseits des breiten Bachbettes zwischen Obstbäumen
und Gerstenfeldern erheben.
Um 2'/- '-'br nachmittags waren wir in Mestia, wo wir im Gebäude
der Dorfkanzlei unser Quartier einrichteten. Der Dorfälteste, ein hoher,
wild aussehender Mann mit einer breiten, babylonischen Physiognomie, die
Kette der Starschinas um die Brust geschlungen, kam, uns zu begrüssen.
Ein kleiner Junge, der etwas Russisch verstand, machte den Dolmetscher.
Wir kauften ein Schaf und gaben den Urussbiehleuten einen Festschmaus.
Am Abende sassen wir lange unter einer oberhalb der Dorfkanzlei stehenden,
sehr alten Birke, die von rohen Steinsitzen umgeben ist, im Anschauen der
herrlichen swanetischen Landschaft versunken.
28. Juli. Ein guter Weg führt in etwa vier Stunden am rechten
Ufer der Mulchara von Mestia über Latal nach Betscho. Wiederholt hatte
ich ihn zurückgelegt, und immer wieder rissen die herrlichen Szenerien,
welche man durchschreitet, zur Bewunderung hin. \m \'orgrunde, in-
mitten goldgelber Gerstenfelder und zwischen kleinen Birkenhainen, erheben
sich die weissen Türme des swanetischen Dorfes. Dahinter ziehen gewellte
Hügelflächen, auf welchen dunkle Gruppen von Tannen und Fichten ihre
Schatten zwischen das hellere Laub der Pappeln-, Birken- und Buchen-
wäldchen werfen. Und über dem Defile, welches die beiden Ingurzuflüsse
trennt, erglänzen die Gipfel des schneeigen Hintergrundes.
Von Latal überstiegen wir den Bergrücken nach Betscho. Schon
auf der Seite gegen Betscho, kurz unterhalb der Höhe, dehnt sich eine
ebene Halde üppiger Heuwiesen aus, umringt von Pappeln, Birken und
Azaleen, gerade im Angesichte Uschbas, ein Punkt, wie man ihn sich nicht
schöner denken kann.
In Betscho waren wir in leeren, geräumigen Zimmern eines unbe-
wohnten grossen Steinhauses gut untergebracht. Der in Betscho stationierte
russische Pristaw, Herr Aetowsky, nahm uns mit liebenswürdigster Gast-
freundschaft auf und teilte uns für die Zeit unseres Aufenthaltes in Swanetien
einen Milizkosaken — einen Swanen — zur Dienstleistung zu.
Die Nacht war warm und mild, zu warm, um nicht bald schlechtes
Wetter befürchten zu lassen. Im Gebüsch glühten unzählige Johanniswürmer.
Der Adisch-Gletscher.
XXIII. KAPITEL.
Wieder im freien Swanetien.
Weh Hiii, zu welchem Volke bin iih nun wieiler gekommen!
Sin<l's uumensehliche Räuber und sittenlose Barbaren?
Oilvssee Xm.
In Swanetien nahm die P2rsteigung de.s Tetnuldgipfcls die erste
Stelle in unsern Reiseplänen ein. Der X'^ersuch sollte an seiner Südseite,
vom Adischgletscher, unternommen werden. Dieser war unser nächstes Ziel.
Am Morgen nach unserer Ankunft in Betscho war der Himmel
bewölkt, und Freshfield machte mit Michel und Josef einen Ausflug-, um,
wie er sagte, Uschba zu rekognoszieren. Gegen Mittag jedoch hoben sich
die Wolken zum Teil, und Pre.shfield entschloss sich, einen Pelsgipfel
Uschba gegenüber zu ersteigen, einen herrlichen Aussichtspunkt, der seitdem
Gulba benannt wurde.
Am 30. Juli regnete es fast den ganzen Tag. Am nächsten Morgen
(31. Juli) sollte Betscho verlassen werden, aber die schon Tags vorher
bestellten Pferde kamen erst um i Uhr. Die erste Nacht wollten wir in
der Dorfkanzlei von Ipari verbringen. Freshfield mit den Lastpferden wanderte
auf dem von mir \'or zwei lahren bescineenen Weo- über Mestia und den
- 316 —
Im SüDiox HKS Mrni.KKi'.N s\vaxkttsche\ Gkiürcszuces nach Itaki.
Ugürpass, indes ich südlich und längs des Bergzuges, der den Ingur von
der Mulchara trennt, nach Ipari gelangen wollte, eine Wanderung, die
Freshfield schon früher zurückgelegt hatte.
Es war ein herrlicher Weg, der mich von Latal längs wasserdurch-
rauschten Felsschluchten auf die Mattenhöhe eines Hügelrückens der Sagar-
kette brachte, von welcher entzückende Blicke auf das Mulcharatal sich
darboten. Waldige Schluchten ziehen hinauf zu den Silberkämmen der
Leilakette. Auch dem mich begleitenden Kabardiner aus dem ernsteren
Norden gefiel die blühende Schönheit dieser Landschaften.
Durch tiefschattige Wälder, meist auf der Höhe von Hügelkämmen,
führen die Pfade nach Cheskiel und zu den Hütten von Eli (1632 ni), an
welchen wir um j'A Uhr abends, schon bei eintretender Dämmerung, vorbei-
zogen. Bald darauf bringt uns ein scharfer Abstieg zum brausenden Ingur,
an dessen Ufer entlang
wir in nächtlicher Wande-
rung, die später sanftes
Mondlicht erhellte, Ipari
erreichten (1493 m). Es
war nahezu 9 ',2 Uhr
nachts. Die unter hohen
Bäumen einsam stehende:;
Kanzellaria ist eine roh
autgeführte Steinhütte, in
der wir uns so gut wie
möglich für die Nacht
einrichteten. Die andern
waren noch nicht da.
Erst um II Uhr nachts
traf die Karawane ein.
Sie hatten viel Aufent-
halte mit den schlecht
beladenen Pferden ge-
habt, deren Lasten wieder-
holt abfielen und immer
wieder aufgeladen wer-
den mussten. Freshfield
brachte eine Unglücks-
botschaft. Das Gay- Uschba vom Osten.
— 317 —
MiTTACSRAST IM DORFK AdISCII.
Lussacsche Ouecksilberbarometer, welches wir Frangois anvertraut hatten, war
auf unaufoeklärte Weise zerbrochen. Es war ein schwerer Verhist für mich.
I. August. Durch das pittoreslce, engschhichtige Tälchen des Adisch-
baches stiegen wir an. Im Rückblicke bot sich eine von Berghängen und
Wald eingerahmte entzückende Ansicht Uschbas. Drei Stunden waren wir
unterwegs, als wir um ii^^ Uhr die Hüttengruppe des Dorfes Adisch
erreichten, das ich schon während der Reise im Jahre 1885 berührt hatte.
Am oberen Ende des Dorfes, an der Wand eines Turmes, machten wir
Mittagsrast. Wir wollten hier ein Schaf kaufen, die Leute stellten jedoch
Dorf Adisch.
übertriebene Forderungen und verlangten das Doppelte des damals in
Swanetien üblichen Preises. Als wir nach einer Stunde Vorbereitungen zum
Aufbruch trafen, forcierte einer aus der Menge der um uns versammelten
Dorfbewohner Geld für die Benutzung des ihm gehörigen Grundes, auf
dem wir gerastet hatten. Da diese Zumutung energisch abgewiesen wurde,
erhob sich ein wüster Lärm. Es wurden Kindschale gezogen, der Haupt-
anstifter rannte in ein nahe gelegenes Haus und stürzte sich dann mit
einer hoch gehaltenen, langen kaukasischen Flinte auf uns. Ich hatte
unterdes die Revolver zur Hand kommandiert, und in wenigen Augenblicken
waren unsere fünf Revolver in Bereitschaft, l'nser Rücken war durch die
hohe Wand unterhalb des Turmes gedeckt. Ich erinnere mich noch, dass
318
l'JN AncKIKF LiER WII.UEX BKWÜIINKK V(iN AdISiII.
Michel Devouassoud, der hinter mir stand, mir zurief: »Monsieur, je suis
prct! und ich gestehe, dass er mir damals besser gefiel, als auf den Bergen,
am Adyrpass. Die l-'rauen und Kinder waren mit einem kreischenden
Geschrei zurückgewichen, und den Männern warf sich ein hoher Swane mit
regelmässigen Gesichtszügen und einem vollen blonden Barte entgegen,
wehrte einige vom Vordringen ab und schien mit seiner alles übertönenden
Stimme beschwichtigend wirken zu wollen. Er wandte sich dann an mich
mit einigen gebrochen russisch gesprochenen Worten, denen ich entnahm,
dass die Leute, auf die er wies, arm seien. Er wollte, wie ich glaube, die
in etwas zu aggressiver Eorm vorgetragene Bitte um Geld entschuldigen.
Ich erwiderte ihm, immer im Tone grösster Entrüstung, dass die Armut
der Leute kein Vorwaml für
solche ungerechtfertigte l'orde-
rungen sei, dass wir unter dem
Schutze der Regierung reisten,
was auch die Begleitung der
beiden Kosaken beweise, und
dass sich die ganze Einwohner-
schaft des Dorfes durch ein
solches Vorgehen einer strengen
Bestrafung seitens der Behörden
aussetze. Nun gab ein Wort
das andere, und wenn auch der
ohrenbetäubende Lärm nicht
aufhören wollte, die Gefahr, dass
sich die Adischer zu einem An-
griffe hinreissen lassen würden,
war vorbei. Nicht um das (ield
sei es uns zu tun gewesen, fügte
ich bei, sondern das Ungerecht-
fertigte ihrer Forderungen müsse zurückgewiesen werden, und als der ver-
mittelnde Swane unter andern beschwichtigenden Entschuldigungen auch auf
die armen, nahezu unbekleideten Kinder hinwies, nahm ich kleine Münze
und verteilte dieselbe unter ihnen. Mittlerweile hatten unsere Leute mit Hilfe
der beiden Kosaken, die während des ganzen Aufruhrs untätige Zuschauer
blieben, zusammengepackt und die Pferde beladen, wir schritten auf sie zu,
die Menge öftnete uns einen W eg, und wir zogen aus Adisch, hinein in
das stille einsame Hochtal hinter dem Dorfe.
Swanen in Adisch.
(Links unser Kiis:il< au> ilri- Kabarcla.)
MESSUNCKN am ;\l)lSCll-Gl,M'ISlllF,k.
luiK' Stunde später, nahe vom Gletscherende, schlugen wir unser
Lager auf, inmitten von einigen Birkengruppen, die sich in der Talsohle bis
hierher vorgewagt haben. Ich setzte den Weg bis zum Adisch-Gletscher fort.
Wie bei meinem ersten Besuche, riss der Sturz, mit welchem der Eisstrom
über die steile Stufe seines Bettes, unter welcher er endigt, niederfällt, zur Be-
wunderung hin. Das Gletschereis trägt keine Moräne und glänzt in tadelloser
Weisse. Von der im jähre 1885 erbauten Mauer und den Signalblöcken fand
ich nur den mit E. bezeichneten im Bach umgestürzt liegend, in der Ent-
fernung von zwei Metern vom Gletscherende. Im Jahre 18S5 betrug die Ent-
fernung dieses Blockes vom damaligen Gletscherende i 3 m 30 cm, es ergibt
sich daher ein Vorschreiten des Gletschers in zwei Jahren von 1 i m 30 cm.
Das Ende des .^disch-Gletschers.
Als ich ins Lager zurückkehrte, wurde dort die Küche gerüstet. Es war
dem Kosaken, den wir sofort nach unserm \'erlassen von Adisch wieder tlorthin
zurückgeschickt hatten, gelungen, ein Schaf zu erstehen, dessen einzelne Teile
über einem grossen Peuer in Kesseln brodelten und an Stäben gebraten wurden.
Das Wetter hatte sich verschlechtert, kurze Regenschauer fielen, untl
als es dunkel wurde, suchten wir fröstelnd die Zelte auf. Wir hatten die
beiden Zelte nahe und einander gegenüber aufgestellt; zwischen ihnen
wurde das Gepäck aufgestapelt, des drohenden Regens wegen sorgfältig
mit wasserdichten Decktüchern zugedeckt und diese wurden mit Steinen
beschwert. Daneben laeerten sich die beiden Kosaken. In der Nähe hatten
Beraubung des Adiscii-Lagers.
die Swanen unter Bäumen sich ihr Nachtquartier zurechtgemacht. Rascher
als sonst trat Ruhe im Lager ein, und man hörte nur noch das monotone
Plätschern des Regens, wie er auf das Zeltdach aufschlug.
2. August. Die ganze Nacht regnete es, zeitweise in Strömen, die
\om Sturme gepeitscht wurden. Auch am Morgen hörte der Regen nicht
auf. Wir blieben im Zelte trocken und warm. Das Zelt unserer Führer
war unachtsamer Weise in einer kleinen Bodenvertiefung aufgestellt worden,
infolgedessen sich das Wasser darunter ansammelte. Die Insassen waren
nass und elend. Prangois öfihete unser Zelt und zeigte mit einer ver-
zweifelten Stimme an, dass die Hälfte des gestern geschlachteten Schafes,
welche wir zurückgelegt und an einem Baumzweige aufgehängt hatten,
verschwunden sei. PZtwas später benötigte jemand ein Arzneimittel, und als
man die Medizinkiste, welche sich zwischen dem Gepäck befand, hervor-
nahm, bemerkte ich zu meiner grössten Bestürzung, dass der Deckel ab-
gesprengt sei, obgleich der Inhalt unberührt geblieben war. Wir konnten
uns dies vorerst nicht erklären. Eine weitere Untersuchung des Gepäcks
zeigte jedoch, dass auch das Schloss der kleinen Kofferkiste, die meine
Kleider und andere persönliche Effekten enthielt, aufgebrochen und ihres
Inhalts entleert war. Auch andere Gegenstände, danmter Steigeisen, Revolver,
Gürtel, fehlten. Die Decktücher waren so sorgfältig wieder über das Gepäck
gebreitet, dass wir den schweren Diebstahl erst lange nachher entdeckten,
nachdem das Schafteil vermisst worden war. Die Diebe mussten sehr
unternehmend und geschickt gewesen sein, da das Gepäck, wie erwähnt,
zwischen unsern beiden Zelten lag und die Kosaken, obgleich sie infolge
des starken Regens sich unter Bäume zurückgezogen hatten, immerhin nur
mehrere Schritte entfernt waren.
Der Diebstahl traf mich hart, denn ausser dem, was ich auf dem Leibe
hatte, blieb mir absolut nichts mehr an Wäsche und Kleidern, ein im
kaukasischen Plochgebirge unersetzlicher Verlust. Freshheld und ich be-
nutzten ein Zelt zusammen, und jeder stapelte darin längs der Aussenseite
der von ihm eingenommenen Zelthälfte den grössten Teil seines persönlichen
Gepäcks, ich auch noch einen Teil der photographischen Apparate auf
Des Regenwetters wegen hatte ich diesmal alle meine persönlichen Effekten
ausserhalb des Zeltes gelassen, um an Instrumenten und photographischen
Apparaten, was nur möglich, im Zelte unterzubringen.
Unbarmherzig fuhr es fort zu regnen; kein Zeichen einer Besserung
bis Mittag. Wir beschlossen, uns in das nächste Dorf im Mulchara-Tale,
nach Muschal, zurückzuziehen und dem Pristaw nach Betscho eine Mitteilung
Dechy: Kaukasus. ZI
— 321 —
Rückkehr nach Muschal.
über das Geschehene zu senden. Es war eine unangenehme Arbeit, die
nassen Zelte und Stricke zu packen und unterdessen, da es fortwährend
regnete, che andern Gegenstände, insbesondere die photographischen hi-
strumente, vor Nässe zu bewahren. Um 3 Uhr verliessen wir den Lager-
platz. Adisch schien wie ausgestorben, als wir ohne Aufenthalt still durch
das Dorf zogen. Während des Ueberganges über den Scheiderücken
zwischen dem Adisch-Tale und dem obersten Mulchara-Tale, klärte sich der
Himmel. Im Rückblicke bot die feine Eisnadel des Adischgipfels, mit
glitzerndem Neuschnee bedeckt, einen herrlichen Anblick. Aus dem wallen-
den Nebelmeere, welches das swanetische Hochtal erfüllte, blitzten die beiden
Arme des Twiber-Gletschers und in der östlichen Ecke das Silberweiss der
Zunge des Zanner-Gletschers auf, während weiter draussen, im Norden,
das zweigipflige Haupt Uschbas, in grosser Höhe zwischen Wolken schwebend,
auftauchte.
Einen Augenblick waren wir versucht, an einem reizenden Punkte,
auf schwellender, von Wald umgebener Matte, wo sich der Blick ins Mulchara-
Tal öffnet, ein Lager zu beziehen. Glücklicherweise wiederstanden wir, und
bald darauf war der Himmel wieder von schwarzen Gewitterwolken um-
zogen und der Wind strich heulend über die Hochfläche.
Ein steiler Abstieg führt talwärts. Wo das Gelände wieder ebener
wird, standen alle Wege tief unter Wasser. Wir begegneten zahlreichen
Mähern. Es scheint, dass in Swanetien der Heuschnitt unabhängig vom
Wetter betrieben wird. In Muschal, das wir um 710 Uhr abends ereichten,
wurden wir, wie ich vor zwei Jahren, im Hause des Geistlichen Margiani
gastfreundlich aufgenommen. Im ersten Stockwerke bewohnten wir wieder
das grosse gedielte Zimmer, dem entlang ein breiter Holzbalkon läuft, der
eine schöne Aussicht auf das swanetische Hochtal bietet.
3. August. Das Wetter war am Morgen zweifelhaft. Ich sandte
einen Brief an den Pristaw von Betscho, und der Sohn des Geistlichen er-
bot sich, nach Adisch zu gehen und zu versuchen, gegen Geld die
gestohlenen Gegenstände wieder zu erhalten. Er kehrte erfolglos
zurück. Herr Freshfield war mit zwei Führern zu einer Rekognoszierung
des Tetnuld aufgebrochen, kam aber bald durchnässt zurück. Es war
ein Tag, an dem Regengüsse mit kurzen Intervallen von Aufheiterung
wechselten.
4. August. Das kalte, nasse, neblige Wetter hält an. Mehr Regen
und Stürme, weniger Aufheiterung. Für Muschal war es ein bewegter Tag.
Zuerst kamen berittene Kosaken aus Betscho, geführt von einem grimmig
— 322 —
Einzug ues Bischofs von Pr)Ti und seines Gefolges in Muschal.
aussehenden alten Unteroffizier mit langem grauen Bart, eine typische
Kosakengestalt. Sie ritten weiter nach Adisch, lun dort die Beraubung
unseres Lagers als strafende Rächer zu untersuchen. Dann wurde dem
Eintreffen einer andern Partie entgegengesehen, und zwar niemand ge-
ringerem, als dem Bischof von Poti, der erste Bischof, der seit historischen
Zeiten das freie Swanetien betreten sollte.
Es war schon Abend, als der Weg, welcher längs der schönen
Berghänge oberhalb des Dorfes herabzieht, von zahlreichen Reitern belebt
wurde. Die Kavalkade teilte sich in mehrere Trupps; zuerst kamen die
Diener mit grossen Satteltaschen, dann langhaarige Priester, Sänger mit
dunkeln Locken und melanchoHschen Augen. Am Ende kam der Bischof,
eine gedrungene dickleibige Gestalt in imposanten Kirchenkleidern, begleitet
von seinem Sekretär und einem Mingrelier, einer Art major domus.
Das Abendessen zeigte die Ressourcen Swanetiens. Wir alle, mit
Ausnahme des Bischofs, nahmen am Mahle teil, etwa 30 an Zahl. Ge-
bratenem Schaffleisch und gekochten Hühnern folgte Schweinebraten. Es
war Mangel an Messern und Gabeln, noch mehr an Tellern. Aber die
Leute am unteren Ende der Tafel bedienten sich des Kindschals als
Messer, und die flachen Brote, diesmal zu Ehren des Bischofs gut gebacken,
wurden zuerst als Teller benutzt und dann nach der Art Aeneas gegessen.
Dazu gab es Wein, a discretion, ein vorzüglicher reiner mingrelischer Wein,
welchen trotz seines Bockleder-Geschmacks niemand, mit Ausnahme unserer
Führer, verschmähte. Die Kleider und das lange Haar der Geistlichen
machte die Szene zu einer merkwürdig lebendigen Reproduktion einer
Abendmahlzeit vom Pinsel eines Meisters aus dem 16. Jahrhundert.
Unser Gastwirt war einem der Apostel in Albrecht Dürers Gemälden aufs
Haar ähnlich. Es war lange nach Mitternacht, als wir uns zurückziehen
konnten, beobachtet von einer feierlichen Gruppe Priester in langen Kleidern
und swanetischen Bauern, die lebhaft an die Zuschauer erinnerten, welche
in Raphaels Kartons dargestellt sind.
Am folgenden Morgen verliess der Bischof mit seiner Gesellschaft
Muschal. Unser swanetischer Kosak brachte die Nachricht, dass am Nach-
mittage der Pristaw aus Betscho ankommen werde. Herr Freshfield er-
klärte, gegen Mittag mit den Führern aufbrechen zu wollen, um von dieser
Seite einen Versuch zur Ersteigung des Tetnuld zu unternehmen, eine Er-
steigung, die wir von Adisch geplant hatten, um dann sofort den Rückweg
auf die Nordseite der Hauptkette auf einem Pass, der über den Zanner-
Gletscher führen sollte, auszuführen. Es war mir unmöglich, wie dies Herr
Kosaken eskortieren die F"amiliexältesten aus Adisch nach Musciial.
Freshfield wissen musste, Muschal zu verlassen, ohne die Ankunft des
Pristaws abzuwarten, der in unserm Interesse den langen Weg von Betscho
zurücklegte und schon früher die Kosaken nach Adisch geschickt hatte.
Zudem waren keine Vorbereitungen für die Ueberschreitung des Gletscher-
Passes getroffen, keine Träger für das Gepäck bestellt. Ich legte Herrn
P^reshheld keine Schwierigkeiten in den Weg und übernahm, wenn auch
schweren Herzens, die Mission, Mannschaft für den Uebergang anzuwerben,
um am nächsten Tage von Muschal aufzubrechen und am Zanner-Gletscher
zu übernachten, wo wir dann zusammentreffen sollten.
Nach dem Abmärsche von F"reshfields Partie kamen die Kosaken
mit fünfzehn Dorfbewohnern aus Adisch, zumeist den Aeltesten der einzelnen
l'amilien, und dem Starschina. Bald darauf traf auch der Pristaw von
Betscho mit einer zahlreichen Kosakeneskorte ein. Wir blieben auf dem
Balkon des Hauses, der Pristaw, der Geistliche, sein Sohn und ich; die
Kosaken und die Adischer standen vor demselben im Hofe.
Zuerst wurde der Mann vorgeführt, welcher von uns Geld für die
Rast im Dorfe gefordert hatte. Der Pristaw stellte ihm das Unrechtmässige
seines Vorgehens vor, insbesondere Reisenden gegenüber, die unter dem
.Schutze der Regierung standen und in Begleitung von zwei Kosaken in
ihr Dorf kamen. Der wild aussehende Mann, der auch in Adisch der Haupt-
rädelsführer war, gab eine trotzige Antwort. Der Pristaw befahl den Kosaken,
ihm den Kindschal abzunehmen und die Hände zu binden. Dann wurden
die Leute betreffs der Plünderung des Lagers gefragt. Sie protestierten,
das Dorf sei unschuldig und die Diebe müssten Fremde gewesen sein.
»Das kann nicht sein , erwiderte der Pristaw; »ihr wisst ganz gut, dass es
dort keinen Weg gibt, und dass keine fremden Leute euer Dorf passierten.«
Man gab ihnen eine Stunde Bedenkzeit, um entweder die Täter anzuzeigen,
oder die gestohlenen Gegenstände herau.szugeben. Die ganze Prozedur
war für mich höchst unangenehm, und obgleich der Verlust, der mich
betraf, augenblicklich unersetzlich war, nahm die Sache eine Wendung, die
ganz ausser Verhältnis mit dem an sich geringen Werte des Gestohlenen
war. Der Pristaw jedoch erklärte, nicht anders handeln zu dürfen, um die
Autorität der Behörden, unter deren Schutz wir reisten, nicht arg blossstellen
zu lassen. Als nach einer -Stunde weder die Täter angegeben wurden,
noch die Zusage gemacht wurde, dass die gestohlenen Gegenstände rück-
erstattet werden würden, wurden allen, nicht ohne Widerstand des einen
oder des andern die Waffen abgenommen. Darauf gab der Pristaw den
Befehl, die Adischer nach Betscho zu führen und sie so lange, bis der
— 324 —
Gerichtsverfahren des Pristaws von Betscho.
Täter eruiert sein würde oder die Sachen zur Stelle gebracht sein würden,
dort gefangen zu halten.
Einige der Leute verlegten sich jetzt aufs Bitten. Es sei jetzt Ernte-
zeit und die Unmöglichkeit, unaufschiebbare Feldarbeiten zu verrichten, sei
für sie und ihre Familien ein schwerer Verlust. Der Pristaw blieb jedoch
unerbittlich. Es tat mir nun weh, dass jetzt auch Unschuldige mit den
SchulcHgen leiden mu.ssten, und ich machte dem Pristaw hierüber Vorstellungen.
Herr Aitowsky jedoch berief sich auf seine Kenntnis des Volkes und be-
merkte, dass bei diesem nur in solcher Weise das Recht gehandhabt werden
könne, ja, dass er nicht daran zweifle, dass dieses Vorgehen zur Entdeckung
der Täter führen würde. »Unsere Aufgabe ist«, fügte der Pristaw hinzu,
»ordnungsmässige Zustände und Sicherheit in diesem Lande herbeizuführen,
und ich kann einen solchen Fall von Gelderpressung und Beraubung von
unter dem Schutze der Regierung reisenden Fremden nicht vorübergehen
lassen, ohne mit aller nötigen Strenge das Verbrechen zu verfolgen und
die Schuldigen ihrer verdienten Strafe zuzuführen.« Ich hatte dem gegen-
über nichts zu erwidern, als Herrn Aitowsky für die grosse Mühe und
Bereitwilligkeit zu danken, mit der er zu unserm Beistande herbeigeeilt war.
Die Kosaken sassen auf; paarweise reitend, hatten sie zwischen sich
die zu Fuss gehenden Adischer, ein langer Zug, dem wir vom Hause nach-
blickten, bis er dem Auge entschwand. Dann folgte auch der Pristaw mit
drei seiner Mannen. Vorher hatte er den Starschina des Dorfes rufen
lassen, gab den Befehl, mir Träger für den Uebergang über die Haupt-
kette zu stellen, und machte ihn, den Geistlichen und das ganze Dorf für
meine Sicherheit haftbar. Es war Abend geworden, als ich allein zurück-
blieb, und ich gestehe, dass ich mich trotzdem nicht vollkommen beruhigt
fühlte, während der ängstliche Ausdruck im Gesichte des sanften Kabardaers,
unseres Milizkosaken, deutlich zeigte, dass es ihm nach dem Vorgefallenen
unter den wilden Swanen noch weniger behaglich zu Mute war.
Bis spät in die Nacht und vom frühen Morgen des nächsten Tages
an währten die Verhandlungen mit den Eingeborenen, betreffs Ueber-
schreitung des Passes nach dem Norden, den ich schon jetzt, da er über
den Zanner-Gletscher und sein Ursprungsgebiet führen sollte, Zanner-Pass
nennen will. Ich hatte vor zwei Jahren gleichfalls Schwierigkeiten gehabt,
Träger zur Ueberschreitung des Twiber-Passes anzuwerben, aber es gelang
endlich doch, zwei Swanen zu finden, die angeblich vor mehreren Jahren
diesen Pass als Uebergang auf die Nordseite benutzt hatten, wahrscheinlich
aus Gründen, die ihnen die Wahl eines bequemeren Passes, auf dem man
— 325 —
Anwerbung von Trägern für die Uüerschreitung der Hauptkette.
ihnen leichter hätte folgen können, nicht ratsam erscheinen Hess. Pfade von
Schmugglern und Wilddieben haben Bergsteigern auch in den europäischen
Alpen oft Wege für ihre Zwecke und Ziele gewiesen. In betreff des Zanner-
Passes aber gab es nur die Tradition, die noch bei mehreren alten Swanen
im Mulchara-Tale sich erhalten hatte, dass einst über den Zanner-Gletscher
ein Uebergang nach den Nordtälern der Kette geführt habe, und nur ein
Greis konnte angeblich dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Sonst war
niemand seit Menschengedenken über den Zanner-Pass gegangen. Es war
daher nicht leicht, die Eingeborenen zu einer Reise in eine ihnen unbekannte
Eiswelt zu bewegen. Hätte irgend ein Reisender, wie Herr Freshfield mit
Recht bemerkt, etwa hundert lahre zurück versucht, in den Schweizer Alpen
die Grindelwalder dazu zu bringen, ihre Gletscher auf einem Uebergange
nach dem Wallis zu überschreiten, er wäre jedenfalls bedeutenden Schwierig-
keiten begegnet. Es gehörte festes Beharren auf der Ausführung meines
Planes und viel Geduld dazu, um die sehr natürliche Abneigung der Ein-
geborenen von Muschal gegen das Abenteuer, welches wir ihnen zumuteten,
zu besieofen.
Der Zanner-Gletscher.
XXIV. KAPITEL.
Ueber den Zanner-Pass nach dem Norden der
Hauptkette.
Mirabilis in altis Dominus.
Von den verschiedenen Punkten des mittleren swanetischen Gebirgs-
rückens, der zwischen dem im Süden strömenden Ingur und seinem im
Norden ziehenden Ouellflusse, der Mulchara, streicht, bieten sich wechselnde
Ansichten der stark vergletscherten südlichen Abdachung der Hauptkette.
Es sind hauptsächlich drei grosse Gletschergebiete, die .sich dort ausdehnen.
Von West nach Ost betrachtet, liegen zuerst im Hintergrunde der sich bei
Mestia öffnenden Ouerschlucht die Firnbassins, denen Tschalaat- und Leks)T-
Gletscher entströmen, das Gebiet unserer Wanderung über den Adyr-Mestia-
Pass. In die bei Muschal gleichfalls von Norden niederziehende Twiber-
schlucht dringt der aus vier grossen Zuflüssen gebildete Twiber-Gletscher,
dessen höchste Regionen ich auf dem Uebergang über den Twiber-Pass
überschritten hatte. Im Osten, in der Ecke des Mulcharatales, dessen obersten
Quellrayon bildend, breitet sich der mächtige, vielarmige Zanner-Gletscher
aus, dessen Firnregionen und die ihnen entragenden Eisgipfel auf der
Wanderune durch das Ingurtal und das nördliche Ouelltal der Mulchara
— 327 —
Durch die Zanner- Schlucht.
am fernen Horizont erscheinen und eine eisige Folie für die entzückende,
in Grün getauchte, formenreiche swanetische Tallandschaft bilden.
Die Eiswelt oberhalb der Mulcharaquellen, der Zanner-Gletscher und
seine Firnregion, war das Ziel der Reise, als wir gegen Mittag Muschal
verliessen, im ganzen eine Karawane von vierzehn Mann ; elf Träger und
die beiden Kosaken.
Nach den letzten Hüttengruppen oberhalb Muschal überschreitet man
den Twiberbach und tritt in eine steil ansteigende, von wildem Gebüsch
bewachsene Schlucht, welche der vom Zanner-Gletscher kommende Bach in
Zanner- und Xay cb-Gletscher.
weiss schäumenden Schnellen durchtost. Es scheint dieses Hochtälchen von
den Eingeborenen kaum begangen zu werden, denn der gleich zu Beginn
unseres Marsches kaum kenntliche Pfad verschwand später vollkommen.
Trotz des bewölkten Himmels herrschte eine schwüle Mittagshitze ;
kein Lüftchen wehte, und die feuchte Wärme wurde zwischen den üppig
aufschiessenden Stauden und den hohen Blattpflanzen inmier drückender.
Als wir aus dem Haselgebüsch traten, dessen dichte Zweige jede Aussicht
verschlossen hatten, erblickten wir den eisigen Talschluss. Vor uns, am
Fusse eines felsgipfligen, vom Eise umschlossenen Bergeilandes, vereinigen
sich zwei Gletscher. In einem herrlichen Eisfall, zersplittert und zerri.ssen,
— 328
Der Zannkr- und der Nageij- Gletscher.
stürzt aus seinen unsichtbaren Firnreservoirs der Zanner-Gletscher herab.
Das Gletscherende hat sich in den letzten Jahren zurückgezogen, wie die
glatt geschliffenen Felsen einer steilen Klippe unterhalb seiner jetzigen
Zunge und die tiefer liegenden Endmoränen zeigen ; er reicht jetzt bis
2065 m (A. D.) Zur Rechten, aus dem Süden, kommt aus einem von steil
abbrechenden weissen Felsen, die aus der Ferne für Kalkstein gehalten
werden könnten, umschlossenen Tale der andere Gletscher herab, der in
ruhigem Laufe dasselbe erfüllt und sich bei etwa 2200m (A.D.) mit dem
Zanner-Gletscher vereinigt. Ich nannte ihn damals Telnuld-Gletscher ; jetzt
Der Nageb-Gletscher.
ist er als Nageb-Gletscher in die Karte eingeführt worden, obgleich diese
Bezeichnung bei den Eingeborenen kaum im Gebrauche gewesen sein dürfte.
Der Zanner-Gletscher gehört zu den grössten Gletschern des Kaukasus ;
die von seinem FLinzugseebiete und dem F"irnbecken eingenommene Fläche
beträgt 55 qkm, seine Länge 11,5 km. Ersteht demnach an fünfter Stelle
unter den kaukasischen Gletschern, an dritter unter den an der Südab-
dachung gegen das Ingurhochtal sich senkenden Eisströmen.
Es kostete eine scharfe Kletterei von etwa einer Stunde, um an den
steinigen, zum Teil noch mit kümmerlicher Vegetation bedeckten Hängen,
längs des Eisfalls des Zanner-Gletschers, auf die Höhe eines kleinen Fels-
— 329
Nachtwache im Zanner-Lagkr.
plateaus zu gelangen, das an den Gletscher grenzt. Das Zelt schlugen
wir um 4 Uhr nachmittags neben einem grossen Felsblocke auf, der uns
\or dem eisigen Winde, welcher vom Zanner-Gletscher wehte, schützen
sollte. Die um 7 Uhr abends beobachteten Instrumente ergaben für das
Lager eine Höhe von 2494 m (A. D.) und eine Lufttemperatur von S°C.
Unwillkürlich hatten sowohl ich wie der Kabardiner beim INLarsche
durch das dichte und hohe Gebüsch der Zannerschlucht ein scharfes Auge
auf beide Seiten unseres Pfades. Obgleich es keinem Zweifel unterlag, dass
die Adischer die Misset<äter waren, so war ich doch mittelbar die Ursache,
dass ihnen, insbesondere mit der Wegnahme der Waffen, ein grosser Schimpf
angetan wurde und sie jetzt gefangen in Betscho sassen. Für die an Rache-
fehden von jeher gewöhnten Swanen war diese Buschschlucht ein passender
Ort, um aus solchem Hinterhalt eine Kugel dem W^anderer nachzusenden.
Da der Kabardiner einen Ueberfall von selten der zurückgebliebenen Männer
in Adisch, Söhne und Brüder der Gefangenen, fürchtete, wollte er in der
Nacht Wache halten. Ich war bestrebt, ihn zu beruhigen, war jedoch ein-
verstanden damit, dass wir W^ache hielten, nur sollten wir abwechselnd, ich
bis Mitternacht und er später wach bleiben.
Für den nächsten Tag hatten wir einen frühen Aufbruch beabsichtigt,
dem diesmal auch die Swanen beistimmten, es wurde daher rasch abgekocht,
und es war noch hell, als es im Lager still wurde. Die, wie es schien,
auch vom heissen Anstieg etwas ermüdeten Swanen hatten sich in ihre
Burkas und Pelze gehüllt und lagen, eng aneinander gedrückt, bald in tiefem
Schlaf. Ich nahm Schlafsack und Decken aus dem Zelte und machte es mir
bequem. Sinnend schaute ich auf die Landschaft, die vor mir ausgebreitet
lag, nach dem Himmel, an welchem bewegte Wolken in lebhaftem Farben-
spiel einen immerwährenden Wechsel der Erscheinungen boten. Es gab des
Schauens genug, und das neben mir liegende Buch blieb ungeöffnet. Noch
ist es licht auf den Höhen, und rosiger Duft umfliesst die fernen Gipfel im
Westen. Nur die Taltiefe, durch welche ich weit hinaus in die Welt blicke,
hat sich schon in bläuliche Schatten gehüllt. Je mehr aber dort alles, Wald
und Wiesen, Talgrund und Hügelgelände, im ungewissen Abenddüster sich
verliert, um so überschwänglicher wird das P^arbenprangen an den Schnee-
gipfeln der Leilakette, die in eine Flut von Gold und Rot getaucht sind.
Rascher, als das Licht im Ingurtale und auf den es umragenden Höhen erlischt,
hat sich die Dämmerung in die vom Nageb-Gletscher erfüllte Talschlucht gelegt.
Ich übersehe den Eisstrom bis zu dem ihn krönenden Pirnwall der Lak-tschildar-
Kette, der in kalter Weisse vom lichten Himmelssaum sich abhebt, indes
— 330 —
Das Eismekr des Zanner- Gletschers.
das Gletscherende schon in tiefem Schatten ruht. Rasch bricht dann die
Nacht herein. Da blitzt plötzhch ein schwacher Feuerschein auf dem rechten
Ufer des Nageb-Gletschers auf, etwa in gleicher Höhe mit unserm Zeltplatz.
Dort lagern also Freshfield und seine Leute. Es können keine andern sein,
denn im Kaukasus betritt niemand die Schnee- und Ei.swüsten der unzu-
gänglichen Hochregion. Was die Mannen wohl erlebt haben mögen !
Es wurde kalt, und ich warf noch mehrere Strauchzweige in das
glimmende Feuer. Wenn man in dunkler Nacht so hoch droben einsam am
Feuer sitzt, wie da die alten Geschichten aus den Flammen steigen, im
raschen Wirbel durch den Sinn jagen, während man halb wachend, halb
träumend ihnen lauscht ! Die Zeit flieht dann merkwürdig rasch, und ich
mag nicht nur wachend geträumt haben, sondern war vielleicht auch einen
Augenblick eingeschlummert; denn plötzlich wurde es heller. Der Mond
trat über den zackigen Graten im Osten hervor, seine lichten Strahlen
drangen zwischen den Wolken bis zur Erde, bis zu unserm Lagerplatze
und hüllten alles um mich in phantastischen Schimmer.
Glanzvolle Nacht erhellt den Horizont,
Und tiefe Stille herrscht die Welt entlang;
So tiefe Stille herrscht, dass ich im Mond
7.U hören wähne leisen Harfenklang.
(Petöfi.)
Der von geisterhafter Helle umspannte Raum enschien wie ein
Traumbild. Träumte ich wirklich.^ Aber ein lebhaftes Gefühl der Kälte
verneinte dies, und bald darauf kam der Kabardiner, der nun meinen Platz
einnahm, indes ich mich im Zelte zur Ruhe begab.
Mit Moreengrauen waren wir wach, tranken unsern Morgentee, ohne
aber den Aufbruch zu sehr zu beeilen, da wir ohnedies keinen zu grossen
Vorsprung vor den uns nachrückenden Gefährten nehmen konnten. Um
5 Uhr am 7. August verliessen wir den Lagerplatz, hielten uns rechts und
betraten bald das Eis.
In überraschenden Grössenverhältnissen dehnte sich vor uns das
Eismeer des Zanner-Gletschers aus. Eine Reihe schneeiger Höhen, welche
das Firntal einrahmen, werden von den leuchtenden Zinnen der Gestola
und des Tetnuld gekrönt. Das Sonnenlicht des Morgens zitterte in der
klaren Bergluft.
Wir überquerten den Gletscher. Man kam auf dem Eise gut vorwärts.
Aus Südwesten strömen die zerrissenen Firnmassen dem Gletscher zu.
Tetnuld stand nun voll vor meinen staunenden Blicken und entfaltete die
ungeheure Flucht seiner eisigen Wappnung. Die funkelnden Hänge endigten
— 331 —
Anblick der Eiskassade des Tetnuld.
in überhängenden Firnbrüchen; glatte, schmal gefurchte Schneeplatten hingen
an der wunderbar steilen Fassade des Berges, die mit den Resten von
Eislawinen überschüttet war. Mit dieser eisigen Umgebung kontrastierte der
Rückblick auf die fernen Tiefen des grünen, waldreichen Ingurtales, über
welchem die Leilakette einen glänzenden Bogen zog. Noch um 8 Uhr war
die volle Mondscheibe sichtbar, die bleich über der duftigen Tallandschaft
schwebte. Eine unendliche Ruhe, ewiger Friede schien dort ausgegossen,
wo rohes Menschengetriebe, für uns unsichtbar, sein Heim aufgeschlagen hat.
Die ganze Breite des Gletschers nimmt jetzt der obere Eisfall ein,
mit welchem jener aus seinem Firnbassin niedersinkt. Ein felsiger Rücken,
Unterer Eisfall des Zanner-Gletschers.
dessen Gehänge stellenweise noch mit kurznarbigem Grase bewachsen ist,
erhebt sich auf der rechten Seite und weist uns den Weg zur Umgehung
des Eisfalles an. Die Kletterei den Felsrücken empor war, mit Ausnahme
eines einzigen mauvais pas, einer senkrecht abstürzenden Felsklippe, durch
die ein kurzer Kamin führte, nicht schwierig.
Von der Höhe des Felsrückens kommt die gewaltige Grösse des
niederdringenden Zanner-Gletschers zu voller Geltung. Weit hinaus durch
das swanetische Hochtal trägt der Blick. An der in ihren sanften Formen
immer reizend schönen Leilakette beginnen sich Wolken zu sammeln, sonst
332
Ermüdender Marsch durch tieeen, i'ui,veri(;en Schnee.
empor, die wir um lo Uhr betreten, um sie den ganzen Tag über nicht
mehr zu verlassen.
Am Gletscher unter uns sind jetzt Freshfield und die drei Führer auf-
getaucht; sie scheinen uns nicht zu bemerken und streben stetig vorwärts.
Nach einer kleinen Stunde hielten wir, um unsere Gefährten zu erwarten,
die jetzt mit uns Zeichen und Zurufe wechselten. Sie waren etwas länger
links vorn am Gletscher geblieben und hatten das Gehänge des Felsrückens
höher oben in Angriff genommen. Als sie uns zuerst im Firnbecken er-
blickten, eine Karawane von vierzehn Mann, als kleine schwarze Punkte
in der weissen Schneewüste, muss unsere Gruppe eine eigentümliche Aehn-
lichkeit mit einem der alten Steindrucke gehabt haben, welche De
Saussures Ersteigung des Montblanc darstellen. Als wir zusammentrafen,
lagerten wir uns alle im Schnee, und ich empfing meine Gefährten mit
einem kräftigen Imbiss, dessen wir alle bedurften. Freshfield hatte mit seinen
Führern Tetnuld glücklich erstiegen, ohne besonderen Schwierigkeiten
begegnet zu sein. Das Wetter hatte die Ersteigung begünstigt. Die
Rundsicht vom Gipfel war entzückend schön und dehnte sich bis in
ungeahnte Weiten aus. Sie hatten unser Lagerfeuer, welches der Felsblock
deckte, nicht bemerkt und waren von einer gewissen Unruhe erfüllt gewesen,
bis sie am Anstiege zum Lagerplatz unsere Fussspuren fanden.
Eine halbe Stunde später war die jetzt vereinigte Karawane wieder
auf dem Marsch. Die Swanen führten an gebrochenen Hängen, halb zu
Eis verwandelten Firns empor, welche die höhere Stufe dieser »glänzenden
Tafelländer verdeckten. Die swanetischen Kaukasier sind so geschickt wie
die Gemsen in der Wahl ihrer Marschlinie und zeigen viel Vorsicht im
Prüfen gefährlich aussehender Strecken. Wir konnten unsern Weg bald
wieder über beschneite Felsen fortsetzen, welche zwischen zwei Zweigen der
Seracs aufragten. Der Schnee aber lag auf denselben in dichten Massen,
war lose, pulverig und machte den Fortschritt, insbesondere für diejenigen
an der Spitze des Zuges, zu einer langsamen und ausserordentlich mühe-
vollen Arbeit. In unserer glücklichen Unwissenheit glaubten wir, dass diese
Arbeit unsere letzte sei.
Ein wunderschöner Gipfel, weit über 4000 m hoch, höher als alles
zwischen ihm und Uschba, erhob sich seitwärts von uns, in der nordwest-
lichen Ecke des Zanner-Gletschers. Später lernten wir ihn als Tichtengen
kennen ; es war der Berg, den ich bei Ueberschreitung des Twiber-Passes,
als dessen Wächter er aufragt, zuerst gesehen und photographiert hatte,
der grosse Berg des Tschegem-Tales. Im Süden und im Osten umgaben
— 333 —
Irrfahrten im Nebel. — Gebete der Swanen.
uns endlose gewellte Schneeilächen, und fern, weit im Norden über dem Ende
der langen Felsrippe, welche den Firn umgürtet, war ein kleines Stück hellen
blauen Himmels, von scharfgeschnittenen Schneehängen umrahmt, sichtbar.
Dort musste unser Pass liegen. Wir massen und notierten rasch die Lage,
denn die Nachmittagsdünste stiegen von allen Seiten auf, verdichteten sich
rasch, und es währte nicht lange bis sie auch uns umschlossen.
Der Schnee war jetzt knietief, wo es am besten war, und an den
schlechtesten Stellen versank man bis zur Lende in demselben. Die be-
ladenen Männer konnten nur äusserst langsam vorwärts kommen. Oft stiegen
sie, im tiefen Schnee watend, fünf Minuten aufwärts, um sich dann für zehn
Minuten wieder zu setzen oder in den .Schnee nieder zu werfen. Einen
Augenblick schwenkte der führende Swanete scharf nach rechts ab. Fresh-
field widersprach dem und wir hielten die frühere Richtung wieder bei.
Die Schneefelder hatten eine wellige Oberfläche ; der Führer schien die
Richtung zu verlieren ; anstatt im gleichen Niveau zu bleiben, stiegen wir
stellenweise abwärts. Die Aufenthalte wurden immer häufiger, der Schritt
langsamer; die Nebel wurden dichter; halbe Stunden, Stunden schwanden, die
Sonne sank und wir schienen dem Pass nicht näher zu sein. Es gab einen
Augenblick der grössten Unschlüssigkeit, welche Richtung man verfolgen
sollte. Die Swanen blieben stehen, und zwischen denen, die genug Kraft
hierzu hatten, begann eine kurze, lebhafte Debatte. Wir nahmen Kompass
und Karten zur Hand. Freshfield ging gegen Nordost eine kurze Strecke
vor, um vielleicht einen Ausblick zu erhaschen. Alles war jetzt von dichtem,
wallendem Nebel umhüllt, so dass man auf eine PIntfernung von einigen
Schritten kaum die Silhouette eines andern unterscheiden konnte. Im
nächsten Augenblicke tönten fremdartige Laute durch die Nebelluft. Die
ganze bunte Gruppe unserer Swanen lag kauernd auf einer Schneebank
und betete mit dem ganzen Aufgebote ihrer Stimmen. Es war eine
phantastische Szene.
Die .Swanen fetten und schwärzen bei Schneewanderungen ihre Ge-
sichter, um einer Entzündung ihrer Augen und dem Sonnenbrande vorzu-
beugen — als Ersatz für Schneebrillen, welche die armen Teufel selbst-
redend nicht besitzen — und dies gab ihnen ein Aussehen, welches alles
andere als eine andächtige Vereinigung vorau.ssetzen liess. Sie waren aber
in tiefster Inbrunst und wiesen absolut jede Kürzung ihrer Andacht zurück.
Sie schienen in der Tat eine Art gemeinsamen Gebetes zu haben, geeignet
für diese Gelegenheit. Auch die Tibeter sollen ein spezielles Dankgebet haben,
wenn sie die Höhe eines Passes erreichen. Aber an wen waren diese
— 334 —
Der Zaxner-Pass wird erreicht.
Gebete gerichtet, an irgendwelche Naturgewalten, oder irgendeinen christ-
lichen Heiligen? Alles, was wir bei der mangelhaften Verständigung zwischen
unserni Kabardiner und den Swanen entnehmen konnten, war, dass unsere
Leute die Sonne anriefen. Sie waren so hartnäckig, wie die Baalspriester,
aber mit besserem Erfolg. Die Nebel hoben sich; blauer Himmel erschien
über unsern Häuptern; die Felswand zur Linken, die für uns ein Merkstein
war, erhob sich in unserer Nähe. Die weisse Lücke wurde sichtbar, noch
immer in einiger Entfernung von uns. Dann verwandelte sich der lange
Gesang in eine Hymne, oder eher in ein Heulen des Triumphes, ein Geheul,
anscheinend nicht ohne irgend eine Form und Ordnung, wie man solche
in den Ausrufen finden mag, welche im Altertum zum Chor in den grie-
chischen Tragödien gehörten.
Wir wateten und schwankten über ein Gehänge von Resten einer
Eislawine, durch Schneekorridore, nicht ohne noch einmal von der Richtung
abgewichen zu sein. Jetzt lag der letzte Anstieg vor uns, ein sanft sich
hebendes Schneetal, eingeschlossen zwischen Felsen auf der einen und
von hohen gefrorenen Dämmen auf der andern Seite. Eine Brise erhob
sich plötzlich und lüftete die Nebel. Durch die Lücke vor uns schien
wieder der reinste blaue Himmel.
Es war sechs Uhr nachmittags ; wir waren volle dreizehn Stunden in-
mitten der Eis- und Schneefelder gewesen, bevor wir in einer Höhe von über
4000 m auf dem Kamm des grossen Kaukasus standen und auf den Besingi-
Gletscher niederblickten und hinüber auf die grossen Gipfel, welche diesen
umrahmen. Ich, und ich glaube auch mein Gefährte, werden nie die
Szene vergessen, welche sich plötzlich vor unsern, von der langen Monotonie
von Schnee und Nebel ermüdeten und schmerzenden Augen erschloss, als
wir den letzten Schritt auf die gefrorene und überhängende Welle machten,
die den Grat krönte.
Aussichten von einzelnen Bergen reichen selten an die Vorstellung
heran, welche wachende Träumerei uns vorgaukelt, oder die uns durch Er-
innerungen verschönt vorgezaubert wird. Es liegt oft in der Natur etwas
Rauhes, in Linie oder Farbe Mangelhaftes ; das Bild ist unvollkommen in
der Komposition, oder es fehlt ihm das Romantische und Mysteriöse des
Raumes. Der Blick aber, den wir vom Zanner-Pass genossen, bildete eine
Ausnahme von der Regel : er übertraf alle meine Visionen, ob wachend
oder träumend. Nicht nur die Szene, auch der Moment war dramatisch
und magisch. Um Mittag hätte die Landschaft in ihrer weissen Herrlich-
keit zu kalt und monoton erscheinen können. Der Abend gab Farbe, Ab-
— 335 -
Grossaktigkk Anblick der Besixgi-Gii'Fkl V(.)M Zanner-Pass.
wechslung, Ausdruck, Gefühl ihrer fremdartigen Hoheit. Als wir die Kamm-
hohe erreichten, waren Granitklippen und Schnee von den Strahlen der
untergehenden Sonne erleuchtet; kalte blaue Schatten lagen schon über
den weiten Gletschermassen in den tiefen Gründen unter uns. Während
wir auf der eisigen Kante verweilten, erblassten auch die höchsten Gipfel,
um dann, den Abendsonnenschein im westlichen Firmament erwidernd,
noch einmal zu erglühen, bevor sie, berührt von der grauen Hand der vor-
schreitenden Nacht, in Phantome zerflossen.
Gerade uns gegenüber schwang der herrliche Firngipfel des Dych-Tau
seinen scharfen, keilförmigen First, mit Gletschern gepanzert, zu einer Höhe
von mehr als 5000 m, sich noch 1000 m über uns erhebend. Um seine
Basis, nahezu 2000 m unter uns, floss ein ungeheurer Gletscher. Wir
blickten durch einen langen Korridor von Eis empor, bis das Auge an
einem Firnzirkus haften blieb, am Fusse einer Reihe von abstürzenden
Palissaden, auf mächtigen Strebepfeilern ruhenden Graten, welche die fünf-
gipflige Schchara bilden, einen andern Berg von über 5000 m. Von
Schchara strich zu uns herüber eine Linie von Gipfeln, die dreispitzige
Dschanga, Katyn-Tau, wie ein tatarischer Sattel geformt, der stumpfe Kegel
der Gestola, alle höher als der Mont-Blanc. Kein Tal, keine Weide, keine
bewohnte Fläche war irgendwo in Sicht.
Der Alpenkenner kann sich vielleicht unser Verhältnis zur Umgebung
mit Hilfe des folgenden Vergleichs vorstellen. Er möge sich einen Stand-
punkt, nahe beim Hörnli, am Fusse des Matterhorn denken. Der Besingi-
Gletscher nimmt dann die Stelle des Gorner-GIetschers ein, Schchara den
des Monte Rosa, Dschanga wird Lyskamm, Katyn-Tau Breithorn und
Gestola das kleine, aber bedeutend überhöhte, Matterhorn. Aber ihre
Fassaden ähneln eher den Abstürzen des Monte Rosa oberhalb Macugnaga,
als den gegen Norden sich abdachenden Hängen. Um den Vergleich voll-
ständig zu machen, muss das Matterhorn auf den Gornergrat versetzt werden,
um sich Dych-Tau vorzustellen, und der Gorner- Gletscher bis Randa ver-
längert werden. Der Vergleich stürzt, wie man sieht, in den Details zu-
sammen, und eine Karte ist zum Schlüsse der beste Schlüssel zur Darstel-
lung einer Landschaft. Aber weder Karte noch Vergleiche werden den Ein-
druck des gigantischen Walles schneeiger Abstürze wiedergeben, welcher
die Umrahmung des Besingi-Gletschers bildet. Er ist ohne Rivalen in den
Alpen und einzig im Kaukasus, ein Anblick, den keiner der wenigen Euro-
päer je vergessen wird, welche ihren Fuss auf die Schwelle dieses Alier-
heiligsten der Bergwelt gesetzt haben.
— 336 —
UEBERHÄXCEXDK FiKWVÄCllTKX AUF DER PASSHÖHE, JENSEITS EIX S'nai.lK St I IXEEWALl..
Aber die Stunde erlaubte uns nicht, im Anstaunen iler Wunder zu
verharren, welche uns um^^aben. Es war Zeit zum Handeln, zu schnellem
Handeln. Die Schatten der Nacht sammelten sich rasch, und wir waren
auf der Höhe der kaukasischen Wasserscheide, fern von jedem, wie immer
gearteten, Obdach. Wir waren, wie ich erwähnt hatte, nicht weniger als
1 3 Stunden seit dem Aufbruche von unserm Biwak unterwegs und sieben
Stunden über diese unendlichen Schneefelder gewandert, seit wir mit Fresh-
held und seinen Gefährten zusammentrafen.
Die andere Seite des Passes war durch eine überhängende Firn-
wächte geschlossen, hinter welcher ein steiler .Schneewall in die Tiefe reichte,
an dessen Fuss ein eisiger Graben sich hinzog. Wir hätten über die Hänge
niedersteigen können, aber unsere Träger und ihre Lasten wären gewiss in
diesen Kessel gestürzt. Eine Passage hätte durch die Firnwächte mit unsern
Eispickeln gebahnt und herausgeschlagen werden können, aber dies hätte
jedenfalls Zeit erfordert, die für uns kostbar war, und man gab uns zu
verstehen, dass unsere Swanen einträchtig einen schrecklichen Eid ge-
schworen hätten, dass nichts sie bewegen würde, lebend in eine solche
Fallgrube abzusteigen. Einige hundert Schritte nach links ansteigend, sah
man dann, dass es möglich sei, einen Punkt zu erreichen, wo keine Schnee-
qewächte war, und von wo eine Felsrippe zwei Drittteile der Distanz zum
Bergschrunde herablief. Sie war etwa von der Art des einst berüchtigten
Strahleggwalls in den Berner Alpen.
Unsere Swanen standen längs der Kante des Firnkessels und machten
alle einen grossen Tumult, betend oder schwörend, wir wussten nicht, was.
Einer nach dem andern ouckten sie über den Rand, und mit Entsetzen
zurückfahrend, drückten sie ihre Gefühle in einem kurzen Solo aus, welchem
ein Chor in der ganzen Stärke der Gesellschaft folgte.
W^ir dachten, dass Beispiel besser als Vorschrift wirken würde, be-
auftragten den Kabardaer, ihnen zu erklären, was zunächst geschehen müsse,
und begannen an den P'elsrippen abzusteigen. Sie waren steil, aber es
ging ganz leicht, und in zehn Minuten befanden wir uns jenseits des Berg-
schrundes. Aber selbst unserm Beispiel gelang es nicht, die Swanen zu
ermutigen, oder sie zu bewegen, uns zu folgen. Sie schwatzten, sie kreischten,
sie gestikulierten, sie schienen, wie es die Gewohnheit bei exaltierten Bar-
baren ist, im Begriffe, einander anzugreifen ; kurz sie taten alles, nur nicht
das, was wir von ihnen verlangten, vorwärts zu gehen. Endlich wurde
uns etwas ungestüm angekündigt, dass ein grosser Entschluss gefasst worden
sei, indem sie uns eines der Zelte zusandten, welches wie ein Ball, in rück-
Uechy: Kaukasus. 22
— 337 —
I'lRZWl'XGENER AllS'IIEC DKU SWANKX VOM ZaXNKR-PaSS.
sichtsloser Weise, über den erweichten Schnee des Hanges zu uns herab-
geschleudert wurde. Anderes Ciepäck, histrumente inbegriffen, folgte, und
dann banden sich drei der unternehmendsten Geister mit dem Kosaken
zusammen. Dieser spontane Gebrauch des Seiles zeigte, dass die Swanen
nicht ganz ausserhalb des PLinfiusses neuer Ideen waren. Sie kamen über
die Felsen hinab, mit der höchsten Nervosität, etwas ungeschickt, aber un-
versehrt. Nur unten im steilen Schnee verlor einer der vier seinen Fuss-
halt. lü'nige .Sekunden eines /Abstieges Kopl nach unten, mehrere tüchtige
.Sprünge durch die Luft, mit deren einem der halboftene Bergschrund heil
übersetzt wurde, und das Quartett lag, ein zitternder Haufen, zu unsern
Füssen. Voila donc notre gros, comme il a la mort dans le visage« sagte
F"ran(:ois. Bei einem der Swanen, einem hochgewachsenen Mann, war unter
der .Schwärze, mit welcher er sein Gesicht im Umkreise der Augen, um sich
vor .Schneeblindheit zu schützen, eingefettet hatte, die Haut totenbleich vor
Schrecken geworden, sein gelbblondes Haar und sein Bart waren mit Schnee
bedeckt, in welchem er mehr als halb begraben lag. Ein tüchtiges Schütteln
zeigte übrigens, dass kein Schaden geschehen sei, und der Verlust be-
stand nur im Messer unseres Kosaken, welches aus seiner Scheide heraus-
geflogen war und im Berg.schrund sein Grab fand. Möglich, dass es
der Gletscher nach fiinfzig Jahren herausgibt und es dann als eine
Reliquie im Lesesaal des Grand Hotel d'Angleterre am Besingi-Gletscher
ausgestellt wird.
b)ie neun Mann, die noch immer auf der Höhe waren, wurden
natürlich durch den Anblick des Abenteuers ihrer Genossen nicht sonderlich
ermutigt. Aber der Wind des Sonnenunterganges machte ohne Zweifel
ausserordentlich kalt auf dem Grate, und zwischen die Scylla des Erfrierens
und die Charybdis des Bergschrundes gestellt, fanden sie zuletzt den Mut,
zu folgen, wie langsam und wie lärmend, das kann nur der sich vorstellen,
der sie beobachtete.
Dieser Abstieg des Schneewalles kostete mehr als eine Stunde. Die
ganze Zeit, in w^elcher diese lärmende Farc^e von unserer schwarz gefärbten
Truppe gespielt wurde, bot die Natur ihrerseits ein höchst feierliches Schau-
spiel. Schnee und Himmel röteten sich und erblassten abwechselnd, so
wie die Farbentöne des Sonnenunterganges oder des Abendglühens auf sie
fielen oder wieder entschwanden.
Wir eilten über das Firneis eines kleinen Gletscherplateaus in der
Richtung einiger Felsen an seinem linken Ufer. Wir wunderten uns, dass
wir nicht über dem grossen Zufluss des Be.singi-Gletschers abstiegen, welcher,
^ 338 —
Das L\gek wird hoch üiikr dkm Hesixci-Gletsciikk ai'fcksciu.ackn.
von Nordwesten kommend, unterhalb des Giijfels der Gestola und der an-
schliessenden Firnhöhen fliesst, wie wir dies erwarteten.
Von dem Punkte, wo dieser Zufiuss den Hauptgletscher erreicht,
ist die breite Firneinsattlung- des Zanner-Passes sichtbar. Statt jedoch auf
diese zu gelangen, waren wir zu w^eit links gegen Norden gekommen und
hatten eine etwas höher gelegene Lücke im Hauptkamme erreicht. Diese
von uns überschrittene Einsattlung nannten wir den oberen Zanner-Pass, im
Gegensatz zur etwas tieferen Lücke, welche gleichfalls einen Uebergang
gestattet. Nach unsern Messungen 4081 m (A.D.) hoch, dürfte er den
eigentlichen Zanner-Pass (3960 m) mit 80 bis 100 m überragen. Der obeie
Zanner-Pass bietet die direktere kürzere Route, und die Schwierigkeit,
welche der Schneewrall und die Corniche auf der Passhöhe der Passage ent-
gegenstellen, mag infolge des Rückganges der Gletscher während der
letzten 30 — 40 Jahre im Kaukasus entstanden sein. Wie in den Alpen
noch im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts Gletscher- Pässe begangen
wurden, die später ausser Gebrauch kamen, und von welchen sich nur eine
schwache Tradition erhalten hat, dürfte auch im Ka ikasus der Zustand der
lüs- und Schneebedeckung bestimmend auf die Wahl der llebergänge,
welche über das vergletscherte Hochgebirge führen, gewirkt haben.
Es war schon finstere Nacht, als wir nach kurzem Waten durch tie'"en
Schnee felsiges Gehänge erreichten. Wir schlugen vor, hier zu biwakieren, aber
es wurde grimmig kalt, einige Windstösse pfiffen hinter unserm Rücken,
und die Swanen bestanden darauf, sehr richtig, wie es sich später zeigte,
tiefer abzusteigen. Es schien, dass die V^orsehu ng es eingerichtet hatte,
dass der Hang, auf welchem wir uns befanden, nicht aus Granitklippen
und Gesteinblöcken bestand, sondern aus pulverigem Schieferschutt und
einigen Schneefeldern, über w'elche wir teils rutschend, teils abfahrend in
die Tiefe stürmten. hi etwa 20 Minuten hatten wir 500 m zurückgelegt,
und uns gegenseitig anrufend und mit Lichtern winkend, um einander in
der Finsternis nicht zu verlieren, sammelten wir uns alle auf dem ersten
P'leck leidlich ebenen Bodens.
Es war fast neun Uhr. Laternen wurden sofort angezündet, Zelte
entrollt und aufgerichtet. Die Geister der Swanen waren wieder ermuntert,
jetzt, da sie heil über die Kette gekommen waren. Sie sangen, was uns
als eine Ballade erschien, in deren Refrain die Worte 'Tamara, Tamara«
immer erklangen, zu Ehren ihrer Königin von vor sechshundert Jahren.
Und ein Echo dieser Jahrhunderte alten Begebenheiten erscholl in diesen
weltabgeschiedenen Wildnissen. Dann baten sie um unsere Eispickel,
LucuLLisciiEs Ai!Exde.ssp:n im ZiaTK.
hackten sich Lin-her im Roden aus, und sich mit ihren Burkas bedeckend,
versanken sie rasch in tiefen Schlaf.
Wir machten es uns im Zelte gemütlich. Ks gab bei unserm
Iliwak — das nach der Aneroidmessung, die \vir am folgenden Morgen
machten, noch in der bedeutenden Höhe von 3331 m (A. D.) lag — kein
Holz, kein Wasser. Wir aber wärmten eine mit Kochvorrichtung versehene
Büchse dicker Suppe, öffneten eine Pastete, und zum Schlüsse — last, but
not least — entkorkte ich eine Masche Portwein, die einzige, welche
wir hatten, und die, für grosse Gelegenheiten bestimmt, am Grunde eines
unserer Proviantsäcke sorgfältig verwahrt, unversehrt geblieben war. Wir
fühlten uns glücklich. Wir hatten den Zanner-Pass überschritten, ein Unter-
nehmen, dessen Ausführung ich schon lange geplant hatte, P>eshfield hatte
Tetnuld erstiegen, dessen Bezwingung an erster Stelle auf unserm Reise-
programm stand. Die Ersteigung war ausgeführt, und ich vergass einen
Augenblick, dass ich es war, der die Reise dieses [ahres projektiert hatte,
und dass meine Absicht, Tetnuld zu ersteigen, vereitelt worden war. Indem
Herr Freshfield, da es mir unmöglich war, sofort aufzubrechen, und es nötig
gewesen wäre, einen Tag abzuwarten, allein unser \'orhaben ausführte,
handelte er wahrscheinlich nach dem Grundsatze, dass in erster Reihe, ohne
persönliche Rücksichten, das Unternehmen zur Ausführung gebracht werden
müsse. Diese Anschauung mag vielleicht bei dem kalten energischen Volke
im Norden, dem er angehört, als richtig bezeichnet werden, bei mir jedoch
hinterliess sie einen Eindruck, dem ich mich später nicht entziehen konnte,
und als dessen Folge ich dann nach einem kurzen Ausfluge von Besingi,
der nur photographische Zwecke verfolgte, die Reise unterbrach und heim-
kehrte. Pur heute aber, an diesem Abend im Zelte, trübte nichts die
fröhliche Stimmung, an welcher vielleicht die gute "Ware des Wladikawkaser
Weinhändlers einen kleinen Anteil hatte.
Wir blickten noch einmal aus dem Zelte: der Mond war aufgestiegen
und kein Wölkchen war am Pirmament. Dych-Tau türmte sich uns gegen-
über in tiefem .Schatten zu mächtiger Höhe empor, auf die weüssen Klippen
der Dschanga hei das bleiche Licht. Unser Lager war still, kein Laut
Avar hörber, nur das ferne Murmeln der Wasser oder das Geräusch
fallender Steine.
Der Besin g i-Gletscher (Talblick).
XXV. KAPITEL.
Im Umkreise des Kosehtan-Tau.
Wo die Erde erforscht ist, macht sich hoher Mannesmut und Tatendrang
in dem Streben nach Ueberwindung physischer Hindernisse geltend. So
wendet er sich jetzt unerstiegenen, vereisten Bergspitzen zu . . .
F. V. Richthofen: Triebkräfte und Richtungen der iMdkunde«.
Mit der Ueberschreitung des Zaiiner-Passes war ein Gletsclierweg-
über die Hauptkette eröffnet worden, der eine Verbindung zwischen dem
Ingur - Hoclitale im Süden und dem Besingi- (Urwan-) Tale im Norden
ermöglicht. Die herrlichen .Szenerien der weiten Schneegefilde, durch die
man vom Süden emporsteigt, und der überraschende Anblick des Gletscher-
Amphitheaters von Besingi mit den umragenden Granitriesen, der sich von
der Passhöhe plötzlich eröffnet — das Grossartigste, was der erhabene,
eisige Kaukasus zu bieten hat — , machen den Zanner-Pass zur schönsten
Gletscherfahrt im Kaukasus.
— 341
UebI':r i^EN Besingi-Gi-etschkk nach dem Aul Besingt.
Da wir spiit am Narhmittaije auf die Passhöhe gekommen waren,
zu spät, Ulli noch piiotooraphische Aufnahmen des sich von ihr erschhessenden
Panoramas zu machen, hatte ich beabsichtigt, am folgenden Morgen wieder
bis zur Passhöhe oder doch bis zu einem Punkte aufzusteigen, der das
Besingi-Gebiet der Kundsirht lieherrscht.
Doch — dis ahter visum. Als wir um 6 Uhr morgens das Zelt
öffneten, lag ein ominöser Nebelstreifen in den Tiefen unter Schchara.
Rasch mehrten sich die aufsteigenden Nebel, und mit Schnee gemischter
Regen begann zu fallen. Um 8 Uhr war das Wetter hoffnungslos.
Verräterische graue Nebel krochen aus der Tiefe längs der grossen
Furche des Besingi - Gletschers zu uns empor. Der Regen fiel in
Strömen und es blieb nichts anderes übrig, als talwärts zu ziehen.
Ein steiler Abstieg von etwa 500 m brachte uns zum Rande der
mächtigen Seitenmoränen des Besingi - Gletschers, wo man auf grünen
VViesenhängen zahllose weisse Punkte \on Schafherden sah und zwischen
ihnen die in ihre schwarzen Burkas gehüllten Hirten. Mehrere Stunden lang
folgte ein einförmiger und mühsamer Marsch über ein geologisches Museum
von Gesteintrümmern, die den Graten entstammen, welche den Besingi-
Gletscher umstehen. Es waren zumeist Granite, CJneise und kristallinische
Schiefer in den verschiedensten Varietäten.
Diese Nacht schlugen wir das Lager etwa eine Stunde unterhalb des
Gletschers auf. Der Abend war weit entfernt davon, fröhlich zu sein.
Unser Kosak war nahezu schneeblind und litt grosse Schmerzen. Michel De-
vouassoud gestand, dass er seine Inisse erfroren habe, und die Frostschäden
sahen arg genug aus. Auch Frangois Devouassoud war in einem Zustande
hochgradiger Erschöpfung. Zu all dem kam, dass es zu nass war, um ein
Feuer anzünden zu können.
Am nächsten Morgen umgab uns ein dicker Nebel, der sich jedoch
rasch verflüchtigte. Freshfield besuchte den Midschirgi-Gletscher, in dessen
Firnregion ich vor zwei Jahren gedrungen war.
Am Abend kamen wir nach Besingi und richteten uns in der finsteren,
feuchten und schmutzigen Höhle ein, welche uns schon früher als Ouartier
gedient hatte. Seine Hoheit der Fürst von Besingi imponierte auch jetzt mit
seiner Höhe. Seine Gastfreundschaft war knapp und kostspielig, aber wir
vergaben ihm, im Hinblick auf den Pack Briefe, die er aus dem Innern
seines schmierigen Schaffellrockes hervorbrachte, und einer Kiste unserer
Provisionen, die er uns übergab. Letztere hatten wir am Beginne unserer Reise
- 342 —
Ix DAS Dumai,a-Tai.. — Der Ui.lcaus-Gi.ftscukk.
in Wladikawkas zurückgelassen, und sie wurde uns diesmal mit den Briefen
über Naltschik pünktlich nach Besingi geschickt, so dass wir in Bezug auf
unsere Verproviantierung, so lange wir in und um Besingi blieben, unab-
hängig und gut versorgt waren.
Die nächste und letzte Exkursion, welche ich mit Herrn Freshfield
machte, hatte den Zweck, die Lage des Koschtan-Tau, damals Dych-Tau,
g-enannten Gipfels zu fixieren, diesen Berg, einen der Granitriesen des
Kaukasus, zu identifizieren und photographische Aufnahmen von ihm heim-
zubringen.
Unser Weg führte durch die Dumala genannte Schlucht empor, welche
sich in das Haupttal etwas oberhalb Besingi öffnet. Sie musste zu den
Gletschern der nördlichen Abdachung des Koschtan-Tau führen. Die Szenerie
dieser steinigen, zum Teil mit spärlichem Graswuchs bedeckten, schluchtigen
Seitentäler zwischen den beiden Zweigen des Tscherek ist ausserordentlich
einförmig, wenn man ihre Lage an der Basis der mächtigen Schneekette in
Betracht zieht. Sie liegen viel höher als das Besingital, es ist immer ein
steiler Anstieg nötig, um sie zu erreichen. Wir kamen an mehreren Kosch
von Schafhirten vorbei. Man konnte in dieser Schlucht mehr Schafherden
sehen, als in den andern Tälern, durch welche wir in diesem Jahre
kamen. Die Weidegründe sind durch niedrige Steinwälle voneinander
getrennt, und jeder derselben gehört zu einer besonderen Gruppe von
Haushaltungen.
Ein Pfad, der nach Baikar führt, trift't zur Linken auf das Dumala-
tälchen, wo es scharf gegen Süden sich wendet. Wir wandern noch immer
durch eine grasbedeckte Talfurche, zwischen nackten Steinwänden, aber an
ihrem Ursprünge ist vor uns in der Nähe schon Schneegebirge sichtbar.
Etwa vier Stunden von Besingi erscheint das Ende eines breiten Gletschers,
das, von hohen Schuttwällen umringt, abbricht. Es ist der Ulluaus-
Gletscher, damals von uns und nach meiner Meinung richtiger Dumala-
Gletscher genannt.
Eine Kette edelgeformter Berggipfel erhebt sich über ihn, die in
reicher Gliederung von Eis und Fels bis nahezu 4500 m aufsteigen. Es
ist der mächtige Bergwall, der in südlichen Streichen zum Koschtan-Tau
zieht und uns seine eisbepanzerten Ostflanken zeigt.
Wir lagerten auf einer kleinen, von Alpenpflanzen geschmückten
Wiesenebene, einige hundert Meter vom Eise entfernt. Am nächsten Morgen
erkletterten wir eine hohe Moräne und erreichten die untere Fläche des
Ulluaus-Gletschers Ein steiler Eisfall senkt sich von einer oberen Plateau-
— 343 -
K(isciitan-Tau vom Ui.luaus-Gletscher.
höhe herab und ist von einem Ho^■en herrlicher eisbepanzerter Fels-
kHitpen umg-eben. Zur höheren Stufe des Gletschers dringt das Eis
aus zwei Firn becken, welche zwischen den nördlichen und südlichen
Graten des im Koschtan-Tau gipfelnden Bergzuges liegen. In all-
beherrschender Grösse baut sich Koschtan-Tau auf. Haarscharfe I'irn-
schneiden bilden die Spitze, deren Breitseite, mit abbrechenden Eis-
lagern gewappnet, in entsetzlicher Steile abföllt.
UUuaus-Gletscher mit der Koschtan-Kette.
Es war das erste Mal, dass Europäer am gletscherumgürteten Fusse
des mächtigen Berges standen, und ich war, nicht ohne ein gewisses Bangen
in Bezug auf das Gelingen, bestrebt, mir photographische Aufnahmen der
Hochgebirgswelt zu sichern, die im glänzenden Lichte eines klaren .Sommer-
tages vor unsern staunenden Blicken sich ausbreitete. Nicht ohne ein
gewisses Bangen, sage ich, und wenn man bedenkt, welche Sorgfalt bei
Forschungsreisen in aussereuropäischen Gebirgen erforderlich war, um das
photographische Flattenmaterial vor Licht und Feuchtigkeit während des
wiederholten Ein- und Auspackens vor und nach der Exposition und während
des Transportes zu Wasser und zu Lande, auf dem Rücken von Lasttieren
K 0 s c H T/vN - Tau
EXGl.ISCUK REISKNDK HKIM VKKSUril, KoSCIITAX-TaU 7X' KRSTKIGKN, VKKSrilol.I.KX.
und Trägern zu schützen, welche Sorge man während dieses Transportes
um die zerbrechHche Glasplatte — damals die einzige lichtempfindliche
Grundlage für das photographische Negativ — ausstand, so wird man dieses
bange Gefühl begreifen.
Nachdem ich meine photographischen Arbeiten beendet hatte, kehrten
wir zum Lager zurück. Freshfield wollte noch einen Ausflug auf eine
der Höhen — Ukiu — • in einer tiefer unten auf das Dumala-Tal
sich öffnenden Seitenschlucht machen, ich eilte nach Besingi, um heim-
zukehren.
Es war für mich ein schwerer Entschluss, bei schönstem Wetter die
kaukasischen Berge zu verlassen. Ich schrieb damals in mein Notizbuch :
»der Gipfel des Dych-'I'au (jetzt Koschtan-Tau) wird von unternehmenden
Bergsteigern, begleitet von gleichgesinnten erfahrenen Alpenführern, gewiss
erreicht werden, ein herrliches Ziel, der Besten wert. « Ich ahnte nicht, dass
schon ein fahr später von demselben Orte im Dumala-Tale, wo wir unser
Lager aufgeschlagen hatten, englische Reisende mit Schweizer Bergführern
ausziehen sollten, die Ersteigung desselben zu versuchen, um nie wieder
zurückzukehren.
Das Interesse für die Erforschung des kaukasischen Hochgebirges
war in England, insbesondere durch unsere letzte Reise und das Vorzeigen
meiner Photographien aus der kaukasischen Gletscherwelt, sowohl in der Royal
Geographical Society, als im Alpine Club erweckt, in jenem Kreise, welchem
Männer angehörten, die in der Erforschung der aussereuropäischen Hoch-
gebirge ihren Mut, ihre Kühnheit und ihre Tatkraft glänzend erwiesen
hatten. Die Folge war, dass Im Jahre i8S8 mehrere Reisende in Begleitung
von Schweizer Bergführern nach dem zentralen Kaukasus aufbrachen und,
begünstigt durch das langandauernde schöne Sommerwetter dieses Jahres
und gute Schneeverhältnisse, glänzende Erfolge und für die Kenntnis der
bereisten Gebiete wertvolle Ergebnisse errangen. '') Ueber diese Errungen-
schaften jedoch warf das tragische LInglück, welches die Expedition
*) Während der in den Jahren 1S88 und 1889 in Begleitung von Scluveizer Bergführern
unternommenen E-xpeditionen im zentralen Kaukasus wurde von Mummery (der 1895, auf einer
Forschungsreise im Himalaja, am Nanga Parbat seinen Tod fand) Dych-Tau erstiegen, von
H. Woolley Koschtan-Tau, von Cockin (1899 an der Dent Blanche in den Walliser Alpen verunglückt)
Schchara, Dschanga und der Nordgipfel der Uschba. 1889 halte auch der Meister der Hochge-
birgsphotographie, Vittorio Sella, mit italienischen Alpenführern eine in ihren topographischen und
photographischen Resultaten von schönstem Erfolge gekrönte Reise im zentralen Kaukasus
ausgeführt.
Nachkoksciiüxüex nach dem Schicksale der Verschollenen.
der Herren Prof. W. F. Donkin und Harry Fox mil den Schweizer Berg-
führern K. Streich und J. l''ischer aus Meiringen betraf, einen düsteren
Scliatten.
Die Reisenden nahmen ihren Weg durch Swanetien, überschritten
die Hauptkette nach dem Norden und gelangten nach Besingi mit der Ab-
sicht, die Frsteigung des Koschtan-Tau zu versuchen. Sie hatten das grosse
Reisegepäck auf Pferden über einen Pass nach Baikar geschickt und mit ihren
r'ührern am 28. August im Dumala-Tale biwakiert, um von dort zur Er-
steigung des Gipfels aufzubrechen. Seit dieser Zeit waren die Reisenden
verschollen. Ihr Schicksal blieb in Dunkel gehüllt und wurde — was nicht
überraschen kann — im Kaukasus selbst Gegenstand abenteuerlichster Ge-
rüchte. Man sprach im Lande von ihrer Ermordung durch kaukasische
Bergbewohner, obgleich man in alpinistischen Kreisen an der Meinung fest-
hielt, dass während des Ersteigungsversuches ein Unglücksfall sich ereignet
haben müsse. Die Nachforschungen im Spätherbste desselben Jahres nach
dem Schicksale der Verunglückten konnten teils infolge der späten Jahres-
zeit, teils mangels geeigneter Leute, nicht in die höheren Regionen aus-
gedehnt werden, und ergaben keine näheren Aufschlüsse. Man blieb auf die
Vermutung beschränkt, die sich auf die beim Gepäcke der verunglückten
Reisenden vorgefundenen Aufzeichnungen und die ihrer, auf andern Wegen
vorausgeschickten kaukasischen Begleitmannschaft gegebenen Befehle
gründeten, und nach welchen das llnglück wahrscheinlich bei einem Versuche
zur Ersteigung des Koschtan-Tau auf dem Uebergange nach Baikar sich zu-
getragen haben dürfte.
Im folgenden Jahre (1889) zog dann eine aus Mitgliedern des
Alpine Club bestehende Expedition nach dem Kaukasus, um Nachforschungen
nach dem Schicksale der Verunglückten zu unternehmen, das — in den
Grenzen der Möglichkeit — festgestellt werden sollte. An derselben
nahmen der damalige Präsident des Alpine Club, Herr Clinton Dent, Herr
Douglas W. Freshfield und Kapitän Powell, vom indischen Dienst, dessen
Kenntnis der russischen Sprache der Expedition zu gute kommen sollte, teil.
In Begleitung dieser Herren befanden sich Lehrer Fischer, ein Bruder des
verunglückten Führers Fischer, und Bergführer Karl Maurer aus Meiringen.
Herr VVoolley hatte sich mit seinen Führern Jossi und Kaufmann für die
Dauer der Suche nach den Verunglückten angeschlossen.
Dent hat im Journal des Alpine Club und Freshfield in den Pro-
ceedings der Royal Geographical Society Bericht über die Ergebnisse dieser
Expedition erstattet. Hoch oben in den Felsen, nur etwa 100 m unterhalb
— 346 —
Der i.ktz'i k Biwakplatz der Vkkuxci.ückten.
des Ulluaus-Passes/') auf der Balkarseite, wurde der letzte Biwakplatz der
Reisenden gefunden : das Gepäck, die Schlafsäcke, Kochgefässe, Rucksack,
um einen Felszahn geschlungen, ein Revolver, alles mit dem Leichen-
tuch des Winterschnees bedeckt, wie es die X'erungllickten zurückgelassen
hatten ehe sie auszogen zu ihrer letzten Fahrt — ein ergreifender
Anblick!
Die topographische Lage dieses letzten Biwakplatzes und das
denselben überragende Terrain führte zu folgenden Schlüssen: Es war klar,
dass die Reisenden zum Biwakplatz zurückzukehren beabsichtigt hatten.
Zweifellos wurde ein Angriff unternommen, um Koschtan-Tau über den öst-
lichen Grat zu ersteigen, nämlich über jenen Grat, der zum erwähnten
Pass abfällt. Die grossen Felszähne auf der eigentlichen Kante des Grates
hatten kein Vordringen gestattet und es wurde wahrscheinlich für nötig
erachtet, an der Breitseite des Berges zu traversieren. Die Nordfassade
besteht aus einer Reihe von abschreckenden Eishängen. Die südliche
Fassade besteht aus Klippen, welche mit kleinen Hängen und steilen Flächen
durchzogen sind, bedeckt von Eis und Schnee. Es ist im höchsten Grade
wahrscheinlich, dass ein Sturz sich ereignete, während die Partie sich auf
einem dieser Hänge bewegte. Wenn so, dann muss der Tod fast augen-
bhcklich eingetreten sein. Steinfall könnte eine Gesellschaft von vier Per-
sonen kaum hinabgerissen haben, noch ist überhaupt eine besondere Gefahr
aus dieser Quelle an die.sen Stellen vorhanden. Zeitmangel allein muss
die Reisenden verhindert haben, den Gipfel auf der angenommenen und
äusserst schwierigen Route zu erreichen. Es wurde also der .Schluss ge-
zogen, dass die Reisenden im Aufstiege zu Grunde gingen.
Mit der Entdeckung des letzten Biwakplatzes der Verunglückten
war die Aufgabe der Expedition erfüllt. Eine Suche nach ihren Leichen,
begraben unter dem Schneefall eines Winters, den Lawinen des Frühjahrs,
hoch oben in den Firnen, war von vornherein ausgeschlossen. Man wollte
Aufklärung über die Natur des Unglücksfalles sich verschaffen. Man
wollte die Bergbewohner von einem schweren Verdachte, den andere
vielleicht einen Augenblick hegten, reinigen, und dies gelang, denn kein
Einheimischer hätte selbst den Biwakplatz, des schwierigen Terrains wegen,
erreichen können. Jedes weitere Unternehmen wäre, wie alle Bergkundigen
einsehen werden, in der Tat zwecklos gewesen.
*) Uebergang vom UUuaus-Gletscher im Dumalatale nach dem Tatuin-Gletscher im oberen
Tscherektal (Baikar).
— 347 —
Requiescant i\ face!
Das Schicksal der Verunglückten war tlurch die Nachforschungen der
Expedition zur traurigen Gewissheit geworden, und man konnte nichts anderes
tun, als sie in ihrem Grabe belassen, geschirmt durch die eisigen Wälle
und nur von den Sternen bewacht — der glänzendste Gipfel des Kaukasus
ihr ewioer Denkstein.
(icstein vom höchsten Felsgrate am Elbruss.
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511 Kaukasus
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